4.1.3    Hiobs erste Antwort an Elifas (6,1-7,21)

 

Hiob bittet seine Freunde um Verständnis für seine Klage. Sein Leid ist so groß, dass er nicht anders kann:

(6,1)    Hiob antwortete und sprach:

(6,2)    Wenn man doch meinen Kummer wägen

und mein Leiden zugleich auf die Waage legen wollte!

(6,3)    Denn nun ist es schwerer als Sand am Meer;

darum sind meine Worte noch unbedacht.

(6,4)    Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir;

mein Geist muss ihr Gift trinken,

und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.

(6,5)    Schreit denn der Wildesel, wenn er Gras hat,

oder brüllt der Stier, wenn er sein Futter hat?

(6,6)    Isst man denn Fades, ohne es zu salzen,

oder hat Eiweiß Wohlgeschmack? (1)  

(6,7)    Meine Seele sträubt sich, es anzurühren;

es ist, als wäre mein Brot unrein.

 

1 Wenn sie ihr Futter haben, besteht für die Tiere kein Grund zur Klage. Anders ist es, wenn jemand eine fade Speise vorgesetzt bekommt. Man kann nicht verlangen, dass er sich schweigend damit abfindet.

 

Weil er keine Kraft und keine Hoffnung mehr hat, wünscht Hiob sich den Tod. Wenn Gott ihn zur Ruhe legt, bevor er sich in seiner Verzweiflung schließlich von ihm abwendet, wäre das für ihn ein Grund zum Jubeln.

(6,8)    Könnte meine Bitte doch geschehen

und Gott mir geben, was ich hoffe!

(6,9)    Dass mich doch Gott erschlagen wollte

und seine Hand ausstreckte und mir den Lebensfaden abschnitte!

(6,10)  So hätte ich noch diesen Trost und wollte fröhlich springen

- ob auch der Schmerz mich quält ohne Erbarmen -,

dass ich nicht verleugnet habe die Worte des Heiligen.

(6,11)  Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte;

und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte?

(6,12)  Ist doch meine Kraft nicht aus Stein

und mein Fleisch nicht aus Erz.

(6,13)  Hab ich denn keine Hilfe mehr,

und gibt es keinen Rat mehr für mich?

 

Angesichts seiner Verzweiflung empfindet er die Belehrungen seiner Freunde als unbarmherzig und trügerisch.

(6,14)  Wer Barmherzigkeit seinem Nächsten verweigert,

der gibt die Furcht vor dem Allmächtigen auf.

(6,15) Meine Brüder trügen wie ein Bach,

wie das Bett der Bäche, die versickern,

(6,16)  die erst trübe sind vom Eis, darin der Schnee sich birgt,

(6,17)  doch zur Zeit, wenn die Hitze kommt, versiegen sie;

wenn es heiß wird, vergehen sie von ihrer Stätte:

(6,18)  Ihr Weg windet sich dahin und verläuft,

sie gehen hin ins Nichts und verschwinden.

(6,19)  Die Karawanen von Tema blickten aus auf sie,

die Karawanen von Saba hofften auf sie;

(6,20)  aber sie wurden zuschanden über ihrer Hoffnung

und waren betrogen, als sie dahin kamen.

(6,21)  So seid ihr jetzt für mich geworden;

weil ihr Schrecknisse seht, fürchtet ihr euch.

 

Dabei hat Hiob von seinen Freunden doch nicht zu viel verlangt. Er hat lediglich erwartet, dass sie sein Problem nicht einfach mit Hilfe eines Tadels, d.h. einer Schuldzuweisung, erklären, sondern ernst nehmen, dass er sich als jemand sieht, der unschuldig leiden muss.

(6,22)  Hab ich denn gesagt: Schenkt mir etwas

und bezahlt für mich von eurem Vermögen

(6,23)  und errettet mich aus der Hand des Feindes

und kauft mich los von der Hand der Gewalttätigen?

(6,24)  Belehret mich, so will ich schweigen,

und worin ich geirrt habe, darin unterweist mich!

(6,25) Wie kräftig sind doch redliche Worte!

Aber euer Tadeln, was beweist das?

(6,26)  Gedenkt ihr, Worte zu rügen?

Aber die Rede eines Verzweifelnden verhallt im Wind.

(6,27)  Ihr freilich könntet wohl über eine arme Waise das Los werfen

            und euren Nächsten verschachern. (1)

(6,28)  Nun aber hebt doch an und seht auf mich,

            ob ich euch ins Angesicht lüge.

(6,29)  Kehrt doch um, damit nicht Unrecht geschehe! Kehrt um!

Noch habe ich recht darin!

(6,30)  Ist denn auf meiner Zunge Unrecht,

oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?

 

1 Gemeint ist wohl: „Auch Weisenkinder, ja den eigenen Freund würden Leute wie sie im Ernstfall als eine Sache ansehen und entsprechend damit umgehen. Für sie ist aus dem lebendigen Menschen eine Ware geworden. Von Solidarität, Brüderlichkeit, Liebe kann bei ihnen darum keine Rede sein.“ (Hesse, 68).

 

Nach dem offensichtlichen Versagen seiner Freunde wendet sich Hiob nun an Gott selbst. Er beschreibt das Leben als einen Frondienst, dem schließlich sogar noch der Lohn - auch der „ewige“ - vorenthalten wird.

(7,1)    Muß nicht der Mensch immer im Dienst stehen auf Erden,

und sind seine Tage nicht wie die eines Tagelöhners?

(7,2)    Wie ein Knecht sich sehnt nach dem Schatten

            und ein Tagelöhner auf seinen Lohn wartet,

(7,3)    so hab ich wohl ganze Monate vergeblich gearbeitet,

und viele elende Nächte sind mir geworden.

(7,4)    Wenn ich mich niederlegte, sprach ich: Wann werde ich aufstehen?

Bin ich aufgestanden, so wird mir's lang bis zum Abend

und mich quälte die Unruhe bis zur Dämmerung.

(7,5)    Mein Fleisch ist um und um eine Beute des Gewürms und faulig,

meine Haut ist verschrumpft und voller Eiter.

(7,6)    Meine Tage sind schneller dahingeflogen als ein Weberschiffchen

und sind vergangen ohne Hoffnung.

(7,7)    Bedenke, dass mein Leben ein Hauch ist

und meine Augen nicht wieder Gutes sehen werden.

(7,8)    Und kein lebendiges Auge wird mich mehr schauen;

sehen deine Augen nach mir, so bin ich nicht  mehr.

(7,9)    Eine Wolke vergeht und fährt dahin:

so kommt nicht wieder herauf, wer zu den Toten hinunterfährt; 

(7,10)  er kommt nicht zurück,

und seine Stätte kennt ihn nicht mehr.

 

Da Hiob nichts mehr zu verlieren hat, erhebt er seine Stimme zur (An-)Klage gegenüber Gott. Er fragt: Warum gehst du so rücksichtslos und ohne Erbarmen gegen mich vor, dass ich mir schließlich den Tod wünsche?

 (7,11)             Darum will auch ich meinem Munde nicht wehren.

Ich will reden in der Angst meines Herzens

            und will klagen in der Betrübnis meiner Seele.

(7,12) Bin ich denn das Meer oder der Drache,

dass du eine Wache gegen mich aufstellst? (1)

(7,13)  Wenn ich dachte, mein Bett soll mich trösten,

mein Lager soll mir meinen Jammer erleichtern,

(7,14)  so erschrecktest du mich mit Träumen

und machtest mir Grauen durch Gesichte,

(7,15)  dass ich mir wünschte, erwürgt zu sein,

            und den Tod lieber hätte als meine Schmerzen.

 

1 Zu den Chaosmächten Meer und Drache, vgl. 3,8; 26,12f. „Diese Macht ist offenbar nicht vernichtet, sondern gefangengesetzt worden. Daher muss Gott eine Wache aufstellen, weil der Welt von ihr Gefahr drohen könnte.“ (Fohrer, 179).

 

Er fordert, dass Gott ihn endlich in Ruhe lassen soll.

(7,16)  Ich vergehe! Ich leb' ja nicht ewig.

Lass ab von mir, denn meine Tage sind nur noch ein Hauch.

(7,17)  Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest

und dich um ihn bekümmerst?

(7,18)  Jeden Morgen suchst du ihn heim

und prüfst ihn alle Stunden.

(7,19)  Warum blickst du nicht einmal von mir weg

und lässt mir keinen Atemzug Ruhe?

 

Auch wenn er eine Sünde begangen hätte, würde dies nicht sein solches Verhalten Gottes ihm gegenüber rechtfertigen. Schließlich wird er bald vom Erdboden verschwinden.

(7,20)  Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du Menschenhüter?

Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe,

dass ich mir selbst eine Last bin?

(7,21)  Und warum vergibst du mir meine Sünde nicht

oder lässt meine Schuld hingehen?

Denn nun werde ich mich in die Erde legen,

und wenn du mich suchst, werde ich nicht mehr da sein.

 

Heinz Zahrnt schlägt vor, Hiob „um seines Klagens willen ebenso unter die Kirchenväter oder die Heiligen“ zu rechnen, „wie die Beter, Denker und Täter des Glaubens – und dies nicht, obwohl seine Klage zur Anklage und Empörung gegen Gott wird, sondern gerade weil sie zugleich Empörung und Anklage gegen Gott ist. Denn wer sich gegen Gott empört, nimmt ihn in jedem Falle ernst, ernster vielleicht als mancher, der von vornherein aus der Macht der frommen Gewohnheit allem zustimmt. Leidenschaftliche Atheisten können kräftigere Gotteszeugen sein als stumme Fromme.“ (Zahrnt, 25)