4      Die Offenbarung Jesu und die Konflikte mit den Juden (5,1-12,50)

 

4.1    Die erste Auseinandersetzung mit den Juden (5,1-47)

 

Die Reihenfolge der Kapitel 5-7 ist unter Bibelauslegern umstritten (vgl. Einleitung, 4).

„Eine beachtliche Gruppe der Exegeten geht davon aus, dass die Kapitel 5 und 6 sowie 7,15-24 in der Endfassung des Evangeliums … an einem falschen Platz stehen. Um die vom Evangelisten beabsichtigte Reihenfolge wieder herzustellen, müsse die Reihenfolge von Kapitel 5 und 6 umgestellt und Kapitel 7 neu geordnet werden. Die ursprüngliche Reihenfolge wäre: 6,1-71; 5,1-47; 7,15-25.1-14.

Um diese Annahme zu belegen, werden verschiedene Argumente angeführt. Das erste stützt sich auf die geographische Kohärenz: Ohne weitere Erklärung wird in 6,1 vorausgesetzt, dass sich Jesus in Galiläa befindet, während das gesamte Kapitel 5 in Jerusalem spielt; 6,1 würde sich harmonischer im Anschluss an 4,43-54 einfügen, das auch in Galiläa spielt. Das zweite Argument besteht in der chronologischen Kohärenz: Im Gegensatz im joh Gebrauch (vgl. 2,13; 6,4; 7,2; 10,22; 13,1) wird in 5,1 nicht gesagt, an welchem ‚Fest der Juden‘ Jesus teilnimmt. Wenn man allerdings die Reihenfolge von Kapitel 5 und 6 vertauscht, wird 5,1 durch 6,4 interpretiert und das nicht näher bestimmte Fest lässt sich als das Passafest identifizieren. Das dritte Argument bezieht sich auf Kapitel 7, das im Übrigen wie die Kapitel 5 in Jerusalem spielt: In 7,15-24 würde die Diskussion aus 5,45-47 aufgenommen, während die ‚logische‘ Fortführung von 7,14 in 7,25 zu finden sei.

Gegen diese literarkritische Operation sprechen folgende Argumente: Zunächst wird diese Rekonstruktion der angeblich ursprünglichen Textfolge durch keine einzige Handschrift gestützt. Und dann ist es in keiner Weise angemessen, auf das vierte Evangelium Kriterien der Kohärenz anzuwenden, die der modernen Geschichtsschreibung entstammen, während der joh Plot seinem Wesen nach thematischer Natur ist. Im Übrigen setzt das Wort ‚Zeichen‘ im Plural (…) in 6,2, die beiden in 4,46-54 und 5,1-9a erzählten Heilungswunder voraus, und schließlich wird in 5,45-47 das wahre Verständnis der Schrift eingeführt, das in Kapitel 6 entfaltet werden wird. Der Beibehaltung der Reihenfolge des kanonischen Textes ist also der Vorzug zu geben.“ (Zumstein, 205f.).

 

Thema des Abschnitts ist die Offenbarung des Sohnes als Weltenrichter. Sie vollzieht sich „in drei großen Szenen:

(a) die Heilung des Gelähmten an einem Sabbat (5,1-18);

(b) die Rede zur Darstellung Jesu als dem eschatologischen Richter (5,19-30);

(c) der Rechtsstreit über die Legitimität des Offenbarers (5,31-47).“ (Zumstein, 209).

 

 Ausgangspunkt ist, wie in Kapitel 9, ein Wunder Jesu.  „In beiden Fällen handelt es sich um eine Heilungsgeschichte in Jerusalem, in der Nähe eines Teiches an einem Sabbat. In beiden Fällen war der durch ein Wunder Geheilte, der anonym bleibt, Opfer einer Behinderung, die sein ganzes Leben betraf. In beiden Fällen löst die nach der Heilung erwähnte Übertretung des Sabbatgebotes eine Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten aus. In beiden Fällen wird der Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde angesprochen. Und in beiden Fällen wird Jesus Identität schrittweise offenbart.“ (Zumstein, 210).

 

 

 

4.1.1   Die Heilung des Gelähmten an einem Sabbat und der darauf folgende Konflikt (5,1-18)

 

(1) Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. (2) Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; (3-4) in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. (5) Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. (6) Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? (7) Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. (8) Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! (9ab) Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

 

(1) Vers 1 leitet über zur Erzählung von der Heilung des Gelähmten. Auch in 2,13 und 6,1 beginnt der neue Abschnitt mit „danach“. Dabei ist erneut von einem „Fest der Juden“ die Rede (2,13; 6,4; 7,2; 10,22; 11,55; 13,1), wobei hier aber nicht gesagt fest, um welches Fest es sich handelt. Aus Anlass dieses Festes zieht Jesus „hinauf nach Jerusalem“ (vgl. 2,13: „Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.“).

 

(2-4) Zunächst wird der Ort der Wunderheilung beschrieben. Beim Schaftor im Norden Jerusalems befindet sich ein Teich mit Namen Betesda, zu dem fünf Hallen gehören. Archäologen haben eine entsprechende Anlage gefunden. Sie „bestand aus zwei Teichen, einem Nord- und seinem Südteich, die von vier Säulenhallen umgeben und durch eine fünfte voreinander getrennt waren. In der Mittelhalle pflegten Kranke zu liegen, die vom Wasser Heilung erhofften, da man ihm eine wundertätige Kraft zuschrieb … Die Bewegung des Wasser … kam durch das von Zeit zu Zeit aus dem Nordteich in den Südteil neu einströmende Wasser zustande.“ (Schneider, 126).

 

Die Verse 3b und 4 finden sich erst in der späteren Überlieferung: „Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt.“

 

(5) Dort befindet sich „ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank“. „Die Angabe der Krankheitsdauer soll die Schwere des Leidens, die Aussichtslosigkeit der Heilung und damit die Größe des folgenden Wunders hervorheben (…) …“ (Schnelle, 140).

 

Einige Bibelausleger (z.B. Zumstein, 213; Wengst, 160) halten es für möglich, dass die 38 Jahre eine Anspielung auf die Zeit der Wüstenwanderung sind bzw. auf die Strafe für das Murren das Volkes angesichts ihrer Skepsis bzgl. der Eroberung des gelobten Landes (5 Mos 2,14: „Die Zeit aber, die wir von Kadesch-Barnea zogen, bis wir durch den Bach Sered kamen, betrug achtunddreißig Jahre, bis alle Kriegsleute aus dem Lager gestorben waren, wie der HERR ihnen geschworen hatte.“; zum Hintergrund vgl. 4 Mos 14,26-35). Dann „… würde ‚38‘ die Zeit bezeichnen, die der Mensch ohne Hoffnung auf Befreiung in seiner Sünde gefangen ist, bevor ihn Jesus rettet.“ (Zumstein, 213).

 

(6-7) Als Jesus ihn dort liegen sieht und von seinem Schicksal hört, spricht er ihn an und fragt ihn: „Willst du gesund werden?“  Der Kranke versteht die Frage nicht als Angebot, sich heilen zu lassen, sondern als eine anteilnehmende Frage. Deshalb erklärt er Jesus die besondere Schwierigkeit seiner Lage, die seine Heilung bisher verhindert hat: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.“ (zur Bewegung des Wassers vgl. zu 2-4). 

 

(8-9b) Aber Jesus befiehlt ihm kurzerhand: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“  Und das Wunder geschieht. Augenblicklich ist der Mann gesund, packt seine Sachen und verlässt seinen jahrelangen Aufenthaltsort.

 

„Auf dreifache Weise wird dabei die souveräne Vollmacht Jesu hervorgehoben. Zunächst sieht Jesus den Kranken, wunderbarerweise kennt er seine Lage und ergreift die Initiative, ihn zu heilen. Der Kranke dagegen ist völlig passiv. Auf die Initiative Jesu kann er nur durch die Anerkennung seiner absoluten Ohnmacht antworten. Und dann ist die auf ihre einfachste Ausdrucksform reduzierte Vollmacht Jesu (keine Gefühlsregung von Seiten Jesu, kein Ruf von Seiten des Kranken, keine Erwähnung der Glaubensfrage) eine Vollmacht, die als schöpferische Lebensmacht die Integrität der Person wiederherstellt.“ (Zumstein, 214).

 

Dabei handelt es sich, wie bei anderen Wundergeschichten, um „Zeichen“ (vgl. 2,11; 4,54). Dafür spricht auch, „dass in Kapitel 6, 9 und 11 das Wunder zu Beginn der Sequenz das Thema angibt, das dann in der Offenbarungsrede entfaltet wird. In diesem Fall wäre die Heilungsgeschichte des Gelähmten das Zeichen für die eschatologische Vollmacht des Sohnes, der das Leben in Fülle schenkt.“ (Zumstein, 211).

 

 

Aufgrund der Heilung kommt es zu einem Streitgespräch, durch das gleichzeitig die tiefere Bedeutung dieses Ereignisses deutlich wird:

 

(9c) Es war aber Sabbat an diesem Tag. (10) Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. (11) Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! (12) Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? (13) Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. (14) Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. (15) Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. (16) Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. (17) Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch. (18) Darum trachteten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich.

 

(9c-10) Auslöser des Streits ist, dass der Geheilte sein Bett am Sabbat wegträgt. „Die Juden“ sprechen den Geheilten darauf an und weisen ihn darauf hin, dass es am Sabbat nicht erlaubt ist, ein Bett zu tragen. Zu den am Sabbat „verbotenen Hauptarbeiten“ zählt nach dem Talmud auch das Tragen „aus einem Bereich in einen anderen“ (bSchab 7,2; zit. nach ThWNT VII, 12). Ganz ähnlich heißt es im Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.): „Sie sollen an diesem Tag von Haus zu Haus nichts herein- noch hinausbringen …“ (2,30).  Dabei handelt es sich vermutlich um Weiterführungen bzw. Auslegungen einer Aussage des Propheten Jeremia: „Wenn ihr nun auf mich hören werdet, spricht der HERR, dass ihr am Sabbattag keine Last durch die Tore dieser Stadt tragt, sondern den Sabbat heiligt, dass ihr an diesem Tage keine Arbeit tut …“ (Jer 17,24; vgl. Neh 13,15-19).

 

(11-13) Zu seiner Verteidigung erklärt er, dass der, der ihn gesund gemacht hat, ihm den Befehl gegeben hat: „Nimm dein Bett und geh hin!“  Für „die Juden“ aber ändert das nichts. Dass jemand geheilt worden ist, interessiert sie nicht – wichtig ist ihnen, die Einhaltung des Sabbats zu überwachen. Daher haken sie nach: „Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?“  Aber der Geheilte weiß es nicht. Jesus ist einfach weitergangen und der Ort war voller Menschen.

 

(14) Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende – denn Jesus findet den Geheilten im Tempel und spricht ihn an (vgl. 9,35: „Jesus hörte, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?“). Auf das Sabbatproblem geht er nicht ein. Stattdessen erklärt er ihm: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“ 

 

Meint Jesus, dass der Geheilte aufgrund einer Sünde 38 Jahre lang krank war? In 9,2-3 stellt Jesus in einem konkreten Fall den ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde in Frage: „(2) Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? (3) Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“  In 5,14 wird genau genommen gar nichts über die Vergangenheit gesagt, sondern nur über die Zukunft. Damit ihm „nicht etwas Schlimmeres widerfahre“ soll er nicht mehr sündigen. Der Zusammenhang des Textes zeigt, dass damit die ewige Verdammnis gemeint ist (5,19ff.). Aber ein Bezug zwischen Sünde und Krankheit ist wohl vorausgesetzt.

 

(15) Über einen Dialog zwischen Jesus und dem Geheilten wird nichts berichtet. Auch vom Dank des Geheilten ist nicht die Rede. Er wird lediglich gesagt, dass er „den Juden“, die ihn auf seine Sabbatübertretung angesprochen haben, berichtet, dass es Jesus war, der ihn geheilt hat. Dabei handelt es sich wohl weder um eine bewusste Denunziation, noch um ein Glaubenszeugnis – am ehesten vielleicht um eine Anzeige aus Angst um seine eigene Sicherheit.

 

(16) Damit gerät Jesus ins Visier der Juden. Sie lassen von dem Geheilten, der am Sabbat sein Bett umhergetragen hat, ab und verfolgen Jesu, weil er am Sabbat geheilt hat. 

 

(17) Jesus aber geht nicht auf die Vorwürfe bzgl. des Sabbats ein, sondern erklärt seinen Gegnern: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.“  Indirekt allerdings doch, denn in der jüdischen Tradition wurde die Auffassung vertreten, dass die Sabbatruhe Gottes nicht für sein Wirken als Richter gilt und er hier ohne Unterbrechung tätig ist (StrBill II, 461: „Wenn du auch sagst, dass Gott an diesem (dem 7. Tage) von aller seiner Arbeit geruht hat, so hat er wohl von der Arbeit an seiner Welt geruht, aber nicht hat er von der Arbeit an den Gottlosen u. von der Arbeit an den Gerechten geruht, sondern er … zeigt diesen etwas von ihrer Vergeltung und jenen etwas von ihrer Vergeltung.“). Dass dies hier gemeint ist, wird auch daran deutlich, dass im Folgenden ausführlich von Gottes und Jesu Wirken als Richter die Rede ist. 

 

Entscheidend ist dabei die Aussage: „… und ich wirke auch.“  „Gerade wie Gott der eschatologische Richter ist und somit auch am Sabbat tätig ist, so übt … auch der Sohn die eschatologische Gerichtsmacht aus. Weit davon entfernt, eine Übertretung des Sabbatgebotes zu sein, offenbart sein Handeln das Wesen seiner Vollmacht, die eben die des eschatologischen Richters ist, der über das Leben entscheidet.“ (Zumstein, 218).

 

(18) Dieses Selbstverständnis Jesu ist für seine Gegner noch provozierender als seine Missachtung des Sabbats, die in ihren Augen die Auflösung des Sabbats bedeutet (vgl. die genauere Übersetzung der EB: „… weil er nicht allein den Sabbat aufhob …“). Warum? Weil er damit behauptet, „Gott sei sein Vater“. Nun ist Vorstellung von Gott als Vater eigentlich nicht problematisch. Aber gemeint ist natürlich, dass Jesus Gott in einer besonderen Weise als seinen Vater betrachtet, weil er sich als seinen Sohn versteht und sich so mit Gott auf eine Stufe stellt (vgl. 10,31-33: „(31) Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen. (32) Jesus antwortete ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen? (33) Die Juden antworteten ihm: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen und weil du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott.“; 19,7: „Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.“). In ihren Augen ist das ein Akt der Gotteslästerung (3 Mos 24,15-16), so dass sie jetzt erst recht versuchen, ihn zu beseitigen.

 

 

 

4.1.2   Die göttliche Vollmacht Jesu als Richter in Gegenwart und Zukunft (5,19-30)

 

Die schweren Anschuldigungen seiner Gegner sind für Jesus der Anlass, sein Selbstverständnis und seine besondere Beziehung zu Gott klarzustellen.

 

(19) Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn. (20) Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, sodass ihr euch verwundern werdet. (21) Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will. (22) Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben, (23) damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat. 

 

(19) Jesus leitet seine Antwort mit der Formel „wahrlich, wahrlich, ich sage …“ ein, die sich an 25 Stellen des Johannesevangeliums findet und eine göttliche Offenbarung ankündigt.

 

Im Raum steht der schwerwiegende Vorwurf, dass er sich selbst mit Gott auf eine Stufe stellt. Demgegenüber betont Jesus: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun …“ Ganz ähnlich formuliert er am Ende dieses Abschnitts: „Ich kann nichts von mir aus tun …“. (5,30; vgl. 7,17f.28; 8,28.42; 12,49; 14,10). Er macht also nicht einfach von sich aus „sein eigenes Ding“ – er ist dazu gar nicht in der Lage. Stattdessen tut er „nur, was er den Vater tun sieht“ (vgl. 5,30: „… Wie ich höre, so richte ich …“). Diesen Satz begründet Jesus mit dem Zusatz: „denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn“.

 

 „So wird der Vorwurf der Gotteslästerung entkräftet: die Gleichheit des Sohnes mit dem Vater ‚im Tun‘ ist in der strengen Anhängigkeit des Sohnes gegenüber dem Vater begründet.“ (Zumstein, 222).

 

(20) Der Grund dafür, dass Jesus in Abhängigkeit von seinem Vater das tut, was sein Vater auch tut, ist die Liebe des Vaters zu seinem Sohn. Von der Liebe des Vaters zum Sohn ist im Johannesevangelium noch in 10,17; 15,9 und 17,23-26 die Rede – nach 3,35 ist die Liebe des Vaters zu seinem Sohn der Grund für dessen Vollmacht („Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.“).

 

Weil der Vater „seinen Sohn liebt, zeigt (…) er ihm alle Facetten seines ‚Know-How‘.“ (Zumstein, 221). Er wird ihm sogar „noch größere Werke zeigen“. „Zeigen“ ist gleichbedeutend mit „geben“ (vgl. 5,36: „…die Werke, die mir der Vater gegeben hat …“) bzw. mit „übergeben“ (5,22: „Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben …“) und der Übertragung von Vollmachten (5,27: „und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten …“).

 

Was aber sind „größere Werke“? Sind es noch größere Wunder wie die Heilung des Blindgeborenen (Kap. 9) oder die Auferweckung des Lazarus (Kap. 11)? Die unmittelbar folgenden Verse zeigen: „Die ‚größeren Werke‘, die der Vater dem Sohn zur Ausführung übergeben will, sind die für Gott charakteristischen und ihm vorbehaltenen Werke der Totenauferweckung und des Gerichts.“ (Schnackenburg II, 133).

 

(21) Der Beleg dafür, dass der Vater dem Sohn „noch größere Werke“ zeigt, ist, dass der Sohn „lebendig“ macht, „welche er will“. Auch in diesem Handeln gleicht der Sohn seinem Vater, der „die Toten auferweckt und macht sie lebendig“. „Der joh Jesus wird hier dazu bestimmt, eine Funktion auszuüben, die per excellance in den Bereich der Macht Gottes gehört: Leben schaffen und Leben schenken“ (Zumstein, 223) – nicht erst in der Zukunft, sondern bereits hier und jetzt (vgl. 5,24-25). Möglicherweise handelt es sich hier um eine Anspielung an die Heilung des Kranken am Teich Betesda.

 

(22) Die Vollmacht des Sohnes, Menschen „lebendig“ setzt voraus, dass der Vater „alles Gericht dem Sohn übergeben“ hat. Schließlich steht die Auferstehung der Toten im engen Zusammenhang mit dem Gericht und der Empfang des ewigen Lebens setzt den positiven Entscheid des göttlichen Gerichts voraus.  Und tatsächlich: Der „Vater richtet niemand“; er hat „alles Gericht“ in die Hände des Sohnes „übergeben“ (vgl. 5,27: „und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten …“).

 

(23) Weil der Sohn tut, was auch der Vater tut, sollen „alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“. Wer das nicht tut, „der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“. Das bedeutet: „man kann nicht am Sohn vorbei den Vater ehren, die Ehre des Vaters und des Sohnes ist identisch; im Sohne begegnet der Vater, und der Vater ist nur im Sohne zugänglich.“ (Bultmann, 192).

 

Wie also antwortet Jesus auf den Vorwurf, „sich selbst Gott gleich zu machen“? Jesus spricht von einer „Gleichheit im Tun“ (Zumstein, 225). Jesus tut, was sein Vater auch tut. Das gilt auch für die Auferweckung der Toten und das Gericht. Dabei aber macht er sich nicht selbst Gott gleich, sondern handelt im Auftrag Gottes bzw. in Abhängigkeit von ihm. Gleichzeitig gebührt ihm die Ehre, die auch Gott gebührt; und wer ihm die Ehre verweigert, „ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“

 

 

„Während es in den V.19-23 in besonderer Weise um die eschatologische Vollmacht des Sohnes ging, zeigen die V.24-30 durch die Thematisierung des Endgerichts, auf welche Art und Weise der Sohn seine Vollmacht ausübt.“ (Zumstein, 225).

 

(24) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. (25) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören, die werden leben. (26) Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; (27) und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. (28) Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, (29) und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. (30) Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

 

(24) Jesus setzt seine Rede mit der erneuten Verwendung der Formel „wahrlich, wahrlich, ich sage …“ fort (vgl. 5,19), was zeigt, dass jetzt eine weitere Offenbarung folgt.

 

Im Hinblick auf das ewige Leben und das Gericht erklärt Jesus, dass alles darauf ankommt, sein Wort zu hören und an Gott zu glauben, der ihn gesandt hat. Wer das tut, hat schon jetzt das ewige Leben und darf hier und heute wissen, dass er „nicht in das Gericht“ kommt (vgl. 3,16.36). Er ist vielmehr bereits „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (vgl. 1 Joh 3,14: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind …“). Er ist „‘aus dem Tod ins Leben umgesiedelt‘, wie bei einem Wohnungswechsel. Der ‚Tod‘ erscheint wie eine Behausung, an die der Mensch gebunden ist, wie ein Bereich, in dem er festgehalten ist. Wenn er aber durch den Sohn das Leben empfängt, dann ist er in einen neuen Bereich übergewechselt und gehört ihm nun dauernd an (Perfekt).“ (Schnackenburg II, 137f.).

 

Weil es sich um ein gegenwärtiges Geschehen handelt, ist mit dem „Tode“ nicht der natürliche Tod am Ende des Lebens und mit dem „Leben“ nicht das zukünftige ewige Leben in Gottes neuer Welt gemeint. Aber was dann? Im „Tode“ zu sein heißt hier vielmehr, dem Tod verfallen zu sein – auch wenn man noch so lebendig aussieht. „Zum Leben hindurchgedrungen zu sein“, heißt, in die „Lebenswelt Gottes“ (Schnelle, 146) eingetreten zu sein und auch durch den physischen Tod nicht mehr aus ihr herauszufallen.

 

(25) Diese Aussage über den Übergang vom Tod zum Leben wird vertieft. Dass Jesus dabei schon wieder die Formel „wahrlich, wahrlich, ich sage …“ bemüht, zeigt die besondere Bedeutung des Folgenden. Jesus erklärt, dass die „Stunde“ der Auferstehung einerseits erst noch (am Ende der Zeiten) „kommt“, andererseits „schon jetzt“ da ist (vgl. 4,23: „Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit.“).

 

Der Akzent liegt hier eindeutig auf der Gegenwart, wenngleich die Zukunft nicht ausgeblendet wird. Alle, die jetzt auf Jesu Wort (5,24) bzw. die „Stimme des Sohnes Gottes“ hören, „werden leben“.

 

(26-27) Warum werden alle, die auf Jesu Stimme hören, leben? Weil Jesus „das Leben … in sich selber hat“ – und er deshalb „von nun … die Quelle des Lebens für die Menschen ist“ (Zumstein, 227).

 

Auch hier gilt: Jesus hat das Leben nicht aus eigener Kraft „in sich selber“ (vgl. 5,19), sondern weil der Vater, der „das Leben hat in sich selber“, es „dem Sohn gegeben hat“, ebenfalls „das Leben zu haben in sich selber“.

 

Die „Vollmacht …, das Gericht zu halten“ hat der Vater seinem Sohn gegeben, „weil er der Menschensohn ist“. Im Johannesevangelium ist vom „Menschensohn“ noch in 1,51; 3,13.14; 6,27.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31 – allerdings an keiner dieser Stellen speziell im Hinblick auf das Gericht. Anders ist das im äthiopischen Buch Henoch (45,3; 49,4; 51,3; 55,4; 61,8f.; 62,2-7; 69,27-29), in den Evangelien (Mt 24,30; Mk 8,38) und in der Offenbarung des Johannes (Off 14,14-16).

 

Das Gericht, von dem Jesus hier spricht, ist nicht nur etwas zukünftiges, sondern findet bereits hier und jetzt statt (vgl. 3,18: „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.“; 5,30: „Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn [a]ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“).

 

(28-29) Diese Aussagen über die Auferstehung und das Gericht im hier und heute sind neu und ungewohnt, sollen aber die Hörer nicht verwundern (vgl. 3,7: „Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden.“). Warum nicht? Weil damit die Hoffnung auf die zukünftige allgemeine Auferstehung und das Endgericht nicht erledigt sind. Diese „Stunde“ wird kommen. Dann werden „alle die in den Gräbern sind“, also den physischen Tod erlitten haben, „seine Stimme hören“ und aus den Gräbern „hervorgehen“.

 

Allerdings gibt es sowohl eine „Auferstehung des Lebens“, als auch eine „Auferstehung des Gerichts“. Die „Auferstehung des Lebens“ winkt denen, „die Gutes getan haben“, die „Auferstehung des Gerichts“ dementsprechend denen, „die … Böses getan haben“.

 

Die Vorstellung eines Gerichts nach den Werken findet sich auch bei Paulus (Röm 2,5-10; 2 Kor 5,10). Wichtiger ist die Frage, in welchem Verhältnis die Aussagen über das präsentische Gericht und die Zusicherung, durch den Glauben an Jesus Christus „nicht in das Gericht“ zu kommen, sondern „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ zu sein.

 

Nicht wenige Ausleger sind der Meinung, dass es sich bei den Versen 28 und 29 um traditionelle Vorstellungen handelt, die später in den Text eingefügt wurden. „Als wesentliche inhaltliche Argumente für den sekundären Charakter dieser Verse werden angeführt: 1) Der Widerspruch zu der präsentischen Eschatologie in V. 25. 2) Es ist nicht mehr wie in V. 25 von ‚Toten‘ (im geistlichen Sinn), sondern von ‚in den Gräbern Liegenden‘ die Rede. 3) Von einer Differenzierung in Gericht nach den Kriterien des Handelns war zuvor nicht die Rede. 4) Die Stimme des Menschensohns wird nicht nur von den Glaubenden gehört, sondern leitet das allgemeine Endgericht ein.“  (Schnelle, 147).

Demgegenüber ist festzuhalten, dass beide Vorstellungen sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen: „Ein unauflöslicher Gegensatz zwischen V. 25 und V. 28.29 besteht nicht, denn in V. 25 artikuliert sich nicht eine ‚rein‘ präsentische Eschatologie, vielmehr dominiert eine präsentische Ausrichtung, ohne futurische Aspekte zu eliminieren. Sachgemäß muss deshalb in V. 28.29 von einer Ausweitung der eschatologischen Perspektive gesprochen werden.“ (Schnelle, 147)

 

Verschiedene Zeitebenen erscheinen an mehreren Stellen des Johannesevangeliums:

3,36

Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.

6,54-57

Joh 6,54-57: (54) Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. (55) Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. (56) Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. (57) Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen.

11,24-27

(24) Marta spricht zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. (25) Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; (26) und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? (27) Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

12,48

Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage.

Für das Verhältnis dieser beiden Zeitebenen gilt dabei: „Was in der Gegenwart festgeschrieben wurde, hat auch in der Zukunft Bestand.“ (Schnelle, 148). Das ist auch hier die Voraussetzung. Gemeint ist daher: Es gibt sowohl eine „Auferstehung des Lebens“, als auch eine „Auferstehung des Gerichts“. Wer Jesu Worten glaubt, ist aber bereits Zeit seines Lebens „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“. Er kommt daher „nicht ins Gericht“ und hat mit der „Auferstehung des Gerichts“ nichts zu tun. Er wird aus seinem Grab „hervorgehen … zur Auferstehung des Lebens“. Dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass er „Gutes getan“ hat – während derjenige, der zur „Auferstehung des Gerichts“ aus seinem Grab hervorgeht, dieses Gericht aufgrund seiner bösen Taten auch verdient.

 

(30) Abschließend betont Jesus noch einmal, dass er hier nichts von sich aus tut (vgl. 5,19: „…Der Sohn kann nichts von sich aus tun …“). Er richtet vielmehr nach dem, was er von seinem Vater hört (vgl. 5,19: „… sondern nur, was er den Vater tun sieht …“). Deshalb ist sein Gericht auch „gerecht“. Schließlich will er im Gericht nicht seinen eigenen Willen, sondern den Willen seines Vaters durchsetzen, der ihn gesandt hat.

 

 

 

4.1.3   Der Streit um die Vollmacht Jesu (5,31-47)

 

Es versteht sich von selbst, dass der Anspruch Jesu nicht unwidersprochen bleiben kann. Jesus nimmt die kritischen Rückfragen vorweg. Er nennt „Zeugen“ (5,31-40) und geht dann zum Gegenangriff über (5,41-47).

 

(31) Wenn ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugnis nicht wahr. (32) Ein anderer ist's, der von mir zeugt; und ich weiß, dass das Zeugnis wahr ist, das er von mir gibt. (33) Ihr habt zu Johannes geschickt, und er hat die Wahrheit bezeugt. (34) Ich aber nehme nicht von einem Menschen Zeugnis an; sondern ich sage das, damit ihr selig werdet. (35) Er war ein brennendes und strahlendes Licht; ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein in seinem Licht. (36) Ich aber habe ein größeres Zeugnis als das des Johannes; denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, zeugen von mir, dass mich der Vater gesandt hat. (37) Und der Vater, der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben. Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen (38) und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen; denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat. (39) Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind's, die von mir zeugen; (40) aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. 

 

(31-32) „Sowohl in der jüdischen als auch in der griechisch-römischen Welt gilt die Regel, dass eine beschuldigte Person im Falle eines Rechtsstreits nicht für sich selbst Zeugnis ablegen kann, ohne sich selbst zu diskreditieren.“ (Zumstein, 232; vgl. 8,13: „Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr.“). In der aktuellen Diskussion erkennt Jesus diese Regel grundsätzlich an (anders in 8,14: „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe.“) und erklärt seinen Gegnern, dass „ein anderer“ von ihm zeugt und er weiß, dass dessen Zeugnis „wahr ist“.

 

Wenn er sagt: „ich weiß, dass das Zeugnis wahr ist, das er von mir gibt“, ist das bereits ein Indiz dafür, dass er davon ausgeht, dass seine Gegner das anders sehen.

 

Bultmann erklärt in diesem Zusammenhang: „… die Welt hat Unrecht, wenn sie für seinen Anspruch ein Zeugnis fordert, wie sie es annehmen könnte. Sein Anspruch ist ja der des Offenbarers; und diesen Anspruch menschlich verfügbaren Kriterien zu unterwerfen, würde bedeuten, die Kontinuität zwischen Menschlichem und Göttlichem, ein kommensurables Verhältnis menschlicher und göttlicher Maßstäbe behaupten; es würde bedeuten, die Offenbarung in die Sphäre menschlicher Diskussion hineinziehen.“ (Bultmann,198).

 

(33-35) Eigentlich wäre es naheliegend, wenn Jesus auf Johannes der Täufer als Zeugen verweisen würde. Doch Jesus lehnt das ab. Er erinnert seine Gegner daran, dass sie eine Delegation zu Johannes geschickt haben und er ihnen „die Wahrheit bezeugt hat“ (vgl. 1,19-28; 3,26). Dann aber erklärt er ihnen, dass er grundsätzlich nicht „von einem Menschen“ Zeugnis annimmt. Wenn er bestätigt, dass Johannes die Wahrheit gesagt hat, dann nur, damit sie auf diese Weise zum Glauben an ihn kommen und „selig“ werden – aber nicht als „Zeugnis“.

 

Warum nimmt Jesus kein Zeugnis von einem Menschen an? Ähnlich wie Bultmann (s.o.) erklärt Wengst dazu: „Er kann es nicht, weil es dem Menschen unmöglich ist, Gott und sein Handeln zu begründen. Er darf es nicht, weil er sonst sich selbst und sein Vermögen an die Stelle Gottes und dessen Handeln setzen würde. Er muss es aber auch gar nicht, weil Gott schon für sich selbst gesprochen und gehandelt hat und der menschliche Zeuge hier nur noch nachsprechen kann, darf und soll.“ (Wengst, 178).

 

Johannes der Täufer „war nicht das Licht“ (1,8), sondern (nur) eine „brennende und scheinende Lampe“ (EB, in wörtlicher Übersetzung). Der Vergleichspunkt ist vermutlich, dass eine Lampe nur eine kurze Zeit brennt. Jedenfalls führt Jesus den Gedanken in diesem Sinne fort: „ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein in seinem Licht.“  Er „wirft den Juden vor, dem Zeugnis des Täufers nicht wirklich gefolgt zu sein, sondern nur für kurze Zeit Nutzen daraus gezogen zu haben.“ (Schnelle, 151).

 

(36) Jesus beruft sich auf „ein größeres Zeugnis als das des Johannes“  – auf die „Werke“, die ihm „der Vater gegeben hat“, damit er sie „vollende“. Sie bezeugen, dass der „Vater“ ihn „gesandt hat“.

 

Welche „Werke“ sind gemeint? An einigen Stellen des Johannesevangeliums bezieht sich dieser Begriff speziell auf Wundertaten Jesu (vor allem 7,21; 10,32.33; 15,24). Allerdings ist hier speziell von Werken die Rede, die Gott ihm „gegeben hat“, damit er sie „vollende“. Das spricht dafür, dass es hier um mehr als Wundertaten geht.

 

Interessant ist ein Vergleich mit folgenden Aussagen Jesus, in denen es um Werke geht, die dem Sohn vom Vater gegeben wurde und die er vollendet hat:

5,22

Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben

5,26

Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; 

17,4-8

(4) Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. (5) Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. (6) Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. (7) Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. (8) Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast. 

Das Gericht und die Auferstehung zum Leben bzw. die Offenbarung, „die Worte“, sind also die Werke, die sein Vater ihm „gegeben hat“, um sie zu vollenden. Sie bezeugen, dass der „Vater“ ihn „gesandt hat“.

 

Diese Gedankenführung überrascht. Wengst bemerkt zu Recht: „Das, was legitimiert, ist identisch mit dem, was legitimiert werden soll. Es liegt hier ein geschlossener Kreis ab.“ Das ist aber keine Schwäche in der Argumentation. Es handelt sich um einen „geschlossenen Kreis“, der aber „nur um den Preis aufgebrochen werden“ könnte, dass an die Stelle des Zeugnisses Gottes ein menschliches Zeugnis träte: Ob Gott präsent ist, kann nicht objektiv demonstriert werden. Das muss sich schon in der Verkündigung dieses Zeugnisse selbst erweisen … Die Legitimation Jesu liegt in der Selbstevidenz der Verkündigung.“ (Wengst, 179).

 

(37a) Neben das Zeugnis der Werke, die der Vater ihm gegeben hat, tritt das Zeugnis des Vaters selbst. Inhaltlich hängen beide eng zusammen, so dass auch vermutet wird, dass nur deshalb zwischen beiden unterschieden wird, um so von zwei Zeugen sprechen zu können (Becker, 253; vgl. 8,17: „Auch steht in eurem Gesetz geschrieben, dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei.“).

 

Unklar ist, woran bei dem Zeugnis des Vaters konkret zu denken ist. Sind es die „Werke“, die Jesus vollbringt, weil Gott sie ihm „gegeben hat“  (Zumstein, 235; Schnackenburg II, 174)? Ist die Stimme Gottes bei der Taufe gemeint (1,33-34)? Oder der Schriftbeweis (Bultmann, 200)? Oder etwas, dass der Gläubige in sich trägt (1 Joh 5,9-11: „(9) Wenn wir der Menschen Zeugnis annehmen, so ist Gottes Zeugnis größer; denn das ist Gottes Zeugnis, dass er Zeugnis gegeben hat von seinem Sohn. (10) Wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat dieses Zeugnis in sich. Wer Gott nicht glaubt, der macht ihn zum Lügner; denn er glaubt nicht dem Zeugnis, das Gott gegeben hat von seinem Sohn. (11) Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn.“)?

 

(37b-38) Außerdem stellt Jesus fest, dass seine Gegner ohne Beziehung zu seinem himmlischen Vater sind. Er erklärt ihnen: „Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen …“. Entscheidend ist die Begründung. Sie lautet: „… denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat.“ M.a.W.:  Die Ablehnung Jesu, des Gesandten Gottes, ist der schlagende Beweis für ein Leben ohne Verbindung zu Gott. „In Jesu Wirken begegnet Gottes Offenbarung; wer hier nicht glaubt, zeigt, dass er Gott nicht kennt.“ (Bultmann, 201).

 

„Hatte also Johannes zunächst betont, dass im Wirken Jesu ganz und gar Gott wirkt [V.36-37a], so kehrt er nun die Argumentation um, dass Gottes Wirken überhaupt nicht wahrnimmt, wer es hier nicht wahrnimmt [V.37b-38].“ (Wengst, 179).

 

(39-40) Wie kann Jesus behaupten, dass seine Gegner ohne Beziehung zu Gott und seinem Wort leben? Er gesteht ihnen selbstverständlich zu, dass sie die „Schriften“ durchforschen und davon überzeugt sind, durch ihr Studium „das ewige Leben“ zu finden. Dann aber weist er sie darauf hin, dass doch gerade die Schriften, die ihnen so wichtig sind, von ihm zeugen. Wie können sie ihn dann ablehnen? Das kann nur daran liegen, dass sie nicht zu ihm kommen wollen – und hat zur Folge, dass sie nicht das Leben erlangen, das sie in den Schriften finden wollen.

 

„Der joh. Jesus geht auf die Frage der Glaubwürdigkeit seines hohen Selbstanspruches ein und beruft sich auf Zeugen und Zeugnisse. So hat der Glaubende ein Recht, nach den Grundlagen und Gründen für seinen Glauben zu fragen. Aber der göttliche Anspruch Jesu lässt sich durch keinen menschlichen Zeugen und Zeugnisse voll beweisen; er wird also solcher nur durch das Zeugnis Gottes ausgewiesen. Dieses aber ist nicht einfachhin rational verfügbar, sondern in die menschliche Aussage der Schrift eingebettet und an Jesu geschichtliches, dem Zwielicht menschlichen Urteils ausgesetztes Wort und Werk gebunden. So findet auch der Unglaube seine Gründe zum Neinsagen. Die eigentliche Entscheidung zum Glauben in dem Menschen in seiner personalen Gesamthaltung aufgegeben; sie fällt vor dem Anspruch Jesu Christi, wie ihn die glaubende Gemeinde im Blick auf sein irdischen Werken, seinen Tod und seine Auferstehung zur Sprache bringt.“ (Schnackenburg II, 178). „So bekommt der Glaube an Jesus nur in der Erkenntnis seines Gegenstandes seine Begründung. Glaube ist außerhalb des Glaubensvollzugs nicht legitimierbar.“ (Becker, 254).

 

 

Ging es in den ersten Versen dieses Abschnittes um das göttliche Zeugnis für Jesus und dessen Ablehnung, stellt Jesus nun klar, dass er nicht auf die Unterstützung von Menschen baut und wirft seinen Gegnern vor, dass sie sich auf Menschen verlassen und Gott ignorieren.

 

(41) Ich nehme nicht Ehre von Menschen an; (42) aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. (43) Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. (44) Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? 

 

(41-42) Bereits in 5,34 hatte Jesus gesagt: „Ich aber nehme nicht von einem Menschen Zeugnis an …“ Ähnlich, aber noch grundsätzlicher, erklärt er nun: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen an.“

 

Ähnliche Aussagen finden sich in den in den Kapiteln 7 und 8 überlieferten Streitgesprächen:

7,18

Wer aus sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist in ihm.

8,50

Ich suche nicht meine Ehre; es ist aber einer, der sie sucht und richtet.

8,54

Jesus antwortete: Wenn ich mich selber ehre, so ist meine Ehre nichts. Es ist aber mein Vater, der mich ehrt, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott.

 

Die Anerkennung durch andere Menschen bedeutet ihm nichts; für ihn zählt nur die Anerkennung durch Gott. Von seinen Gegnern aber weißt er, dass ihnen die Liebe zu Gott („Gottes Liebe“ ist als Genitivus objectivus zu übersetzen) fehlt – und ihnen deshalb die Anerkennung durch ihn nichts bedeutet (vgl. 5,44: „…und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?“). 

 

(43-44) Die Suche nach Anerkennung durch andere Menschen und die fehlende Liebe zu Gott, sind für Jesus die entscheidenden Gründe dafür, dass seine Gegner ihn ablehnen.

 

Obwohl Jesus im Namen bzw. Auftrag seines himmlischen Vaters gekommen ist, erkennen sie ihn nicht an. Wenn aber jemand im eigenen Namen bzw. Auftrag kommen, werden sie ihn annehmen. „Taub für echte, von jenseits zu ihnen redende Autorität, wird die Welt damit gestraft, dass sie sich jeweils solchen Führern beugt, die überhaupt keine echte Autorität sind, sondern in denen nur die Tendenzen ihres eigenen Wollens laut werden.“ (Bultmann, 203).

 

Wenn sie „Ehre voneinander“ annehmen und ihnen die „Ehre, die von dem alleinige Gott“ kommt, gleichgültig ist, sind sie unfähig zum Glauben an Gott und den, „den er gesandt hat“ (5,38). Jesu stellt fest, „dass der Unglaube der Welt seinen Grund in ihrer Verfallenheit an sich selbst hat. Indem diese Welt im gegenseitigen Sich-Anerkennen ihre Sicherheit gewinnt, verschließt sie sich gegen Gott …“ (Bultmann, 203).

 

 

Anstatt seine Gegner mit weiteren Vorwürfen zu konfrontieren, tritt Jesus die Rolle des Anklägers an Mose ab.

 

(45) Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft. (46) Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. (47) Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

 

(45) „Jesus hat wohl ein Recht, aus dem Verhalten der Juden die Konsequenzen zu ziehen: er könnte sie bei seinem Vater verklagen. Aber es bedarf nicht seiner Anklage. Der Ankläger ist schon da. Mose, auf den sie ihre ganze Hoffnung setzen, von dem sie erwarten, dass er im Gericht ihr Fürsprecher sein wird, tritt gegen sie auf …“ (Schneider, 135f.).

 

(46-47) So sehr sie auf Mose hoffen, so wenig glauben sie ihm. Denn wenn sie Mose wirklich glauben würden, würden sie auch Jesus glauben, weil Mose von ihm „geschrieben“ hat.

 

Wo hat Mose von Jesus „geschrieben“? Am ehesten ist an Aussagen wie 5 Mos 18,15.18 zu denken: „(15) Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen … (18) Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde.“ 

 

Aber wenn seine Gegner selbst Mose nicht glauben, auf den sie sich doch immer wieder berufen, wie sollen sie dann Jesu Worten glauben?

 

 

Zusammenfassung:

Durch die Heilung des Kranken am Teich Betesda am Sabbat ergibt sich ein Streitgespräch mit „den Juden“ über Jesus Vollmacht. Jesus behauptet, Menschen im Auftrag Gottes schon jetzt das ewige Leben zu schenken und Gericht zu halten. Dafür ist Gott selbst sein Zeuge, weshalb er nicht von der Anerkennung durch menschliche Autoritäten abhängig ist.

 

 

 

4.2    Jesus – das Brot des Lebens (6,1-71)

 

„Das ganze 6. Kapitel zeigt einen bewundernswerten, klar durchdachten Aufbau: zunächst das Speisungswunder, bei dem sich Jesus als der Spender des irdischen, aber auf geheimnisvolle Weise vermehrten Brotes zeigt; sodann der Hinweis darauf, dass es sich bei der Speisung um eine Demonstration voll tiefer symbolischer Bedeutung handelt; schließlich die Rede vom Brot des Lebens, in der Jesus sich als das wahre Brot des Lebens und als der einzige Spender dieses Brotes offenbart. Mit einer geradezu dramatischen Gestaltungskraft werden die Ausführungen von Stufe zu Stufe gesteigert. Hinter dem Ganzen steht eine große umfassende Konzeption.“ (Schneider, 136).

 

Der Aufbau des Kapitels ähnelt der Reihenfolge, in der sich die dort geschilderten Ereignisse im Markusevangelium finden:

 

Joh

Mk

Brotwunder

6,1-15

6,32-44 (8,1-9)

Gang auf dem Wasser, Seeüberquerung

6,16-21

6,45-52 (8,10)

Jesus und die Menge

6,22-25

6,53-56

Zeichenforderung

6,30-31

8,11-13

Rede über Brot bzw. Sauerteig

6,25-58

8,14-21

Petrusbekenntnis

6,66-69

8,27-30

Wort vom Teufel unter ihnen

6,70

8,32-33

Ankündigung des Verrats des Judas

6,71

3,19

 

 

4.2.1   Die Speisung der 5.000 (6,1-5)

 

(1) Danach ging Jesus weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt. (2) Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. (3) Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. (4) Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. (5) Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? (6) Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. (7) Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. (8) Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: (9) Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele? (10) Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer. (11) Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten. (12) Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. (13) Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren. (14) Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. (15) Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein.

 

Der Bericht über die Speisung der 5.000 findet sich auch in den anderen Evangelien. Im Vergleich zeigen sich viele Übereinstimmungen, aber auch einige Unterschiede.

Mk 6,30-44

Joh 6,1-15

(30) Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und verkündeten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. (31) Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen. (32) Und sie fuhren in einem Boot an eine einsame Stätte für sich allein. (33) Und man sah sie wegfahren, und viele hörten es und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor. (34) Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an. (35) Da nun der Tag fast vergangen war, traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Stätte ist einsam, und der Tag ist fast vergangen; (36) lass sie gehen, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen. (37) Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen und ihnen zu essen geben? (38) Er aber sprach zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht hin und seht nach! Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf, und zwei Fische. (39) Und er gebot ihnen, dass sich alle lagerten, tischweise, auf das grüne Gras. (40) Und sie setzten sich, in Gruppen zu hundert und zu fünfzig. (41) Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, dass sie sie ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle. (42) Und sie aßen alle und wurden satt. (43) Und sie sammelten die Brocken auf, zwölf Körbe voll, und von den Fischen. (44) Und die die Brote gegessen hatten, waren fünftausend Männer.

(1) Danach ging Jesus weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt. (2) Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. (3) Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. (4) Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. (5) Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? (6) Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. (7) Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. (8) Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: (9) Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele? (10) Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer. (11) Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten. (12) Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. (13) Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren. (14) Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. (15) Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein.

 

 

Die Gemeinsamkeiten sind klar:

·         Das Volk kommt zu Jesus.

·         Es handelt sich um eine Menschenmenge von 5.000 Männern.

·         Jesus und seine Jünger sprechen über die Versorgung der Menge mit Lebensmitteln.

·         Es ist von Brot für 200 Silbergroschen die Rede.

·         Die Menge lagert sich im Gras.

·         Es stehen nur fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung.

·         Jesus spricht ein Dankgebet über den Broten und Fischen.

·         Das übriggebliebene Essen wird eingesammelt: zwölf Körbe voller Brot.

 

Allerdings weicht das Johannesevangelium an einigen Stellen vom (älteren) Bericht des Markusevangeliums ab:

·         Die Verknüpfung mit den vorangegangenen Ereignissen ist eine andere.

·         Das Volk kommt wegen der „Zeichen“ zu Jesus.

·         Von einer Predigt Jesu ist nicht die Rede. Es geht „nur“ um das Speisungswunder.

·         Jesus spricht das Versorgungsproblem von sich aus an.

·         Die fünf Brote und zwei Fische stammen von einem „Knaben“.

·         Jesus selbst teilt Brot und Fische aus.

·         Jesus gibt den Befehl zum Einsammeln der Reste.

·         Die Menge möchte Jesus zum „König“ machen, so dass Jesus sich ihnen entziehen muss.

 

(1) Der Übergang überrascht. Schauplatz des im fünften Kapitel Konflikts war Jerusalem. Hier aber ist davon die Rede, dass Jesus an das „andere Ufer des Galiläischen Meeres“ geht – was doch bedeutet, dass er sich zu Beginn der Ereignisse am See Genezareth befindet (vermutlich in der Nähe von Kapernaum, weil sein Jünger und er nach der Speisung der 5.000 dorthin zurückkehren, vgl. 6,17.24f.59).

 

Diese Unstimmigkeit ist einer der Hauptgründe dafür, die Reihenfolge der Kapitel 5 und 6 nicht für ursprünglich zu halten. Allerdings ist das nicht zwingend: „Wenn man die jetzige Reihenfolge der Kapitel 5 und 6 für die ursprünglich hält, kann dafür nur geltend gemacht werden, dass es dem Evangelisten nicht so sehr auf die genaue chronologische Ordnung ankam als vielmehr auf die Durchführung der seine Darstellung bestimmenden Grundideen. Es lag offenbar in seiner Absicht, jetzt von Jesus als dem Brot des Lebens zu sprechen. Das konnte er aber nur in Anschluss an das Speisungswunder tun, das in Galiläa geschah. Deshalb musste er Jesus dorthin zurückkehren lassen.“ (Schneider, 137).

 

Der Evangelist weist darauf hin, dass das Galiläische Meer auch „See von Tiberias“ genannt wird (V.1 wörtlich: „Danach ging Jesus weg an das Jenseitige des Sees Galiläas von Tiberias.“). Im NT wird der See Genezareth nur hier und in Joh 6,23; 21,1 so genannt. „Tiberias“ war der Name einer am Westufer des Sees gelegenen Stadt, die der Provinzkönig Herodes Antipas 26/27 n. Chr. zur Ehre des Kaisers Tiberius hatte bauen lassen.

 

(2-4) Auf seinem Weg zum anderen Ufer des Sees folgt ihm „viel Volk“. Grund dafür ist, dass sie die „Zeichen“ (vgl. zu 2,11) gesehen haben, die er „an den Kranken“ getan hat. Nun war bisher nur in 4,46-54 von einer Krankenheilung in Galiläa die Rede – und auch bei der gab es nicht viel zu sehen, weil es sich um eine „Fernheilung“ handelte. Möglicherweise aber haben Pilger aus Galiläa die Zeichen Jesu, die er anlässlich des Passafestes vollbracht hat, gesehen (2,23).

 

Auf der anderen Seite des Sees angekommen, steigt Jesus auf einen Berg. Berge sind typischen Orte der Gottesoffenbarung (z.B. 2 Mos 19,18ff.; 1 Kön 19,11; Mt 5,1; Mk 9,2).

 

Bevor das Wunder berichtet wird, wird noch der Zeitpunkt der Ereignisse genannt: „Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden“ (vom „Passa“ ist im Johannesevangelium noch in 2,13.23; 11,55; 12,1; 13,1 die Rede, von einem nicht näher bestimmten „Fest der Juden“ in 5,1 und dem „Laubhüttenfest der Juden“ in 7,2). Warum dieser Hinweis? Soll er auf später genannte Motive der Erzählung vorbereiten? Handelt es sich bei der Volksmenge um Festpilger? Will Jesus gar eine eigene Passafeier durchführen. Der Grund für diesen Hinweis bleibt unklar – und auch eine „Zeitangabe ohne hintergründige Tiefe“ ist denkbar (Schneider, 139).

 

(5-9) Als Jesus „viel Volk“ auf sich zukommen sieht, fragt Jesus seinen Jünger Philippus (1,43-45): „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“  Der Bericht betont sogleich, dass Jesus natürlich „wusste …, was er tun wollte“ (vgl. 13,3) – womit die Souveränität Jesu unterstrichen wird – und erklärt seine Frage zu einem Test.

 

Philippus besteht den Test nicht. Er geht gar nicht auf die Frage „wo kaufen wir Brot?“ ein, sondern verweist auf die ökonomischen Tatsachen, die diese Frage überflüssig macht: die 200 Silbergroschen (1 Silbergroschen ist der übliche Tageslohn, Mt 20,2), über die sie vermutlich verfügen, reichen hinten und vorn nicht, so dass man gar nicht überlegen muss, wo es Brot zu kaufen gibt.

 

Nicht viel anderes reagiert Andreas (1,1,35-42). Er weist darauf hin, dass sie lediglich über „fünf Gerstenbrote und zwei Fische“ verfügen, die ein „Knabe“ dabei hat. „Gerstenbrote“ sind die Nahrung der Armen (vgl. Offb.6,6).

 

Der Hinweis auf die Gerstenbrote erinnert an das in 2 Kön 4,42-44 geschilderte Speisungswunder des Propheten Elisa: „(42) Es kam aber ein Mann von Baal-Schalischa und brachte dem Mann Gottes Erstlingsbrot, nämlich zwanzig Gerstenbrote, und neues Getreide in seinem Beutel. Er aber sprach: Gib's den Leuten, dass sie essen! (43) Sein Diener sprach: Wie soll ich davon hundert Mann geben? Er sprach: Gib den Leuten, dass sie essen! Denn so spricht der HERR: Man wird essen und es wird noch übrig bleiben. (44) Und er legte es ihnen vor, dass sie aßen; und es blieb noch übrig nach dem Wort des HERRN.“

 

„Ein enormer Graben tut sich zwischen Jesus und seinen Jüngern auf. Die Reaktion der Jünger, die sich auf gängige Erfahrungen und herkömmliche Beschaffungsmethoden beruft, zeigt, dass sie nicht in der Lage sind, eine der Frage angemessene Antwort zu geben oder sich vorzustellen, was Jesus ihnen und der Menschenmenge geben könnte. Jesus allein kennt also das Bedürfnis der Menschen und kann darauf angemessen reagieren.“ (Zumstein, 246).

 

(10-11) Auf die zögerlichen Antworten seine Jünger reagiert Jesus mit einem Befehl, der ebenso sinnlos erscheint, wie sein Befehl an die Diener bei der Hochzeit zu Kana (2,7: „Jesus spricht zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! …“): „Lasst die Leute sich lagern.“ Und dann nimmt er die Brote, spricht das Dankgebet über ihnen und teilt aus. Ebenso macht er es mit den Fischen. Alle bekommen so viel sie wollen.

 

Umstritten ist, ob bereits die Worte „Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie …“ an die Feier des Abendmahls erinnern wollen. Tatsächlich heißt es in den Einsetzungsworten zum Abendmahl:

Mk 14,23

Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus.

1 Kor 11, 23-24

(23) Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, (24) dankte und brach's und sprach: …

 

Fest steht: Im Unterschied zum Bericht des Markusevangeliums ist hier davon die Rede, dass Jesus selbst Brot (und Fische) austeilt (s.o.). Das kann Ausdruck einer christozentrischen Grundüberzeugung des Evangelisten sein (Schnackenburg II, 23).

 

(12-13) Nachdem alle satt sind, befiehlt Jesus seinen Jüngern, die „übrigen Brocken“ einzusammeln. Das Aufsammeln von Brotkrümeln ab Größe einer Olive gilt als jüdische Tischsitte (Wengst, 190, mit Hinweis auf mBer 8,4; bBer 52b).

 

Welchen Sinn aber hat diese Maßnahme dann? Geht es um den respektvolle Umgang mit dem geweihten Brot des Abendmahls? (Schnelle, 161). Oder liegt ein Bezug zu 6,39 („… dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat …“) und das Einsammeln der Brocken ist „Symbol der Einheit der Gemeinde, ‚damit nichts verloren gehe‘“ (Wengst, 191)? Für die zweite Deutung spricht, dass „zwölf Körbe mit Brocken“ eingesammelt werden – womit entweder auf die zwölf Stämme des Volkes Gottes oder die zwölf Jünger als Repräsentanten des neuen Israel angespielt wird.

 

Gleichzeitig dient diese Verse dazu, das Wunder – das ja nicht weiter beschrieben wird – festzustellen. Sie „bringen … die Größe des Wunders zu Bewusstsein …: „nachdem alle gesättigt sind, ist noch mehr übrig geblieben, als vorher zur Verfügung stand!“ (Bultmann, 157).

 

(14-15) Aufgrund dieses Wunders hält das Volk Jesus für den verheißenen Propheten und will ihn zum König machen.

 

Was aber meint das Volk, wenn es sagt: „Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“? Zunächst liegt es nahe, dabei an die in 5 Mos 18 verheißene Gestalt zu denken:

5 Mos 18,15

Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen.

5 Mos 18,18

Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde.

 

Dass er „in die Welt kommen soll“ meint aber vermutlich, dass er seinen Ursprung außerhalb dieser Welt hat.  Das zeigt ein Blick auf die Texte des Johannesevangeliums, in denen von einem In-die-Welt-Kommen Jesu die Rede ist:

3,19

Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.

9,39

Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.

11,27

Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

12,46

Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.

16,28

Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.

18,37

Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.

Der Zusatz „der in die Welt kommen soll“ drückt daher aus, „dass dieser Prophet nicht irdischer, sondern himmlischer Herkunft ist: Es geht um den Gesandten Gottes.“ (Zumstein, 248).

 

Weil das Volk in ihm den von Gott kommenden Propheten sieht, will es ihn „zum König machen“. Offenbar gab es „im Judentum (…), wenigstens in bestimmten Kreisen, die Anschauung von Moses als dem idealen König und zugleich dem hervorragenden Propheten.“ (Schnackenburg II, 26). Jesus aber lehnt es ab, sich vom Volk zum König erheben zu lassen und zieht sich zurück.

 

Von Jesus als König ist an folgenden Stellen des Johannesevangeliums die Rede:

1,49

Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

12,13

nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!

18,33-39

(33) Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König? (34) Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir's andere über mich gesagt? (35) Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? (36) Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier. (37) Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. (38) Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. (39) Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe?

19,12-21

(12) Von da an trachtete Pilatus danach, ihn freizulassen. Die Juden aber schrien: Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser. (13) Da Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus heraus und setzte sich auf den Richterstuhl an der Stätte, die da heißt Steinpflaster, auf Hebräisch Gabbata. (14) Es war aber der Rüsttag für das Passafest, um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Juden: Sehet, euer König! (15) Sie schrien aber: Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. (16) Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, (17) und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. (18) Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. (19) Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. (20) Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. (21) Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König.

Diese Verse zeigen, dass Jesus die Bezeichnung „König“ nicht rundweg ablehnt, sein Königtum aber doch auf eine besondere Weise versteht – jedenfalls anders als das Volk. „Die Menschen hatten im Brotwunder eine königliche Handlung gesehen, doch haben sie den König, zu dem sie kommen und zu ihrem Vorteil in Beschlag nehmen wollten, in gewöhnlichen politischen Kategorien wahrgenommen. Er wurde mit einem mächtigen Potentaten identifiziert, der die Fähigkeit besitzt, sein Volk zu befreien und zu ernähren.“ (Zumstein, 248f.).

 

„Liest man die hier beschriebene Reaktion Jesu im Zusammenhang mit der Speisung im zeitgeschichtlichen Kontext, wird eine ganz andere Polemik erkennbar, nämlich gegen die Praxis von Kaiser, Königen und anderen Potentaten, ihre Herrschaft durch Spenden von Nahrungsmitteln zu legitimieren.“ (Wengst, 192).

 

Jesus entzieht sich der Menge „aus zwei Gründen. Zunächst ist er zwar König (vgl. 1,49), aber nicht in dem Sinn, den die Menschen dieser Rolle zusprechen, sondern so, wie es in der Erzählung vom Einzug in Jerusalem (12,12-19) und in der Passionsgeschichte (vgl. 18,36-38) vorgezeichnet werden wird. Außerdem steht es dem Volk nicht zu, ihm eine Rolle aufzuzwingen, sondern … es ist der joh Jesus selbst, der offenbart, wer er ist.“ (Zumstein, 249).

 

 

 

4.2.2   Jesus auf dem Meer und am anderen Ufer des Sees (6,16-25)

 

(16) Am Abend aber gingen seine Jünger hinab an das Meer, (17) stiegen in ein Boot und fuhren über das Meer nach Kapernaum. Und es war schon finster geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen. (18) Und das Meer wurde aufgewühlt von einem starken Wind. (19) Als sie nun etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gerudert waren, sahen sie Jesus auf dem Meer gehen und nahe an das Boot kommen; und sie fürchteten sich. (20) Er aber spricht zu ihnen: Ich bin's; fürchtet euch nicht! (21) Da wollten sie ihn ins Boot nehmen; und sogleich war das Boot am Land, wohin sie fahren wollten.

 

Auch der Bericht über „Jesus auf dem Meer“ findet sich auch in den anderen Evangelien – und zwar auch im Anschluss an die Speisung der 5.000. Im Vergleich zeigen sich viele Übereinstimmungen, aber auch einige Unterschiede.

Mk 6,45-52

Joh 6,16-21

(45) Und alsbald trieb er seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren nach Betsaida, bis er das Volk gehen ließe. (46) Und als er sich von ihnen getrennt hatte, ging er hin auf einen Berg, um zu beten. (47) Und am Abend war das Boot mitten auf dem Meer, und er war an Land allein. (48) Und er sah, dass sie sich abplagten beim Rudern - denn der Wind stand ihnen entgegen -, da kam er um die vierte Nachtwache zu ihnen und wandelte auf dem Meer und wollte an ihnen vorübergehen. (49) Als sie ihn aber auf dem Meer wandeln sahen, meinten sie, es wäre ein Gespenst, und schrien; (50) denn sie sahen ihn alle und erschraken. Aber sogleich redete er mit ihnen und sprach zu ihnen: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! (51) Und er stieg zu ihnen ins Boot, und der Wind legte sich. Und sie entsetzten sich über die Maßen; (52) denn sie waren um nichts verständiger geworden angesichts der Brote, sondern ihr Herz war erstarrt.

(16) Am Abend aber gingen seine Jünger hinab an das Meer, (17) stiegen in ein Boot und fuhren über das Meer nach Kapernaum. Und es war schon finster geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen. (18) Und das Meer wurde aufgewühlt von einem starken Wind. (19) Als sie nun etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gerudert waren, sahen sie Jesus auf dem Meer gehen und nahe an das Boot kommen; und sie fürchteten sich. (20) Er aber spricht zu ihnen: Ich bin's; fürchtet euch nicht! (21) Da wollten sie ihn ins Boot nehmen; und sogleich war das Boot am Land, wohin sie fahren wollten.

Die Gemeinsamkeiten:

·         Die Jünger sind ohne Jesus auf dem Meer unterwegs.

·         Es kommt ein starker Wind auf.

·         Jesus geht auf dem Meer.

·         Jesus spricht zu ihnen: „Ich bin’s. Fürchtet euch nicht!“

 

Abweichungen im Johannesevangelium:

·         Die Jünger steigen ohne Anweisung Jesu ins Boot.

·         Die Jünger setzen nach Kapernaum über.

·         Sie erkennen Jesus sofort bzw. halten ihn nicht für ein Gespenst.

·         Es wird nicht gesagt, dass Jesus ins Boot steigt und der Sturm sich legt, sondern dass das Boot „sogleich … am Land“ war.

·         Jesus bewertet das Verhalten der Jünger nicht.

 

(16-18) Als die Menge ihn zum König machen will, entweicht Jesus „auf den Berg“ – und zwar „er allein“ (6,15). Weil Jesus bis zum Abend „noch nicht zu ihnen gekommen“ ist, gehen sie hinunter ans Meer und steigen in ein Boot, um nach Kapernaum überzusetzen. Da wird das Meer von einem „starken Wind“ aufgewühlt.

 

(19-20) Als die Jünger sich in der Mitte des Sees befinden – „fünfundzwanzig oder dreißig Stadien“ entsprechen ca. 5 Kilometern – sehen „sie Jesus auf dem Meer gehen und nahe an das Boot kommen“. Sie fürchten sich – eine Reaktion auf eine göttliche Erscheinung (vgl. Lk 2,9). Jesus erklärt ihnen: „Ich bin’s“ und fügt – wie es auch bei anderen göttlichen Erscheinungen geschieht – hinzu: „Fürchtet euch nicht!“  

 

Jesus Aussage „Ich bin’s“ steht im Johannesevangelium im Zusammenhang mit Aussage über seine Göttlichkeit:

8,24

So habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.

8,28

Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir aus tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich.

8,58

Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich.

13,19

Schon jetzt sage ich's euch, ehe es geschieht, damit ihr, wenn es geschehen ist, glaubt, dass ich es bin.

„Durch diese doppelte Aussage [„Ich bin's; fürchtet euch nicht!“] beschreibt sich Jesus also selbst als vollkommen eins mit Gott.“ (Zumstein, 252).

 

(21) Die Jünger wollen Jesus „ins Boot nehmen“. Aber „sogleich“ befindet sich „das Boot am Land“. Ein weiteres Wunder ist geschehen.

 

 

(22) Am nächsten Tag sah das Volk, das am andern Ufer des Meeres stand, dass kein anderes Boot da war als das eine und dass Jesus nicht mit seinen Jüngern in das Boot gestiegen war, sondern seine Jünger waren allein weggefahren. (23) Es kamen aber andere Boote von Tiberias nahe zu der Stätte, wo sie das Brot gegessen hatten, nachdem der Herr die Danksagung gesprochen hatte. (24) Als nun das Volk sah, dass Jesus nicht da war und seine Jünger auch nicht, stiegen sie in die Boote und kamen nach Kapernaum und suchten Jesus. (25) Und als sie ihn fanden am andern Ufer des Meeres, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hergekommen? 

 

(22-24) Das Volk, das sich noch am anderen Ufer des Sees Genezareth befindet, hat mitbekommen, dass die Jünger ohne Jesus abgefahren sind, und entdeckt am nächsten Morgen, dass neben dem Boot, das die Jünger bestiegen haben, kein anderes Boot zur Verfügung stand. Dann aber kommen ganz in ihrer Nähe andere Boote „von Tiberias“ vorbei. Sie nutzen diese Mitfahrgelegenheit und kommen nach Kapernaum und suchen Jesus.

 

Auch wenn der Bericht nicht auf den ersten Blick verständlich ist, liegt hier auch folgende „einigermaßen durchsichtige Situation vor: Die Volksmenge war, nachdem Jesus und schließlich auch die Jünger den Platz der Speisung verlassen hatten, allein zurückgeblieben. Ein Teil mag noch in der Nacht aufgebrochen und auf dem Landwege heimgekehrt sein. Die anderen dagegen machten sich erst am folgenden Morgen auf den Weg zum Ufer und hielten nach einer Möglichkeit Ausschau, mit Booten nach Kapernaum zu gelangen. Dort machten sie die Feststellung, dass das Boot, mit dem Jesus und die Jünger gekommen waren, nicht mehr an seinem Platze war. Da ergab sich für sie durch Schiffe, die von Tiberias aus unterwegs waren, die Gelegenheit, Jesus und die Jüngern zu folgen. Warum diese Boote gerade den Weg zu den am Ufer wartenden Leuten fanden, wird nicht erklärt. Das ist eine etwas mysteriöse Angelegenheit. Oder soll das als eine wunderbare Fügung verstanden werden? Jedenfalls gelangte die ‚Menge‘ – sie wird nicht mehr allzu große gewesen sein – nach Kapernaum, wo sie Jesus sucht und fand und ihn mit der Frage bestürmte: ‚Wann bist du hierhergekommen?‘ Diese neue Begegnung gibt Jesus den Anlass, das Speisungswunder in einem tieferen Sinn zu deuten.“ (Schneider, 143f.).

 

(25) Und tatsächlich: Sie finden Jesus „am anderen Ufer des Meeres“ und wollen das Rätsel seines Verschwindens vom Ort des Brotwunders bzw. seines Kommens nach Kapernaum lösen. Dass Jesus auf dem See gegangen ist, haben sie ja nicht mitbekommen.

 

 

 

4.2.3   Die Brotrede (6,26-59)

 

Über die Gliederung der Brotrede Jesus gibt es unter Bibelauslegern keinen Konsens. Das liegt vor allem daran, dass klare Indizien für den Beginn und das Ende eines Abschnitts fehlen. Im Folgenden orientiere ich mich am Vorschlag von Wengst (Wengst, 197).

 

 

Die Menge, die Zeugen des Brotwunders geworden ist, fragt Jesus, wann er nach Kapernaum gekommen ist. In seiner Antwort spricht Jesus aber von den Gründen, die sie bewegt haben, zu ihm zu kommen. Er bewertet diese Gründe und zeigt, worauf es wirklich ankommt.

 

(26) Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid. (27) Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist, sondern um Speise, die da bleibt zum ewigen Leben. Dies wird euch der Menschensohn geben; denn auf ihm ist das Siegel Gottes des Vaters. (28) Da fragten sie ihn: Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken? (29) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. 

 

Bereits in diesem ersten Teil der Brotrede tauchen zahlreiche Schlüsselbegriffe späterer Abschnitte auf:

·          Speise: vgl. 6,55

·          ewiges Leben: 6,40.47.54

·          Menschensohn: 6,53

·          wird geben: 6,51

Das ist ein Indiz für die Einheit der Brotrede.

 

(26-27) Jesus weist seine Zuhörer – mit der Autorität einer Offenbarung („wahrlich, wahrlich, ich sage euch …“, vgl. zu 1,51) – darauf hin, dass sie ihn nur deshalb suchen, weil sie „von dem Brot gegessen“ haben und „satt geworden“ sind – und nicht, weil sie „Zeichen“ (vgl. zu 2,11) gesehen haben. Er kritisiert, „dass sie den Zeichencharakter seines Handelns nicht erkannt hätten, … dass sie dessen Sättigungscharakter schon für alles hielten und ihn so gleichsam als einen Geber von ‚Brot und Spielen‘ ansähen.“ (Wengst, 198).

 

Anstatt nach vergänglicher Speise Ausschau zu halten, sollen sie sich um eine bleibende „Speise“  bemühen (ἐργάζεσθαι) – um eine „Speise, die da bleibt zum ewigen Leben“. Ähnlich hat er sich im Gespräch mit der samaritanischen Frau ausgedrückt (4,13-14: „(13) Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; (14) wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“).

 

Wer gibt die in das ewige Leben hinein bleibende Speise? „Der Menschensohn“ . Mit diesem Begriff ist eine Gestalt gemeint, die vom Himmel herabgestiegen ist und zum Himmel hinaufsteigt (vgl. zu 3,13). An dieser Stelle ist gemeint: „Nur wer vom Himmel kommt, kann das Brot geben, das das ewige Leben mit sich bringt.“ (Zumstein, 257). Warum ist das so? „Denn auf ihm ist das Siegel Gottes des Vaters.“  Das Siegel dient zur Beglaubigung. Der vom Himmel kommende Menschensohn ist von Gott beglaubigt.

 

(28-29) Die Zuhörer fragen nach: „Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken?“ Der Begriff „Gottes Werke“ „meint die Taten, von denen Gott will, dass sie getan werden“ (Wengst, 200).

 

Manche Bibelausleger vermuten hinter dieser Frage ein Missverständnis der Gesprächspartner Jesu. Weil V. 27 vom Mühen (ἐργάζεσθαι) um unvergängliche Speise die Rede war, hätten sie ihn fälschlicherweise so verstanden, dass er von Werken (ἔργα) spricht, die Gott von ihnen fordert – und fragen deshalb, welche Werke denn seiner Meinung nach zu tun seien (z.B. Schnackenburg II, 51; Schneider, 147; anders: Wengst, 199f.).

 

Jesus aber geht direkt auf ihre Frage ein, so dass es sich hier kaum um ein Missverständnis handelt. Seine Zuhörer bitten Jesus um eine „Präzisierung“ (Wengst, 200). Seine Antwort lautet: Bei Gott kommt es nur auf ein „Werk“ an – dass man „an den glaubt, den er gesandt hat“. Dieser Glaube „ist die einzige und unerlässliche Voraussetzung für den Empfang der Speise, die bis ins ewige Leben bleibt.“ (Schneider, 147).

 

 

Weil das einzige „Werk“, das Gott fordert, der Glaube an ihn als den von Gott Gesandten, ist, fordern sie von Jesus ein Beglaubigungszeichen und verweisen dabei auf das Manna, auf das „Brot vom Himmel“. Jesus knüpft daran an – indem er erklärt, was es mit dem „Brot vom Himmel“ auf sich hat.

 

(30) Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, auf dass wir sehen und dir glauben? Was wirkst du? (31) Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.« (32) Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. (33) Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. (34) Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot. (35) Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. 

 

(30-31) Das Volk fragt sich nicht mehr, was es selbst zu tun hätte, sondern was Jesus tut, damit sie ihm bzw. seinem Anspruch glauben können: „Was tust du für ein Zeichen, auf dass wir sehen und dir glauben? Was wirkst du?“ 

 

Zur Verdeutlichung ihrer Forderung verweisen sie auf das Mannawunder und erklären: „Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: ‚Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.‘“ 

 

Das Schriftzitat findet sich nicht wörtlich in der Bibel; es handelt sich vermutlich vielmehr um eine Kombination bzw. eine leicht veränderte Form folgender Texte:

2 Mos 16,4

Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen und täglich sammeln, was es für den Tag bedarf, dass ich's prüfe, ob es in meinem Gesetz wandle oder nicht.

2 Mos 16,15

Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: Man hu? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat.

Neh.9,15

und hast ihnen Brot vom Himmel gegeben, als sie hungerte, und Wasser aus dem Felsen fließen lassen, als sie dürstete, und ihnen geboten, sie sollten hingehen und das Land einnehmen, über das du deine Hand zum Schwur erhobst, es ihnen zu geben.

Ps 78,24

und ließ Manna auf sie regnen zur Speise und gab ihnen Himmelsbrot.

Ps 105,40

Sie baten, da ließ er Wachteln kommen, und er sättigte sie mit Himmelsbrot.

 

Das Manna-Wunder ist Maßstab für die Legitimation Jesu. Sie erwarten, „ dass er das Mannawunder (…) neu vollbringt und ihnen Brot vom Himmel gibt, damit sie ständige Sättigung erfahren und der Sorge um das tägliche Brot enthoben werden. Jesus soll also das erste Wunder [die Speisung der 5.000] durch ein zweites und größeres überbieten.“ (Schneider, 148).

 

„Hinter der Forderung der Menge steht die jüdische Anschauung, dass der zweite Erlöser (der Messias) das Wunder des ersten Erlösers (Mose) wiederholen wird. Nach rabbinischer Auffassung ist das Manna, das der Messias vom Himmel herabbringt, geradezu ein Symbol der zukünftigen Heilszeit.“ (Schneider, 148; vgl. StrBill II, 481; Offb.2,17: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem will ich geben von dem verborgenen Manna …“)

 

(32-33) Wie antwortet Jesus ihnen? „Mit feierlicher Beteuerung, um auf den Offenbarungscharakter aufmerksam zu machen, trägt Jesus, genau nach dem Wortlaut des Zitats, seine neue Deutung vor. Sie enthält gegenüber dem Zitat drei neue Aussagen: (1) nicht Moses, sondern mein Vater; (2) nicht: er hat gegeben, sondern: er gibt; (3) das ‚Brot aus dem Himmel‘, das der Vater Jesus gibt, ist das wahre und wirkliche (…) Brot.“ (Schnackenburg II, 55)

 

Zur Begründung erklärt Jesus, dass nur das Brot, dass jetzt der „Vater gibt“, wirklich „vom Himmel kommt“ und deshalb „der Welt das Leben gibt“.

 

„Der Leser begreift, dass das Brot aus dem Himmel und das Kommen Jesu ein und dasselbe Geschehen sind. Allerdings bleibt der Text im Modus der Andeutung, da die Identifikation mit der Person Jesu noch nicht explizit vollzogen wird.“ (Zumstein, 260).

 

(34) „Das Volk versteht die Andeutung, die in dem Wort Jesu liegt, nicht. Es hat, noch ganz in den überkommenen Manna-Vorstellungen befangen, nur begriffen, dass Jesus ein Brot kennt, das ihnen ständig zur Verfügung steht. Darum bitten sie ihn, ihnen dieses Brot allezeit zu spenden.“ (Schneider, 148f.).

 

Die Worte des Volkes erinnern an die Aussage der samaritanischen Frau, mit der sie auf das Angebot des „lebendigen Wassers“ reagiert: „… Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen!“ (4,15).

 

(35) Dann endlich stellt Jesus klar, dass der, den sie bitten, ihnen Brot zu geben, selbst das Brot ist, von dem hier die Rede ist, und erklärt: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Damit ist der Höhepunkt des Abschnitts erreicht, was sich auch daran zeigt, dass diese Aussage in 6,41.48.51 wiederholt wird.

 

Im Johannesevangelium finden sich noch weitere Aussagen nach dem Schema „Ich bin …“:

·          8,12: „Ich bin das Licht der Welt …“ (vgl. 9,5).

·          10,7.9: „Ich bin die Tür …“.

·          10,11.14: „Ich bin der gute Hirte …“.

·          11,25: „Ich bin die Auferstehung und das Leben …“.

·          14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben …“.

·          15,1.5: „Ich bin der Weinstock …“.

Diese Aussagen „bringen Christologie und Soteriologie miteinander in Verbindung, indem sie präzisieren, was Jesus, das Angesicht Gottes, für die Welt, für diejenigen bedeutet, die ihm begegnen.“ (Zumstein, 263f.; vgl. Schnelle, 169).

 

Was Jesus, das „Brot des Lebens“, für alle, die ihn annehmen, bedeutet, zeigt der zweite Teil des Verses: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (vgl. 4,14: „wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“; 7,37: „Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“).

 

 

Der Anspruch Jesu ist klar: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Aber das Volk glaubt ihm nicht. Deshalb geht es im Folgenden um die Ursache des Glaubens und des Unglaubens.

 

(36) Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht. (37) Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. (38) Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. (39) Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage. (40) Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage. (41) Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, 42 und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel gekommen? (43) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Murrt nicht untereinander. (44) Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage. (45) Es steht geschrieben in den Propheten (Jesaja 54,13): »Sie werden alle von Gott gelehrt sein.« Wer es vom Vater hört und lernt, der kommt zu mir. (46) Nicht dass jemand den Vater gesehen hätte; nur der, der von Gott ist, der hat den Vater gesehen. 

 

(36) Jesus erinnert sie daran, dass er es ihnen schon einmal gesagt hat: „Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.“ Damit dürfte er sich auf Vers 26 beziehen: „Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid.“ Sie haben die Speisung der 5.000 erlebt, aber nicht das tiefere Zeichen darin gesehen und sich deshalb auch nicht zum Glauben an Jesus durchgedrungen.

 

(37-40) An Jesus glauben bzw. zu ihm kommen nur diejenigen, die der „Vater“ ihm gegeben hat (vgl. 10,29: „Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen.“; 17,6: „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt.“; 17,9: „Ich bitte für sie. Nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, die du mir gegeben hast, denn sie sind dein.“). Das bedeutet indirekt: dass Menschen zu Jesus kommen und an ihn glauben, beruht nicht auf ihrem eigenen Entschluss – sondern eben auf der Initiative des Vaters.

 

Daneben ist noch eine zweite Aussage wichtig: Wer aufgrund der Initiative des Vaters zu Jesus kommt, den wird er „nicht hinausstoßen“

 

Warum nicht? Schon deshalb nicht, weil er nicht gekommen ist, seinen eigenen Willen durchzusetzen; er ist gekommen, um den Willen seines Vaters zu tun, der ihn gesandt hat. Und der Wille seines Vaters ist eben, dass der von ihm Gesandte nichts bzw. niemanden verlieren soll – was konkret bedeutet, dass er alle, die ihm von Gott gegeben wurden, am „Jüngsten Tage“ von den Toten auferwecken wird.

 

Was bisher vom Willen Gottes im Hinblick auf seinen Sohn die Rede, spricht Jesus in Vers 40 von Willen seines Vaters hinsichtlich derer, die an ihn glauben. Er will, dass sie „das ewige Leben“ haben – und deshalb wird er alle, die an ihn glauben, „auferwecken am Jüngsten Tage“.

 

(41-42) Nun werden die Gesprächspartner Jesu als „die Juden“ bezeichnet. Sie „murren“ über Jesus – was an das Verhalten Israels in der Wüste erinnert (2 Mos 15,24; 16,2; 17,3; 4 Mos 14,2; Ps 106,25) – „weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist“ (vgl. 6,33.35.38). Diesem Anspruch halten sie seine menschliche Herkunft entgegen.

 

(43-46) Jesus ruft seine Kritiker dazu auf, nicht zu murren. Aber er verzichtet darauf, auf das Argument der Murrenden – sein menschliche Herkunft – einzugehen. Anstatt „die Wahrhaftigkeit seiner göttlichen Herkunft zu beweisen“, beschreibt er „die zu ihrer Wahrnehmung richtig Haltung. Das bedeutet: Das Problem liegt nicht in der von ihm beanspruchten Identität, sondern in der seiner Opponenten.“ (Zumstein, 267). Jesus nennt die Voraussetzung für die Erkenntnis seines Anspruchs – und das ist die göttliche Erwählung.

 

Zu Jesus kommt bzw. an Jesus glaubt nur der, den der Vater „zieht“ (vgl. 6,37). „Es liegt nicht in der Macht des Menschen, in der Person Jesu den Gesandten Gottes zu erkennen. Allein die Initiative des Gottes Jesu kann den Menschen für den Glauben öffnen, indem er ihn zum Heil prädestiniert (…). Der Glaube liegt nicht in der Entscheidungsmacht des Menschen, sondern bleibt ein Geschenk.“ (Zumstein, 267f.). Wer auf diese Weise zu Jesus kommt, den wird er „auferwecken am Jüngsten Tage“ (vgl. 6,39-40).

 

Das „Ziehen des Vaters“ geschieht dadurch, dass er die Menschen belehrt. In diesem Sinne hat der Prophet Jesaja von einer Zeit gesprochen, in der „alle von Gott gelehrt“ sein werden (Jes 54,13, LXX-D: „und alle deine Söhne zu von Gott Belehrten …“). Die Folge ist: Jeder, der „es vom Vater hört und lernt“ , kommt zu Jesus.

 

Um Missverständnisse zu vermeiden, stellt Jesus klar. Dass Menschen von Gott „hören und lernen“, bedeutet nicht, „dass jemand den Vater gesehen hätte“. Das hat nur der getan, „der von Gott ist“ – Jesus Christus (vgl. 1,18: „Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.“).

 

 

Nach dem „Exkurs“ über die Ursache des Glaubens und des Unglaubens geht es um die Verheißung, die mit dem Glauben an Jesus verbunden ist: das ewige Leben.

 

(47) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. (48) Ich bin das Brot des Lebens. (49) Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. (50) Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. (51) Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt. 

 

(47) Mit der Beteuerung „wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ setzt Jesus neu an und stellt klar, was auf dem Spiel steht: „Wer glaubt, der hat das ewige Leben.“ Ähnlich hatte er sich schon in 6,29.35.40 ausgedrückt. Nun aber formuliert er es noch direkter.  Gemeint ist natürlich nicht einfach eine gläubige Haltung, sondern der Glaube an Jesus (6,29: „… dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“; 6,35: „… und wer an mich glaubt …“; 6,40: „… und glaubt an ihn …“).

 

(48-51a) Warum hat derjenige, der an Jesus glaubt, das „ewige Leben“? Weil Jesus das „Brot des Lebens“ ist (vgl. 6,35). Das Manna hat denen, die es gegessen haben, kein ewiges Leben geschenkt. Alle, die „in der Wüste das Manna gegessen“ haben (vgl. 6,31-32), „sind gestorben“. Hier aber geht es um „das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe“ (vgl. 6,33: „Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.“). Dazu stellt Jesus unmissverständlich fest: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist.“

 

(51b-c) Weil Jesus „das lebendige Brot“ ist, ist es entscheidend, von diesem Brot zu essen. Vom Essen war zwar bereits die Rede (6,31.49.50). Jetzt aber wird unmissverständlich klar gestellt: nur wer „von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“.

 

Auch das „lebendige Brot“, dass Jesus den Menschen zu essen gibt, wird jetzt konkretisiert: „Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt.“ 

 

Mit „Fleisch“ ist die menschlich-kreatürliche Existenz gemeint (vgl. 1,13.14: „(13) die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. (14) Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“; 3,6: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist“). Dass Jesus sein Fleisch gibt, meint dementsprechend seinen leiblichen Tod.

 

Die Hingabe seines Fleisches, sein Tod am Kreuz, geschieht „für das Leben der Welt“ (vgl. 6,33: „Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.“).

 

 

 

Das Essen des Fleisches – und Trinken des Blutes – steht nun im Mittelpunkt des letzten Teils der Brotrede.

 

(52) Da stritten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? (53) Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht esst das Fleisch des Menschensohns und trinkt sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. (54) Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. (55) Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. (56) Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. (57) Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen. (58) Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. (59) Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum lehrte.

 

Nicht wenige Bibelausleger meinen, dass der letzte Teil sich entscheidend von den vorherigen Ausführungen unterscheidet und es sich daher um einen späteren Nachtrag des Evangelisten selbst handelt, oder um eine Ergänzung, die nicht aus der Hand des Evangelisten stammt.

 

Dabei werden i.d.R. folgende inhaltliche Akzentverschiebungen ins Feld geführt:

Brotrede abgesehen vom letzten Abschnitt

Letzter Abschnitt der Brotrede

Jesus ist das Brot

Fleisch und Blut Jesu ist das Brot

Gott schenkt das Brot

Jesus schenkt das Brot

Das „Essen“ ist metaphorisch gemeint

Das „Essen“ ist buchstäblich gemeint

Es geht um ein himmlisches Brot

Das Brot ist die inkarnierte Person Jesu und sein Tod

Der Glaube entscheidet

Das Tun des Glaubenden entscheidend – das Essen

 

Grund für die spätere Ergänzung sei das verstärkte Auftreten doketistischer Strömungen in Gemeinden des Johannes, die die tatsächliche Fleischwerdung des Sohnes Gottes ablehnten (vgl. Einleitung 2.3). Daher standen sie dem Abendmahl ablehnend gegenüber. Dazu bemerkt Ignatius: „Von der Eucharistiefeier und vom Gebet bleiben sie fern, weil sie nicht bekennen, dass die Eucharistie das Fleisch unseres Erlösers Jesus Christus ist, das für unsere Sünden gelitten, das der Vater in seiner Güte auferweckt hat …“ (Ignatius Sm 7,1; vgl. dazu Wengst, 213).

 

Es stellt sich jedoch die Frage, welches Ausmaß Akzentverschiebungen haben müssen, um als späterer Nachtrag zu gelten. Anders formuliert: Es wäre problematisch, vom Autor immer eine streng logische Gedankenführung (nach unseren Maßstäben!) zu erwarten.

 

(52) Die Aussage „und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt“ (6,51) führt zum Streit unter den jüdischen Gesprächspartnern: „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“

 

(53-54) Anstatt auf das „Wie“ einzugehen, bekräftigt Jesus, dass es heilsnotwendig ist, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Zunächst formuliert er negativ: „Wenn ihr nicht esst das Fleisch des Menschensohns und trinkt sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.“. Dann folgt eine positive Formulierung: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken“  (zur Auferweckung am Jüngsten Tag vgl. 6,39f.44).

 

(55-57) Im Folgenden begründet Jesus die Heilsnotwendigkeit von „Fleisch“ und „Blut“.

 

Zunächst: Es handelt sich um „wahre Speise“ bzw. „wahren Trank“. „Wahr“ ist hier i.S.v. „wirklich“ und „echt“ zu verstehen. „Fleisch“ und „Blut“ halten, was sie versprechen – was in diesem Zusammenhang nur heißen kann, dass sie ewiges Leben schenken.

 

Dann erläutert Jesus, was durch das Essen seines Fleisches bzw. Trinken seines Blutes geschieht: „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“  Es geht um Gemeinschaft bzw. „gegenseitige Inexistenz“ (Schnelle, 180). Daraus folgt: „Nicht das Essen und Trinken als solches ist bedeutsam, sondern die dadurch bewirkte bleibende Gemeinschaft mit Jesus; die sakramentale Verbindung wird zur personalen Union.“ (Schnackenburg II, 94).

 

Ähnliche Aussagen über das Bleiben bzw. die „gegenseitige Inexistenz“ finden sich auch an folgenden Stellen des Johannesevangeliums:

14,20-21

(20) An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch. (21) Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist's, der mich liebt. Wer mich aber liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.

15,4-7

(4) Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. (5) Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. (6) Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. (7) Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.

17,21-23

(21) dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. (22) Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, (23) ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.

 

Durch diese Beziehung haben Christen das ewige Leben. Dazu vergleicht Jesus die Beziehung zwischen ihm und denen, die sein Fleisch essen, mit der Beziehung, die zwischen seinem Vater und ihm besteht. Der „lebendige Vater“ hat ihn „gesandt“ und er lebt „um des Vaters willen“. Dementsprechend gilt: „wer mich isst“, der wird „leben um meinetwillen“. „Nach Analogie dieser Lebensweitergabe vom Vater zum Sohn und auf Grund der dadurch erlangten Lebensmächtigkeit (…) gibt auch der Sohn demjenigen Leben, der ihn in der Eucharistie empfängt.“ (Schnackenburg II, 96).

 

Interessanterweise ist hier nicht vom Essen seines Fleisches bzw. Trinken seines Blutes die Rede. Stattdessen sagt Jesus: „Wer mich isst …“. Auch das kann ein Indiz dafür sein, dass es nicht um die Elemente an sich, sondern um die Person Jesu geht.

 

(58) Die Rede endet mit einer kurzen Zusammenfassung. Sie besteht aus Formulierungen, die sich bereits in anderen Teilen der Rede finden:

Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist.

 

6,32-33: (32) Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. (33) Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.

6,41: Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist,

6,50-51: (50) Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. (51) Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch - für das Leben der Welt.

Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind.

6,49: Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben.

Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. 

 

6,50-51: (50) Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. (51) Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch - für das Leben der Welt.

 

„Trotz des vordergründigen Bezuges auf die Eucharistie wird damit auch auf die Bildrede zurückgegriffen; das Essen des eucharistischen Brotes ist letzte Verwirklichung jenes im Schriftzitat V 31 genannten Essens. Diese unverkennbare Klammer, die den eucharistischen Teil mit der Bildrede verbindet, wäre, falls sie von einer Redaktion stammt, sehr geschickt angebracht, erklärt sich aber leichter, wenn das ganze Stück von einer Hand stammt.“ (Schnackenburg II, 96).

 

(59) Die abschließende Notiz, die nicht mehr zur Rede gehört, nennt den Ort dieser Debatte: Die Synagoge von Kapernaum.

 

„Die Ortsangabe … zeigt, dass sich der joh Jesus öffentlich an das jüdische Volk insgesamt gewendet hat, um seine Botschaft bekannt zu machen (vgl. 18,20). Das joh Jesus hat seine ‚christozentrische Neuinterpretation‘ der Gründungsgeschichte vom Manna am Ort der traditionellen Glaubensunterweisung vorgetragen.“ (Zumstein, 276).

 

Welche Bedeutung hat das Abendmahl nach Johannes 6? Schnackenburg erklärt dazu:

„Die Eucharistie, die in der Gemeinde gefeiert wurde, ist so wenig wie die Taufe (…) ein selbständiges, aus dem Zusammenhang des Heilsgeschehens in Christus lösbares Heilsmittel oder Sakrament, sondern nur in engster Verbindung mit der Sendung des Gottessohnes, angefangen von der Inkarnation bis zum blutigen Kreuzestod und der Erhöhung und Verherrlichung, zu begreifen. Insofern steht Joh einem äußerlichen Mahlfeiern ähnlich kritisch gegenüber wie Paulus (1 Kor 10 und 11) …

Die sakramentalen Gaben (oder Elemente) von Brot und Wein, als solche nicht ausdrücklich erwähnt, sind nicht für sich genommen bedeutsam, sondern nur als Mittel, um mit Jesus zu verbinden. Statt ihrer werden gleich das Fleisch und das Blut des Menschensohnes genannt. Die beiden Termini, die aus der eucharistischen Sprache der joh. Gemeinde stammen dürften, erinnern an die sarkische Existenz und den Kreuzestod Jesu, der aber als der himmlische Menschensohn fortlebt und seiner Gemeinde gegenwärtig bleibt.“ (Schnackenburg II, 100ff.).

 

 

4.2..4  Die Wirkung der Rede: Spaltung unter den Jüngern und Bekenntnis des Petrus (6,60-71)

 

Nicht nur die Juden, auch viele der Jünger Jesu nehmen Anstoß an seiner Rede.

 

(60) Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?  (61) Da Jesus aber bei sich selbst merkte, dass seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: Nehmt ihr daran Anstoß?  (62) Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war? (63) Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben. (64) Aber es sind etliche unter euch, die glauben nicht. Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde. (65) Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben. (66) Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm. 

 

(60) Auch unter seinen Jüngern regt sich Protest gegen die Brotrede Jesu. Vermutlich stoßen sie sich an den gleichen Aussagen wie die Juden:

6,41-42

(41) Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, (42) und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel gekommen?

6,52

Da stritten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?

 

Die Frage „wer kann sie hören“ zeigt, dass sie die Rede Jesu als völlig unmöglich einschätzen.

 

(61-62) Jesus bleibt die Skepsis unter seinen Jüngern nicht verborgen (zur geheimnisvollen Menschenkenntnis Jesu vgl. 1,47-48; 2,23-25). Aber er versucht nicht, dass Anstößige seiner Rede zu erklären oder zu relativieren. Stattdessen fragt er die Skeptiker, wie sie reagieren wollen, wenn sie etwas noch Anstößigeres erleben – wenn sie den „Menschensohn“ (vgl. zu 3,13) „auffahren“ sehen „dahin, wo er zuvor war“

 

Mit „wo er zuvor war“ ist sicher seine Präexistenz im Himmel gemeint (vgl. 1,1-2.18; 8,58), mit dem „Auffahren“ des Menschensohns seine Himmelfahrt:

1,51

Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

3,13

Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn.

20,17

Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.

 

Das gibt Anlass zu der Vermutung, dass diese Jünger speziell am Gegenteil der Himmelfahrt Jesu Anstoß genommen haben – nämlich der Fleischwerdung des Sohnes Gottes in Jesus Christus (1,14). Seine Himmelfahrt wäre dann deshalb ein noch größeres Ärgernis für sie, weil derjenige, der „in den Himmel aufsteigt … zuvor aus der himmlischen Sphäre herabgestiegen sein“ muss (Schnelle, 186).

 

(63-65) Angesichts der ablehnenden Haltung eines großen Teils seiner Jünger spricht Jesus noch einmal über die Ursache des Glaubens und des Unglaubens (vgl. 6,36-46).

 

In diesem Zusammenhang verweist Jesus zunächst auf das Wirken des Geistes. Er macht „lebendig“. Das meint hier, „dass allein der Geist … ein rechtes Verständnis des Weges des Offenbarers erwecken kann.“ (Zumstein, 279). Das „Fleisch“, die Sphäre der reinen Immanenz und des rein Menschlichen (1,13.14), hilft hier nicht weiter, „hat keinerlei Relevanz“ (Zumstein, 279).

 

Die Pointe dieser Gegenüberstellung besteht in der Behauptung Jesu, dass seine Verkündigung „Geist“ und „Leben“ ist. „Wer die Worte Jesu aufnimmt, empfängt den Geist und folglich (konsekutives καὶ) das Leben in Fülle.“ (Zumstein, 279).

 

Allerdings gibt es „etliche“ unter seinen Jüngern, die nicht glauben, d.h. nicht an ihn glauben (6,29: „… dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“; 6,35: „… und wer an mich glaubt …“; 6,40: „… und glaubt an ihn …“). Er kennt sie „von Anfang an“  (zur Menschenkenntnis Jesu vgl. 1,47-48; 2,23-25) – auch seinen Verräter.

 

Warum glauben einige – und „etliche“ nicht? Der Grund dafür ist, dass der Glaube eine Gabe von Gott ist. Jesus sagt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.“

 

Ganz ähnlich hatte Jesus schon in der Brotrede formuliert:

6,37

Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.

6,39

Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage.

6,44

Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage

 

„Der Unglaube ist Ausdruck dafür, dass dem menschlichen Willen gegenüber dem Angebot des Offenbarers der Vorzug gegeben wird. Der Glaube ist jedoch kein parallel dazu verlaufendes Geschehen, dessen Initiative beim Jünger liegen würde, sondern eine Möglichkeit, die ihm von Gott geschenkt wird.“ (Zumstein, 280).

 

(66) Nach dieser konfrontierenden Reaktion Jesu, die nicht auf die Kritik eingeht, sondern ihre Berechtigung in Frage stellt, wenden sich „viele seiner Jünger“ endgültig von Jesus ab.

 

Manche Bibelausleger vermuten, dass die Abwendung der Jünger von Jesus auch auf ein Ereignis innerhalb der Geschichte der christlichen Kirche im ersten Jahrhundert anspielt – wobei aber keine Einigkeit darüber besteht, um welches Ereignis es sich dabei handeln soll.

 

 

Nachdem sich viele seiner Jünger von ihm getrennt haben, wendet Jesus sich an die „Zwölf“.

 

(67) Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr auch weggehen? (68) Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; (69) und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes. (70) Jesus antwortete ihnen: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel. (71) Er redete aber von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Der verriet ihn hernach und war einer der Zwölf.

 

(67-69) Jesus fragt die „Zwölf“, die hier erstmals genannt werden (vgl. noch 20,24) und offenbar die Kerngruppe unter seinen Jüngern bilden: „Wollt ihr auch weggehen?“ (vgl. Jesu Frage in Mk 8,29: „Und er fragte sie: Ihr aber, wer, sagt ihr, dass ich sei? …“).

 

Petrus, der hier als Sprecher der Zwölf erscheint, antwortet mit der Gegenfrage: „Herr, wohin sollen wir gehen?“ Modern formuliert bedeutet dies, dass er Jesus für „alternativlos“ hält.

 

Seine Begründung bzw. sein Bekenntnis besteht aus zwei Teilen. Zunächst erklärt er Jesus: „Du hast Worte des ewigen Lebens …“ (vgl. 6,27.40.47.54). Gemeint ist vermutlich, dass Jesus allein „Worte des ewigen Lebens“ hat und es „kein Angebot des Lebens in Fülle außerhalb der Beziehung mit dem Gesandten des Vaters“ gibt“ (Zumstein, 281).

 

Außerdem macht Petrus deutlich, wer Jesus in den Augen der verbliebenen „Zwölf“ ist: „der Heilige Gottes“. Dieser Titel findet sich auch im Markusevangelium – dort als Aussage eines Dämons (1,24: „… Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“). In Joh 10,36 erklärt Jesus denen, die an seinem Anspruch, der Sohn Gottes zu sein, Anstoß nehmen: „wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott -, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn?“. Der Sohn Gottes ist also der, „den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“. Der Titel „der Heilige Gottes“ meint daher, „dass Jesus völlig in den Bereich Gottes gehört und dass er ihn in der Welt repräsentiert.“ (Wengst, 222).

 

(70-71) Auf das Bekenntnis des Petrus antwortet Jesus mit dem Hinweis auf die Erwählung (vgl. 6,37.44). Er hat die „Zwölf erwählt“. Aber trotzdem ist einer von ihnen „ein Teufel“. Gemeint ist Judas, der Jesus später verrät (in Mk 8,33 wird Petrus als „Satan“ bezeichnet). Auch die Erwählung des Judas durch Jesus konnte das nicht verhindern.

 

 

Zusammenfassung:

Das Ereignis der Speisung der 5.000 weist über sich hinaus auf Jesus Christus, das vom Himmel gekommene „Brot des Lebens“, durch das den Menschen ewiges Leben geschenkt wird, und auf das Abendmahl, durch das sie bleibende Gemeinschaft mit ihm haben. Wer zu ihm kommt und an ihn glaubt, tut das nicht aus eigener Kraft und Entscheidung, sondern durch das Wirken seines himmlischen Vaters.

 

 

 

4.3    Der Konflikt mit den Juden eskaliert (7,1-11,54)

 

„Die Wirksamkeit Jesu in Galiläa ist beendet. Ein durchschlagender Erfolg ist ihm nicht beschieden gewesen. Das Volk hat sich zum größten Teil von ihm abgewandt. Jetzt macht Jesus Jerusalem zum Schauplatz seines Wirkens. Den Anlass bietet der Besuch des Laubhüttenfestes. Dabei kommt es zu schweren Auseinandersetzungen mit den führenden Schichten des jüdischen Volkes, bei denen die Pharisäer die treibende Kraft sind, während das Volk eine hin- und herschwankende, zu keiner klaren Entscheidung kommende Haltung einnimmt. Der Konflikt spitzt sich immer mehr zu. Das Passionsmotiv, das bereits in 5,18 anklang, verstärkt sich ständig. Die ‚Juden‘ trachten ihm nach dem Leben. Die Hohenpriester und Pharisäer fassen bereits den Plan, ihn festzunehmen (7,32). Nur mit knapper Not entgeht Jesus der Gefahr der Steinigung (8,59; 10,31). Die Bedrohung wird so lebensgefährlich, dass Jesus sich nach Peräa zurückzieht (10,39f.). Nach der Auferweckung des Lazarus, die einen tiefen Eindruck auf das Volk macht, sind die Gegner Jesu fest entschlossen, ihn endgültig zu beseitigen. Das Synedrium fasst den Todesbeschluss (11,47-54). Damit ist das Schicksal Jesu besiegelt. Der Evangelist zeigt in dramatisch bewegter Schilderung, wie das Wirken Jesu in Jerusalem zur Passion führt. Die Passionsmotive durchziehen die ganze Darstellung und geben ihr das Gepräge.“ (Schneider, 159f.).

 

 

4.3.1   Streitgespräche auf und nach dem Laubhüttenfest (7,1-8,59)

 

4.3.1.1  Einleitung: Jesus reist zum Laubhüttenfest (7,1-13)

 

(1) Danach zog Jesus umher in Galiläa; denn er wollte nicht in Judäa umherziehen, weil ihm die Juden nach dem Leben trachteten. (2) Es war aber nahe das Laubhüttenfest der Juden. (3) Da sprachen seine Brüder zu ihm: Mach dich auf von hier und geh nach Judäa, auf dass auch deine Jünger die Werke sehen, die du tust. (4) Denn niemand tut etwas im Verborgenen und will doch öffentlich bekannt sein. Willst du das, so offenbare dich vor der Welt. (5) Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn. (6) Da spricht Jesus zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht da, eure Zeit aber ist immer da. (7) Die Welt kann euch nicht hassen. Mich aber hasst sie, denn ich bezeuge von ihr, dass ihre Werke böse sind. (8) Geht ihr hinauf zum Fest! Ich will nicht hinaufgehen zu diesem Fest, denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt. (9) Das sagte er und blieb in Galiläa.

(10) Als aber seine Brüder hinaufgegangen waren zum Fest, da ging auch er hinauf, nicht offen, sondern heimlich. (11) Da suchten ihn die Juden auf dem Fest und fragten: Wo ist er? (12) Und es war ein großes Gemurmel über ihn im Volk. Einige sprachen: Er ist gut; andere aber sprachen: Nein, sondern er verführt das Volk. (13) Niemand aber redete offen über ihn aus Furcht vor den Juden.

 

(1) Sofern man nicht der Auffassung ist, dass die Kapitel 5-7 bei der Endfassung des Evangeliums in eine falsche Reihenfolge geraten sind (vgl. dazu Einleitung, 4; Vorbemerkungen zum Abschnitt 5,1-47 und Exkurs zu 6,1), erklärt Vers 1, wohin sich Jesus nach der Verkündigung in der Synagoge von Kapernaum (6,59) begibt: er zieht „umher in Galiläa“. Damit entscheidet er sich bewusst gegen einen Aufenthalt bzw. ein öffentliches Wirken „in Judäa“. Der Grund dafür ist, dass „die Juden“  (d.h. die jüdischen Autoritäten; vgl. 1,19; 7,13; 9,22; 18,31; 19,6-7) ihm dort „nach dem Leben“ trachten.

 

(2-4) Dann aber naht das Laubhüttenfest, das dritte große Fest des Jahres, zu dem sich viele Pilger nach Jerusalem begeben.

 

Das Laubhüttenfest war einerseits ein Erntedankfest (2 Mos 23,16; 34,22; 5 Mos 16,3-15), erinnerte aber auch an die Wüstenwanderung (3 Mos 23,39-43). Darüber hinaus gab es die Erwartung, dass am Ende der Zeiten „alle, die übrig geblieben sind von allen Völkern, die gegen Jerusalem zogen, … jährlich heraufkommen, um anzubeten den König, den HERRN Zebaoth, und um das Laubhüttenfest zu halten“ (Sach 14,16).

 

Die Brüder Jesu, von denen im Johannesevangelium sonst nur noch in 2,13 die Rede ist, raten ihm, nach Jerusalem zu ziehen und dort öffentlich aufzutreten. Seine „Jünger“ sollen „die Werke sehen“, die er tut. Unklar ist, ob damit Menschen gemeint, die bereits bei anderer Gelegenheit auf ihn aufmerksam geworden sind und ihm positiv gegenüberstehen (vgl. 2, 23:  „Als er aber in Jerusalem war beim Passafest, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat.“; 4,1.3: „(1) Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war, dass Jesus mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes  … (3) verließ er Judäa und zog wieder nach Galiläa.“), oder Sympathisanten aus Galiläa, die aufgrund des Laubhüttenfests nach Jerusalem ziehen.

 

Die Brüder Jesu begründen ihren Rat mit der Binsenweisheit: „Denn niemand tut etwas im Verborgenen und will doch öffentlich bekannt sein.“ Wenn Jesus also in der Öffentlichkeit bekannt werden will, darf er sie nicht scheuen, sondern muss sich „vor der Welt“ offenbaren.

 

(5) Für den Erzähler zeigt dieser Rat der Brüder, dass sie nicht an Jesus glauben. „Öffentlichkeitsarbeit“ verkennt, wer Jesus ist. Ihm kommt es nicht auf Popularitätswerte an. Nicht die Anerkennung der „Welt“ ist wichtig, sondern sein Auftrag.

 

(6-7) Jesus selbst erklärt seinen Brüdern, dass seine „Zeit … noch nicht da“ ist. Mit Zeit ist hier die geeignete Zeit gemeint, der richtige Zeitpunkt (καιρὸς). Welchen Zeitpunkt aber meint Jesus? An anderer Stelle ist davon die Rede, dass seine „Stunde … noch nicht gekommen“ ist (2,4; 7,30; 8,21), womit in 7,30 und 8,21 die Zeit seiner Ergreifung gemeint ist. Außerdem spricht er von der „Stunde“, in der er die Welt verlässt und zu seinem Vater geht und von der „Stunde“ seiner Verherrlichung (12,23-28; vgl. die Liste der Texte zu 2,4). Dass seine „Zeit … noch nicht da“ ist, bedeutet also, dass seine Leidenszeit, die im Tod am Kreuz gipfelt, noch nicht angebrochen ist. Und das ist der Grund, weshalb er nicht zum Laubhüttenfest zieht, um dort die Öffentlichkeit zu suchen.

 

In diesem Zusammenhang macht er deutlich, welche grundlegenden Unterschiede zwischen ihm und seinen Brüdern bestehen. Während seine Zeit „noch nicht da“ ist, ist ihre Zeit „immer da“. Gemeint ist „die Zeit der Welt, die ständig und gleichförmig verfügbar ist, die nicht durch ein göttliches Vorhaben bestimmt ist, sondern der menschlichen Initiative überlassen und deshalb … eine bedeutungslose Zeit ist“ (Zumstein, 290). Im Unterschied zu Jesus können sie jederzeit tun, was ihnen richtig und wichtig erscheint.

 

Ein weiterer Unterschied zwischen Jesus und seinen Brüder ist die Beziehung, die die Welt zu ihnen hat. Die Welt „kann“ seine Brüder „nicht hassen“. Der Hass der Welt richtet sich nur auf diejenigen, die „nicht von der Welt“ sind (15,18-19: „(18) Wenn euch die Welt hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat. (19) Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“). Daraus folgt: „Die Welt kann die Brüder Jesu nicht hassen, da sie ja ihre Werte teilen und nach ihrer Zeit leben“ (Zumstein, 290) – was sich hier offenbar vor allem darin zeigt, dass sie in Kategorien der Marketings denken. Jesus aber zieht den Hass der Welt auf sich, weil  er ihr erklärt, „dass ihre Werke böse sind“.

 

„Bei den ‚bösen Werken‘ ist nicht nur an moralische Verderbtheit zu denken, sondern auch an den grundlosen Hass gegen den Gottgesandten und alle, die zu ihm gehören (…), überhaupt an jene Gottabgewandtheit, für die Sünde, Gesetzlosigkeit, Hass und Verfolgungswut nur Symptome sind.“ (Schnackenburg II, 196).

 

(8-9) Deshalb erklärt er seinen Brüdern, dass sie ruhig zum Laubhüttenfest nach Jerusalem pilgern sollen, er selbst aber „nicht hinaufgehen“ will. Und so tut er es dann auch.

 

(10) Dann aber geht er doch nach Jerusalem. Auch an anderer Stelle ist davon die Rede, dass Jesus zunächst ein Ansinnen ablehnt, es dann aber doch tut (2,1-11; 4,46-54; 11,1-8). Dieses Verhalten „hat also Methode“, bzw. einen Sinn. An dieser Stelle geht es darum, dass er „nicht offen, sondern heimlich“ zum Laubhüttenfest geht – und so seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Marketingstrategie seiner Brüder treu bleibt.

 

(11-13) Seine Gegner, die jüdischen Autoritäten (vgl. 7,1), halten auf dem Fest bereits nach ihm Ausschau. Im Volk ist „ein großes Gemurmel über ihn“. Die Meinungen über Jesus sind geteilt. Die einen halten ihn für „gut“; andere für einen Verführer des Volkes. Aber niemand äußert sich offen – „aus Furcht vor den Juden“ (vgl. 9,22; 19,38; 20,19).

 

 

4.3.1.2  Jesus in der Mitte des Laubhüttenfestes (7,14-36)

 

(14) Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte. (15) Und die Juden verwunderten sich und sprachen: Wie kennt dieser die Schrift, wenn er es doch nicht gelernt hat? (16) Jesus antwortete ihnen und sprach: Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. (17) Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich aus mir selbst rede. (18) Wer aus sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist in ihm.

 

(14-15) Das Laubhüttenfest dauert eine Woche (3 Mos 23,39; 5 Mos 16,13-15). „Mitten im Fest“ beginnt Jesus, im Tempel zu lehren. Die „Juden“ wundern sich darüber (unklar ist, ob hier wie in 7,1.11.13 die jüdischen Autoritäten gemeint sind, oder wie in 7,12.20 das Volk). Warum wundern sie sich? Weil ihrer Meinung nach nur derjenige die Schrift kennt und andere in ihr unterrichten kann, der das bei einem anerkannten Lehrer „gelernt hat“ – was bei Jesus doch offensichtlich nicht der Fall war.

 

(16-18) Jesus erklärt ihnen, dass er kein „Autodidakt“ ist, sondern seine Lehre von dem stammt, der „ihn „gesandt hat“. Einerseits haben seine Gegner recht: „nicht aus dem Studium ist seine Lehre gewonnen; sie ist nicht das Ergebnis zünftiger Wissenschaft. Aber er ist auch gar nicht verantwortlich für seine Lehre; denn sie ist ihm vom Vater gegeben worden.“ (Bultmann, 206).

 

Wie kann man wissen, dass er nicht aus sich selbst heraus eine Lehre verkündigt, sondern seine „Lehre von Gott“ empfangen hat? Wer Gottes „Willen tun will“, wird das erkennen.

 

Aber was heißt das? Ist gemeint, dass „die ethische, Gott wohlgefällige Lebenspraxis… zur Anerkennung Jesu und der Legitimität seines Auftrages“ führt (Schneider, 165)? Interessanterweise ist im Johannesevangelium im Zusammenhang mit dem Willen Gottes vom Glauben an Jesus Christus die Rede (6,29: „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“; 6,40: „Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“). Daraus folgt: „Für Joh gibt es keine ‚Ethik‘, kein Tun des Willens Gottes, das nicht primär der Gehorsam des Glaubens wäre; er ist das von Gott geforderte Tun (…).“ (Bultmann, 206). Gemeint ist dann: Wer an Jesus Christus glaubt, wird erkennen, dass Jesu Lehre von Gott ist. „Für Johannes gibt es keine Möglichkeit, aufgrund von äußeren Kriterien ein Urteil über Jesu Lehre zu fällen. Allein der Willen Gottes, d.h. der Glaube, führt zu der Einsicht, dass Jesu Lehre von Gott ist.“ (Schnelle, 194). Nicht: Ich erkenne, um zu glauben. Sondern: Ich glaube, um zu erkennen.

 

Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit, um zu erkennen, ob Jesus „aus sich selbst redet“. Wer das tut, „der sucht“ nämlich „seine eigene Ehre“. „Wahrhaftig“ ist nur jemand, der „die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat“. „Scheidet … jedes persönliche und eigennützige Motiv aus, dann ist auch jede Unwahrheit im Inhalt und in der Darbietung der Lehre ausgeschlossen. Wer ganz als Beauftragter Gottes handelt, verkündigt nicht seine eigene Lehre.“ (Schneider, 166).

 

 

Ging es zunächst um Jesu Lehrtätigkeit als solches, geht es nun um den konkreten Inhalt seiner Lehre – um seine Auslegung des Gesetzes im Unterschied zu der seiner Kritiker. Der Ton ist dabei jedoch nicht nüchtern und sachlich, sondern voller Vorwürfe.

 

(19) Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben? Und niemand unter euch tut das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten? (20) Das Volk antwortete: Du bist von einem Dämon besessen; wer sucht dich zu töten? (21) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ein einziges Werk habe ich getan und es wundert euch alle. (22) Darum hat Mose euch die Beschneidung gegeben – nicht dass sie von Mose kommt, sondern von den Vätern –, und ihr beschneidet einen Menschen auch am Sabbat. (23) Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit nicht das Gesetz des Mose gebrochen werde, was zürnt ihr dann mir, weil ich am Sabbat den ganzen Menschen gesund gemacht habe? (24) Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.

 

(19-20) Jesus wirft seinen Kritikern Schizophrenie vor. Obwohl sie so viel Wert auf das Gesetz legen, das Mose ihnen gegeben hat (vgl. 1,17), hält sich niemand von ihnen daran – was sich daran zeigt, dass sie ihn umbringen wollen (vgl. 5,18; 7,1.25.30; 8,37.40; 11,53). Die Gegner antworten mit einem Gegenangriff und deuten Jesu Vorwurf, dass sie ihn töten wollen, als Beweis seiner Besessenheit (vgl. 8,48.52; 10,20).

 

(21-24) Zu seiner Verteidigung weist Jesus auf seine einzige Wundertat, die er in Jerusalem vollbracht hat, und auf die Verwunderung, die der damit ausgelöst hat: die Heilung der Kranken am Teich Bethesda (5,1-18). In diesem Zusammenhang war auch erstmals davon von Plänen die Rede, Jesus zu beseitigen (5,18).

 

Jesus verteidigt die Heilung am Sabbat mit dem Hinweis darauf, dass die im mosaischen Gesetz verankerte und bereits von den Erzvätern praktizierte Beschneidung am achten Tag nach der Geburt (Beschneidung im Gesetz des Mose: 3 Mos 12,3; Beschneidung bei den Erzvätern: 1 Mos 17,10; 21,4) ggf. auch am Sabbat durchgeführt wird. In der jüdischen Tradition heißt es dazu: „Alles, was zur Beschneidung nötig ist, darf man am Sabbat verrichten.“ „Die Beschneidung verdrängt den Sabbat …“.  (StrBill II, 487f.). Auf dieser Grundlage zieht Jesus einen Rückschluss vom Kleinen auf das Große (a minori ad maius). Wenn man einen Menschen am Sabbat beschneidet, um eine Übertretung des mosaischen Gesetzes zu vermeiden, das die Beschneidung am achten Tag vorsieht, wie kann man ihm gegenüber zornig sein, weil er „am Sabbat den ganzen Menschen gesund gemacht“ hat?

 

„Jesus handelt also nicht von einem Dämon besessen im Widerspruch zu Gott, sondern ganz im Gegenteil ist die Heilung am Teich von Bethesda am Sabbat die Verwirklichung der eigentlichen Intention der Thora. Jesus offenbart sich dadurch als der wahre Lehrer, der den Willen Gottes offenbart.“ (Zumstein, 298). Deshalb ruft er seine Kritiker abschließend dazu auf, nicht nach dem Augenschein, sondern gerecht zu urteilen.

 

 

Dass Jesus im Tempel lehrt und mit seinen Gegnern diskutiert, bringt einige Beobachter auf die Idee, dass Jesus vielleicht „der Christus“ sein könnte, weisen diesen Gedanken dann aber schnell wieder von sich.

 

(25) Da sprachen einige aus Jerusalem: Ist das nicht der, den sie zu töten suchen? (26) Und siehe, er redet frei und offen, und sie sagen ihm nichts. Sollten unsere Oberen wahrhaftig erkannt haben, dass er der Christus ist? (27) Doch wir wissen, woher dieser ist; wenn aber der Christus kommt, so weiß niemand, woher er ist. (28) Da rief Jesus im Tempel und lehrte: Ja, ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern von dem, der wahrhaftig ist, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. (29) Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt. (30) Da suchten sie ihn zu ergreifen; aber niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

 

(25-27) Einige Bewohner Jerusalems, die offenbar gut informiert sind, wundern sich, dass Jesus frei und offen im Tempel auftritt, obwohl die Führer des Judentums ihn doch eigentlich beseitigen wollen (vgl. 7,1). Deshalb fragen sie sich, ob ihre „Oberen … erkannt haben, dass er der Christus ist“.

 

Ihre Frage ist vermutlich nicht ironisch gemeint (anders Zumstein, 300), weil sie sofort das Argument nennen, das in ihren Augen gegen die Messianität Jesu spricht: seine Herkunft. Sie „wissen“ nämlich, „woher“ Jesus kommt – aus Galiläa (1,45; 7,41.52). Damit ist die Frage geklärt, weil sie überzeugt sind: „wenn aber der Christus kommt, so weiß niemand, woher er ist.“  Entsprechende Messiasvorstellungen finden sich im äthiopischen Buch Henoch (48,6: „… darum ist er auserwählt und verborgen …“) und im vierten Buch Esra (13,52: „… so kann niemand der Erdenbewohner meinen Sohn schauen noch seine Gefährten, es sei denn zur Stunde ’seines‘ Tags“).

 

(28-29) Jesus gibt ihnen zunächst Recht: sie kennen ihn und wissen, woher er stammt. Aber dieses Wissen ist nur vordergründig. Deshalb betont er sofort seine ganz andere Abstammung: „Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern von dem, der wahrhaftig ist, der mich gesandt hat …“. Mit „dem, der wahrhaftig ist“, ist natürlich Gott gemeint (17,3: „Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, … erkennen.“). Er ist der Gesandte Gottes.

 

Aber Jesus behauptet nicht nur, dass er von Gott abstammt, sondern dass seine Gesprächspartner Gott nicht kennen. Das ist auch der Grund, weshalb sie seine Herkunft nicht erkennen können. „Da sie Gott nicht kennen (…), können sie auch die wahre Herkunft Jesu nicht erkennen.“ (Zumstein, 301f.).

 

Und er fügt hinzu: „Ich aber kenne ihn …“. Er begründet diese Behauptung damit, dass er von Gott stammt („… ich bin von ihm …“, vgl. 6,46) und von Gott gesandt ist („… er hat mich gesandt …“).

 

(30) Weil Jesus seinen Gesprächspartnern abspricht, Gott zu kennen, und gleichzeitig behauptet, göttlichen Ursprungs und der Gesandte Gottes zu sein, versuchen diese, „ihn zu ergreifen“. „So viel haben die Jerusalemer verstanden, dass Jesus von Gott und seinem einzigartigen Verhältnis zu Gott sprach. Sie werfen ihm zwar nicht Gotteslästerung vor (…); aber sie suchen ihn festzunehmen.“ (Schnackenburg II, 205).

 

Aber es gelingt ihnen nicht, „Hand an ihn“ zu legen. Weil „seine Stunde“, die Stunde der Passion (vgl. 7,6; 8,20; 12,37; 13,1) „noch nicht gekommen“ ist, haben seine Gegner keine Gewalt über ihn.

 

 

Andererseits stehen viele aus dem Volk positiv zu Jesus. Als die Pharisäer das realisieren, senden sie ihre Knechte aus, um ihn zu ergreifen. Daraufhin spricht Jesus darüber, wohin er geht – wird aber nicht verstanden.

 

(31) Aber viele aus dem Volk glaubten an ihn und sprachen: Wenn der Christus kommen wird, wird er etwa mehr Zeichen tun, als dieser getan hat. (32) Die Pharisäer hörten, dass es im Volk solches Gemurmel über ihn gab. Da sandten die Hohenpriester und die Pharisäer Knechte aus, dass sie ihn ergriffen. (33) Da sprach Jesus: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat. (34) Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen. (35) Da sprachen die Juden untereinander: Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden könnten? Will er etwa zu denen gehen, die in der Zerstreuung unter den Griechen wohnen, und die Griechen lehren? (36) Was ist das für ein Wort, das er sagte: Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen?

 

(31-32) Auch wenn einige ihn wegen seines Anspruchs festnehmen wollen, gibt es „viele“, die Jesus positiv gegenübersteht und an ihn glauben. Der Grund dafür sind seine Wundertaten (2,23; 5,1-9). Sie hoffen auf einen Messias, der sich vor allem durch Wundertaten auszeichnet und stellen fest, dass Jesus dieses Kriterium mehr als erfüllt (vgl. 6,14: „Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.“)

 

„In der messianischen Heilszeit erwartete man Heilung aller Krankheiten. Man nahm an, dass der Messias seinem Volk Israel alle jene Güter wiederbringen werde, die durch Adams Fall verloren gegangen waren; dazu gehörte natürlich auch die Beseitigung von Krankheit und Tod.“ (StrBill I, 593).

 

Als die Pharisäer (1,24; 3,1; 4,1; 7,45.47.48; 8,13; 9,13.15.16.40; 11,46.47.57; 12,19.42) von dieser positiven Grundstimmung des Volkes gegenüber Jesus Wind bekommen, verbünden sie sich mit den Hohenpriestern.

 

„In der neutestamentlichen Erzählliteratur wird (ähnlich wie bei Josephus) als Hohepriester (griech. ἀρχιερεύς) im engeren Sinn der höchste Würdenträger und Kultrepräsentant des jüdischen Volkes bezeichnet. Im weiteren Sinn wird die Bezeichnung (meist pluralisch: ἀρχιερεῖς) auch auf ehemalige Amtsinhaber, besonders den einflussreichen Hannas, und Mitglieder der priesterlichen Führungsschicht angewendet.“

https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/hohepriester/ch/848a307801f8040571827582acfc58d8/ (Zugriff: 29.10.2019)

 

Pharisäer und Hohepriester treten auch an anderer Stelle gemeinsam auf (7,45; 11,47.57; 18,3). Hier senden sie „Knechte“ aus, um Jesus zu ergreifen.

 

(33-34) Jesus nimmt die drohende Verhaftung zum Anlass, über seinen Weggang zu sprechen. Zunächst informiert er darüber, dass er nur noch „eine kleine Zeit“ bei ihnen sein wird. Damit deutet er an, dass sein Tod am Kreuz kurz bevor steht (12,32-35: „(32) Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (33) Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. (34) Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn? (35) Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“, vgl. 13,33; 14,19; 16,16-19).

 

Gleichzeitig teilt er ihnen mit, wohin er denn geht, wenn er nicht mehr bei ihnen ist: „und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat.“  Gemeint ist natürlich die Rückkehr zu seinem Vater im Himmel:

13,3

Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott ging.

14,28

Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich.

16,10

über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht

16,17

Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater?

 

Wenn er nicht mehr bei ihnen ist, sondern zu dem, der ihn gesandt hat, zurückgegangen ist, so Jesus weiter, werdet  ihr „mich suchen und nicht finden“ (vgl. Spr.1,28: „Dann werden sie nach mir rufen, aber ich werde nicht antworten; sie werden mich suchen und nicht finden.“). Das meint nicht, dass er unauffindbar ist, weil er sich bei Gott befindet, sondern dass eine Beziehung zu ihm dann nicht mehr möglich ist und die Ungläubigen verloren sind. Das zeigt vor allem die Parallele in 8,21: „Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.“

 

Dementsprechend setzt Jesus fort: „… und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.“ Wer nicht an ihn glaubt, hat keinen Zugang zu dem Ort, an dem er sich befindet – dem Himmel. Bereits in 3,18 hatte Jesus erklärt, dass jeder, der nicht an ihn glaubt, „schon gerichtet“ ist.

 

„Sein Fortgang aus der Welt bedeutet für die Welt das Gericht, und zwar wird dieses Gericht eben darin bestehen, dass er fort ist, dass es dann keine Offenbarung mehr für sie gibt. Dann ‚werden sie suchen‘, sie werden vergebens nach Offenbarung verlangen; aber dann ist es zu spät; er wird ihnen dann unzugänglich sein.“ (Bultmann, 232). „Gegenüber den Nichtglaubenden liegt darin eine Drohung, die in 8,21f.24 offen ausgesprochen wird: Sie werden in ihren Sünden sterben … Für die Glaubenden bedeutet der Weggang Jesu zwar einen Schmerz, lässt ihnen aber die gläubige Gewissheit, dass sie ihm später folgen werden, dorthin ‚wo er ist‘ (vgl. 13,13.36).“ (Schnackenburg II, 208).

 

(35-36) Seine Zuhörer aber verstehen nicht, was Jesus gesagt hat. Sie überlegen, ob er damit gemeint haben könnte, dass er zu den Juden, „die in der Zerstreuung unter den Griechen wohnen“ gehen und „die Griechen lehren“ will. Dieses Missverständnis hat tatsächlich einen Wahrheitsgehalt – weil sich das Evangelium in der Diaspora und in der hellenistischen Welt ausgebreitet hat (von einer unfreiwilligen Prophezeiung spricht auch 11,51).

 

 

4.3.1.3  Jesus am letzten Tag des Laubhüttenfestes (7,37-52)

 

Am letzten Tag des Laufhüttenfestes tritt Jesus noch einmal auf – mit einer Verheißung für alle, die an ihn glauben.

 

(37) Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! (38) Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. (39) Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

 

Die Zeichensetzung am Ende von Vers 37 und am Anfang von Vers 38 ist umstritten. Es gibt zwei Möglichkeiten:

Möglichkeit 1

(LB 2017)

(37) Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! 

(38) Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. 

Möglichkeit 2

(Zumstein, 309)

(37) Wenn jemand Durst hat, komme er zu mir,

und es trinke, (38) wer an mich glaubt;

wie die Schrift gesagt hat: Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leibe fließen.

Inhaltlich macht das folgenden Unterschied: Bei Möglichkeit 1 gehen die „Ströme des lebendigen Wassers“ vom Gläubigen aus, bei Möglichkeit 2 von Jesus Christus. Das spricht für Möglichkeit 2, weil im Johannesevangelium allein Jesus Christus die Quelle des Heils ist. Hinzu kommt, dass die Deutung in Vers 39 sich nicht auf etwas bezieht, was gläubige Menschen an andere Menschen weitergeben, sondern auf etwas, was sie von Christus empfangen. Zudem ist in 19,34 von Strömen die Rede, die aus Jesu Leib fließen: „… einer der Soldaten stieß mit einer Lanze in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus.“ Auch Offb 22,17 spricht von „Wasser des Lebens“ und meint damit nicht etwas, das von dem Gläubigen ausgeht, sondern etwas, das ihm angeboten wird: „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.“  Daher ist Möglichkeit 2 vorzuziehen.

 

(37-38) Am letzten Tag des einwöchigen Laubhüttenfestes (3 Mos 23,39; 5 Mos 16,13-15), dem Höhepunkt des Festes, tritt Jesus erneut öffentlich auf. An diesem Tag wurde eine Wasserspende auf dem Brandopferaltar dargebracht. „Mit dem Ritual der Wasserspende verbanden sich die Vorstellungen der ‚Fülle des Wassers‘ und damit der ‚Fülle des Lebens und des Heils‘ (…).“ (Schnelle, 197).

 

In der Liturgie wurden auch folgende Bibeltext verwand:

Jes 12,3

Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils.

Jes 55,1

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

Hes 47,1-12

(1) Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels. Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle des Tempels nach Osten; denn die vordere Seite des Tempels lag gegen Osten. Und das Wasser lief unten an der südlichen Seitenwand des Tempels hinab, südlich am Altar vorbei. (2) Und er führte mich hinaus durch das Tor im Norden und brachte mich außen herum zum äußeren Tor im Osten; und siehe, das Wasser entsprang seiner südlichen Seitenwand. (3) Und der Mann ging heraus nach Osten und hatte eine Messschnur in der Hand, und er maß tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen; da ging es mir bis an die Knöchel. (4) Und er maß abermals tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knie; und er maß noch tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Lenden. (5) Da maß er noch tausend Ellen: Da war es ein Strom, so tief, dass ich nicht mehr hindurchgehen konnte; denn das Wasser war so hoch, dass man schwimmen musste und nicht hindurchgehen konnte. (6) Und er sprach zu mir: Hast du das gesehen, Menschenkind? Und er führte mich zurück am Ufer des Flusses entlang.  (7) Und als ich zurückkam, siehe, da standen sehr viele Bäume am Ufer auf beiden Seiten. (8) Und er sprach zu mir: Dies Wasser fließt hinaus in das östliche Gebiet und weiter hinab zum Jordantal und mündet ins Tote Meer. Und wenn es ins Meer fließt, soll dessen Wasser gesund werden, (9) und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben. Und es soll sehr viele Fische dort geben, wenn dieses Wasser dorthin kommt; und alles soll gesund werden und leben, wohin dieser Strom kommt. (10) Und es werden an ihm die Fischer stehen. Von En-Gedi bis nach En-Eglajim wird man die Netze zum Trocknen aufspannen; denn es wird dort sehr viele Fische von aller Art geben wie im großen Meer. (11) Aber die Teiche und Lachen daneben werden nicht gesund werden, sondern man soll daraus Salz gewinnen. (12) Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken und mit ihren Früchten hat es kein Ende. Sie werden alle Monate neue Früchte bringen; denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. Ihre Früchte werden zur Speise dienen und ihre Blätter zur Arznei.

 

„Die Wasserspende … wurde nur am Laubhüttenfest auf dem Brandopferaltar dargebracht. Bei Tagesanbruch füllten Priester eine goldene, drei Log fassende Kanne mit Wasser aus dem nahen Siloah. Sobald sie damit in der Nähe des Wassertors auf der Südseite des inneren Vorhofes angekommen waren, stießen andre Priester dreimal in die Trompete, um einen kurzen, einen langgezogenen u. wiederum einen kurzen Ton erschallen zu lassen; das geschah im Hinblick auf Jes 12, 3: Ihr werdet Wasser schöpfen mit Frohlocken. Die Darbringung des Wassers erfolgte beim Morgentamid in Verbindung mit der Spendung des Trankopfers. Der dazu ausgeloste Priester stieg auf der Rampe, die sich an der Südseite des Brandopferaltars befand, zu diesem empor, um sich dann nach links, d. h. zur Südwestecke des Altars zu wenden. Auf dem Altar standen zwei silberne Schalen … bereit, die eine zur Aufnahme des Trankopfers u. die andre zur Aufnahme der Wasserspende, u. zwar hatte die letztere westlich, d. h. links von der ersteren ihren Platz. Nachdem das Trankopfer in die dafür bestimmte Schale gegossen war, geschah das gleiche mit der Wasserspende; eine Verwechslung der beiden Schalen untereinander machte die Darbringung nicht ungültig. Dagegen forderte man von dem amtierenden Priester, dass er beim Ausgießen des Wassers seine Hand möglichst hoch hebe, damit jedermann erkennen könne, dass das Wasser wirklich in seine Schale u. nicht etwa auf die Erde gegossen werde. Das forderte man auf Grund eines unliebsamen Vorkommnisses mit den Boëthusianern. Jede der beiden Schalen hatte eine Öffnung, durch die ihr Inhalt auf den Grund des Altars ab- u. von dort unterirdisch weiterfloß. Da man den Abfluss aus beiden Schalen gern in ein u. demselben Augenblick beendigt sehen wollte, war die Öffnung in der Schale des träger fließenden Weines etwas größer gehalten, als die in der andren Schalei Als selbstverständlich wird man annehmen dürfen, dass die Abflußöffnung in den beiden Schalen bis zur Beendigung der eigentlichen Spendehandlung geschlossen blieb. Die feierliche Darbringung der Wasserspende wiederholte sich täglich während des siebentägigen Festes; selbst an dem in die Festwoche fallenden Sabbat unterblieb sie nicht, nur wurde dann das Wasser bereits am Rüsttag zuvor aus dem Siloah herangeschafft. Nach R. Jehuda (um 150) wäre die Wasserspende auch am 8. Feiertag, d. h. am Beschlußfest dargebracht worden. Über den Ursprung der Sitte erfahren wir aus unsren Quellen nichts Näheres. Einige führten sie auf die Schrift zurück, andre erklärten sie für eine Halakha von Mose vom Sinai her, also für eine uralte Einrichtung. Ihrer Bedeutung nach wird die Wasserspende in enge Beziehung zu der nach dem Laubhüttenfest eintretenden Regenzeit gebracht: sie soll dazu beitragen, dass die Regengüsse gesegnet werden (vgl. Sach 14, 16 f.). Doch scheint man auch schon frühzeitig zwischen Prophetenworten wie Jes 12, 3; Ez 47, 1 ff.; Sach 13, 1; 14, 8 f. u. dem Ritus der Wasserspende Verbindungslinien gezogen zu haben.“ (StrBill II, 799f.)

 

Vermutlich nimmt Jesus dieses Wasserritual zum Anlass, um die Menschen zu sich einzuladen und von ihm heilbringendes Wasser zu empfangen: „Wenn jemand Durst hat, komme er zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt …“.  Der Parallelsatz „und es trinke, wer an mich glaubt“ macht deutlich, „dass dieses Zu-Jesus-Kommen ein Kommen im Glauben ist“ (Zumstein, 309).

 

Mit Hilfe eines Schriftworts macht Jesus deutlich, was er anzubieten hat: Von ihm gehen „Ströme lebendigen Wassers“ aus. „Jesus präsentiert sich in diesem Werbespruch als der, der ewiges Leben vermittelt, als das Wasser, das allen Durst stillt.“ (Schnelle, 198).

 

Unklar ist, welches Schriftwort gemeint ist. In Frage kommen vor allem die folgenden Texte:

2.Mos.17,1-7

(1) Und die ganze Gemeinde der Israeliten zog aus der Wüste Sin weiter ihre Tagereisen, wie ihnen der HERR befahl, und sie lagerten sich in Refidim. Da hatte das Volk kein Wasser zu trinken. (2) Und sie haderten mit Mose und sprachen: Gib uns Wasser, dass wir trinken. Mose sprach zu ihnen: Was hadert ihr mit mir? Warum versucht ihr den HERRN? (3) Als aber dort das Volk nach Wasser dürstete, amurrten sie wider Mose und sprachen: Warum hast du uns aus Ägypten ziehen lassen, dass du uns, unsere Kinder und unser Vieh vor Durst sterben lässt? (4) Mose schrie zum HERRN und sprach: Was soll ich mit dem Volk tun? Es fehlt nicht viel, so werden sie mich noch steinigen. (5) Der HERR sprach zu ihm: Geh vor dem Volk her und nimm einige von den Ältesten Israels mit dir und nimm deinen Stab in deine Hand, mit dem du den Nil schlugst, und geh hin. (6) Siehe, ich will dort vor dir stehen auf dem Fels am Horeb. Da sollst du an den Fels schlagen, so wird Wasser herauslaufen, dass das Volk trinke. Und Mose tat so vor den Augen der Ältesten von Israel. (7) Da nannte er den Ort Massa und Meriba, weil die Israeliten dort gehadert und den HERRN versucht und gesagt hatten: Ist der HERR unter uns oder nicht?

4.Mos.20,2-13

(2) Und die Gemeinde hatte kein Wasser, und sie versammelten sich gegen Mose und Aaron.(3) Und das Volk haderte mit Mose und sprach: Ach dass wir umgekommen wären, als unsere Brüder umkamen vor dem HERRN! (4) Warum habt ihr die Gemeinde des HERRN in diese Wüste gebracht, dass wir hier sterben mit unserm Vieh? (5) Und warum habt ihr uns aus Ägypten geführt an diesen bösen Ort, wo man nicht säen kann, wo weder Feigen noch Weinstöcke noch Granatäpfel sind und auch kein Wasser zum Trinken ist? (6) Da gingen Mose und Aaron von der Gemeinde hinweg zum Eingang der Stiftshütte und fielen auf ihr Angesicht, und die Herrlichkeit des HERRN erschien ihnen. (7) Und der HERR redete mit Mose und sprach: (8) Nimm den Stab und versammle die Gemeinde, du und dein Bruder Aaron, und redet zu dem Felsen vor ihren Augen; der wird sein Wasser geben. So sollst du ihnen Wasser aus dem Felsen hervorbringen und die Gemeinde tränken und ihr Vieh. (9) Da nahm Mose den Stab, der vor dem HERRN lag, wie er ihm geboten hatte. (10) Und Mose und Aaron versammelten die Gemeinde vor dem Felsen, und er sprach zu ihnen: Höret, ihr Ungehorsamen, werden wir euch wohl Wasser hervorbringen können aus diesem Felsen? (11) Und Mose erhob seine Hand und schlug den Felsen mit dem Stab zweimal. Da kam viel Wasser heraus, sodass die Gemeinde trinken konnte und ihr Vieh. (12) Der HERR aber sprach zu Mose und Aaron: Weil ihr nicht an mich geglaubt habt und mich nicht geheiligt habt vor den Israeliten, darum sollt ihr diese Gemeinde nicht ins Land bringen, das ich ihnen geben werde. (13) Das ist das Haderwasser, wo die Israeliten mit dem HERRN haderten und er sich heilig an ihnen erwies.

Jes.48,21

Sie litten keinen Durst, als er sie leitete in der Wüste. Er ließ ihnen Wasser aus dem Felsen fließen, er spaltete den Fels, dass Wasser herausrann.

Jes.55,1

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

Ps.77,16.20

(LXX-D)

(16) Und er ließ Wasser aus einem Felsen herausströmen und ließ wie Flüsse Wassermassen herabströmen … (20) Da er (auf) einen Felsen schlug und Wassermassen flossen und reißende Ströme herabfluteten – kann er etwa auch Brot geben oder seinem Volk einen Tisch bereiten?

Sach 14,8

Und an jenem Tag werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen, die eine Hälfte zum Meer im Osten und die andere Hälfte zum Meer im Westen, und so wird es sein im Sommer und im Winter.

Vermutlich handelt es sich um eine Kombination von Ps.77,16.20 und Sach.14,8. Das Psalmwort erwähnt den Felsenbrunnen, das Prophetenwort kündet das endzeitliche Entspringen der Quelle lebendigen Wassers im Jerusalemer Tempel an.

 

„Der joh Jesus stellt diese Anspielungen auf die Schrift auf frappierende Weise neu zusammen: Das lebendige Wasser, das in der Wüste floss, als Mose auf den Felsen schlug, oder das aus der Tempelquelle floss, wird nun mit seiner Person assoziiert“ und Jesus „tritt an die Stelle des Tempels“ (Zumstein, 309f.).

 

(39) Es folgt ein Kommentar des Evangelisten. Er erklärt, dass Jesus dies „von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten“ gesagt habe. Die „Ströme lebendigen Wassers“ sind demnach der „Heilige Geist“ (14,26) bzw. der „Geist der Wahrheit“ (14,17), den Jesus „vom Vater“ „senden“ wird (15,26). Dabei handelt es sich um eine Gabe, die erst nach der Verherrlichung Jesu – also nach seinem Sieg am Kreuz (12,23-26; 19,30) – gesandt wird.

 

 

Diese Predigt Jesu trifft im Volk sowohl auf Zustimmung, als auch auf Ablehnung (vgl. 7,12.25-28.31).

 

(40) Etliche nun aus dem Volk, die diese Worte hörten, sprachen: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. (41) Andere sprachen: Er ist der Christus. Wieder andere sprachen: Soll der Christus etwa aus Galiläa kommen? (42) Sagt nicht die Schrift: Aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo David war, kommt der Christus? (43) So entstand seinetwegen Zwietracht im Volk. (44) Einige von ihnen wollten ihn ergreifen; aber niemand legte Hand an ihn.

 

(40-42) Einige sind der Meinung, dass Jesus „wahrhaftig der Prophet“ ist, der eschatologische Prophet gemäß 5 Mos 18,15-18 (vgl. 1,21; 6,14). Andere sagen: „Er ist der Christus“ (vgl. 1,20.41).

 

Diese Auffassung stößt auf Kritik. Dabei geht es wieder um die Jesu Herkunft – diesmal allerdings mit einem anderen Akzent. Waren seine Gegner in 7,27 der Auffassung, dass Jesus nicht der Christus sein könne, weil seine Herkunft bekannt, die Herkunft des Christus aber unbekannt sei, nimmt man nun Bezug darauf, dass Jesus „aus Galiläa“ kommt (so auch das Johannesevangelium: 1,45f.; 7,51; 18,5.7), während die Schrift betone, dass der Christus „aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo David war, kommt“  (zur davidischen Abstammung des Messias: 2 Sam 7,12; Jes 11,1; zu Bethlehem als Geburtsort: 1 Sam 16,18; 20,6; 2 Sam 2,32; Mi 5,1).

 

„Erstaunlicherweise führt Johannes die in Mt.2,1.5/Lk 2,1-10 belegte Bethlehemtradition nicht als Gegenargument an. Zwei Gründe mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein: 1) Johannes weiß um Jesu Geburt in Nazareth und verschweigt dieses historische Faktum nicht. 2) Der Glaube an Jesus Christus als den Sohn und Gesandten Gottes kann nicht durch seine irdische Herkunft, sondern allein durch seine himmlische Herkunft belegt werden.“ (Schnelle, 198f.).

 

(43-44) Aufgrund dieser gegenteiligen Auffassungen kommt es „seinetwegen“ zum „Zwietracht im Volk“.  Erneut wollen „einige von ihnen … ihn ergreifen“ – und wieder gelingt das auf geheimnisvolle Weise nicht (vgl. 7,30)

 

 

Nach dem Bericht der Knechte kommt erst zum Streitgespräch zwischen ihnen Knechte und den „Hohenpriestern und Pharisäern“ und dann Streit unter den Pharisäern.

 

(45) Da kamen die Knechte zu den Hohenpriestern und Pharisäern; und die fragten sie: Warum habt ihr ihn nicht gebracht? (46) Die Knechte antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen. (47) Da antworteten ihnen die Pharisäer: Seid ihr auch verführt worden? (48) Glaubt denn einer von den Oberen oder von den Pharisäern an ihn? (49) Nur das Volk tut's, das nichts vom Gesetz weiß; verflucht ist es. (50) Spricht zu ihnen Nikodemus, der vormals zu ihm gekommen war und der einer von ihnen war: (51) Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut? (52) Sie antworteten und sprachen zu ihm: Bist du auch aus Galiläa? Forsche und sieh: Aus Galiläa steht kein Prophet auf.

 

(45-46) In 7,32 war im Zusammenhang mit Jesus Auftritt zur „Halbzeit“ des Laubhüttenfests davon die Rede, dass die Hohenpriester und Pharisäer Knechte aussandten, um ihn zu ergreifen. Am letzten Tag des Laubhüttenfestes (7,37) kommen sie zu den Hohenpriestern und Pharisäern zurück – aber ohne Jesus als Gefangenen mit sich zu führen. Deshalb fragen die Hohenpriester und Pharisäer: „Warum habt ihr ihn nicht gebracht?“  Die Knechte verweisen auf die außergewöhnliche Verkündigung Jesu: „Noch nie hat ein Mensch so gesprochen.“

 

(47-49) Die Pharisäer antworten ihnen mit der vorwurfsvollen Frage „Seid ihr auch verführt worden?“ (vgl. 7,12) und mit dem Argument, dass von den Oberen und Pharisäern niemand an ihn glaubt, sondern nur das gesetzesunkundige Volk, das in ihren Augen „verflucht“ ist (vgl. 5 Mos 27,26: „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er danach tue! Und alles Volk soll sagen: Amen.“)

 

Der Ausdruck „das Volk, … das nichts vom Gesetz weiß“ knüpft an die Bezeichnung der heidnisch-jüdischen Mischbevölkerung … im Buche Esr-Neh an und kennzeichnete die Gesetzesunkundigen als solche, die nicht zum eigentlichen Israel gehörten.“ „Der griechischen Wendung liegt der rabbinische Fachausdruck ʿam ha-aretz zugrunde, der eigentlich ‚Volk des Landes‘ bedeutet und eine geringschätzige und gehässige Bezeichnung für alle Juden wurde, welche die weitgehenden Gesetzesvorschriften, vor allem für die Zehntabgaben und die levitische Reinheit, nicht beobachteten.“ (Schnackenburg II, 221f.).

 

(50-52) Aber Nikodemus, der selbst Pharisäer ist und Jesus zu einem nächtlichen Dialog getroffen hatte (3,1ff.), entgegnet, dass das Gesetz eine Anhörung und eine genaue Untersuchung verlangt (z.B. 2 Mos 23,1; 5 Mos 1,16-17; 17,4; 19,18). Er muss also diejenigen, die über das gesetzesunkundige Volk schimpfen, selbst an das Gesetz erinnern.

 

Die übrigen Pharisäer lassen sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen fragen sie ihn, ob er vielleicht „auch aus Galiläa“ stammt, der Hochburg der Jesus-Anhänger. Und voller Überheblichkeit fordern sie ihn auf, in den Heiligen Schriften zu forschen, um festzustellen: „Aus Galiläa steht kein Prophet auf“  (zu „Prophet“ vgl. 5 Mos 18,15-18; Joh 7,40; zu Galiläa als einem Ort, aus dem kein Prophet und Messias kommt, vgl. 7,41-42).

 

 

Die Verse 7,53 – 8,11 sind „kein ursprünglicher Bestandteil des vierten Evangeliums. Diese Geschichte ist wohl erst aufgrund von 8,15 in den Text eingefügt worden.“ (Schneider, 172).

 

 

4.3.1.4  Eskalation und Ende der Streitgespräche (8,12-59)

 

Die 7,13-52 geschilderten Streitgespräche fanden in der Mitte und am Ende des Laubhüttenfestes statt. Ab 8,12 wird das Laubhüttenfest nicht mehr erwähnt. Die Streitgespräche aber gehen weiter – vermutlich unmittelbar nach Ende des Festes.

 

 

Jesus läutet die neue und abschließende Runde seiner Streitgespräche nicht nur mit einer Einladung an, sich auf ihn einzulassen, sondern auch mit einer „Ich-bin-Aussage“. Das führt sofort zu einer Auseinandersetzung über das Recht bzw. die Begründung einer solchen Behauptung.

 

(12) Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (13) Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. (14) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe. (15) Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand. (16) Wenn ich aber richte, so ist mein Richten wahr, denn ich bin's nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat. (17) Auch steht in eurem Gesetz geschrieben, dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei. (18) Ich bin's, der von sich selbst zeugt; und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir. (19) Da sprachen sie zu ihm: Wo ist dein Vater? Jesus antwortete: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. (20) Diese Worte redete Jesus an dem Gotteskasten, als er lehrte im Tempel; und niemand ergriff ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

 

(12) Jesus erklärt den Pharisäern (8,13): „Ich bin das Licht der Welt“  (zur Liste der „Ich-bin-Aussagen“ im Johannesevangelium vgl. zu 6,35).

 

Diese Aussage knüpft möglichweise an das vermutlich kurz zuvor abgeschlossene Laubhüttenfest an. Abends stellte man dort „4 goldene Leuchter auf und goss in ihre großen goldenen Schalen eine Menge Öl (120 Log, fast 65 l). Die Leuchter ragten über die Umfassungsmauern des Tempels empor und sollten ihr Licht über ganz Jerusalem ausbreiten. ‚Es gab keinen Hof in Jerusalem, der nicht hell wurde vom Licht der Stätte des Schöpferns‘ (Sukka V, 3b). Dann wurde ein Freudenfest gefeiert.“ (Schnackenburg II, 239).

 

Ein weiterer Bezug zwischen der Aussage Jesu und dem Laubhüttenfest ist möglicherweise darin zu finden, dass dieses Fest auch an die Wüstenwanderung Israels erinnerte (3 Mos 23,39-43), bei der eine Feuersäule dem Volk den Weg wies (2 Mos 13,21; 14,24; 40,38). Dann würde nicht nur zur Aussage „Ich bin das Licht der Welt“ passen, sondern auch zur anschließenden Verheißung: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“  Jesus würde sich dann als neue – und endgültige – Feuersäule bezeichnen, die dem Volk Gottes den Weg weist.

 

Auch ohne Bezug zum Laubhüttenfest ist im Johannesevangelium von Jesus als dem Licht die Rede:

1,4-5

(4) In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (5) Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.

1,7-9

(7) Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten. (8) Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.(9) Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.

3,19-21

(19) Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. (20) Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. (21) Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.

9,5

Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

12,35-36

(35) Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. (36) Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.

12,46

Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.

Im Johannesevangelium ist die Bedeutung der Aussage „Ich bin das Licht der Welt“ klar. Jesus erklärt sich damit zur finalen und universalen Offenbarung Gottes.

 

Wenn im AT im übertragenen Sinne von „Licht“ die Rede ist, ist zunächst das Wort Gottes (Ps 119,105: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“) bzw. das Gesetz (Spr 6,23: „Denn das Gebot ist eine Leuchte und die Weisung ein Licht …“) gemeint. Später wird auch die Weisheit als Licht bezeichnet (Weish.7,25-26: „(25) Denn sie ist ein Hauch der göttlichen Kraft und ein reiner Strahl der Herrlichkeit des Allmächtigen; darum kann nichts Unreines in sie hineinkommen. (26) Denn sie ist ein Abglanz des ewigen Lichts und ein fleckenloser Spiegel des göttlichen Wirkens und ein Bild seiner Güte.“). In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass der Gottesknecht, von dem im zweiten Teil des Buches Jesaja immer wieder die Rede ist, als „Licht der Völker“ bezeichnet wird (Jes.49,6: „… Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“)

 

Jesus fügt der Selbstaussage sofort eine entsprechende Einladung und Verheißung hinzu: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ 

 

Jemandem nachzufolgen meint natürlich, hinter ihm herzugehen, ist aber bereits in den synoptischen Evangelien eine Bezeichnung für das Leben als Jünger Jesu (Mk 1,16-18). Im Johannesevangelium zeigt sich das z.B. an folgenden Stellen:

10,4

Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme.

10,27

Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir

12,26

Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

21,22

Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach!

In 12,46 findet sich eine Parallele zu 8,12 („Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“). Aber anstelle von „wer mir nachfolgt …“ heißt es dort: „wer an mich glaubt …“. „Nachfolgen bedeutet, gläubig und gehorsam auf die Stimme des Offenbarers zu hören und sich so als zu ihm zugehörig zu erweisen (…).“ (Schnackenburg II, 241).

 

Die Verheißung der Nachfolge Jesu wird erst negativ („… wird nicht wandeln in der Finsternis …“) und dann positiv („… wird das Licht des Lebens haben …“) beschrieben. Mit „Finsternis“ ist die dem Bösen verfallene Menschenwelt gemeint (Schnackenburg I, 222), in der der Mensch orientierungslos umher geht (12,35: „… Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“; vgl. zu 1,5). In der Finsternis zu wandeln „charakterisiert die Existenzsituation des Menschen, der ohne das Licht der Heilsoffenbarung ziel- und richtungslos dahinlebt … und in dieser Gottesferne hoffnungslos dem Todesgeschick preisgegeben ist.“ (Schnackenburg II, 242).

 

Das „Licht“ aber zeigt den Weg und gibt Orientierung. Das Licht, dass derjenige bekommt, der Jesus, dem „Licht der Welt“ nachfolgt, ist das „Licht des Lebens“. Es ermöglich „das wahre Leben …, die Teilnahme an Gottes ewigem Leben“ (Schnackenburg II, 242) – nicht erst in der Zukunft, sondern bereits hier und heute (5,24: „… der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“).

 

(13) In dem folgenden Streitgespräch geht es aber nicht darum, diese Selbstaussage Jesu besser zu verstehen und weiter zu entfalten, sondern um die Frage, mit welcher Berechtigung Jesus so etwas sagen kann.

 

„Die Pharisäer fassen Jesu Selbstoffenbarung als Selbstzeugnis auf. Es unterliegt dem Verdacht der Selbstbegründung und muss aus ihrer Perspektive hinterfragt werden.“ (Schnelle, 205).

 

Dabei berufen sie sich vermutlich auf Aussagen der Thora, nach denen immer mehrere Zeugen notwendig sind:

4 Mos 35,30

Wer einen Menschen erschlägt, den soll man töten auf den Mund von Zeugen hin. Ein einzelner Zeuge aber soll keine Aussage machen, um einen Menschen zum Tode zu bringen.

5 Mos 17,6

Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist, aber auf nur eines Zeugen Mund soll er nicht sterben

5 Mos 19,15

Es soll kein einzelner Zeuge gegen jemand auftreten wegen irgendeiner Missetat oder Sünde, was für eine Sünde es auch sei, die man tun kann, sondern durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll eine Sache gültig sein.

 

(14-15) „Jesus akzeptiert die von seinen Gegnern … gewählte Diskussionsebene (…) und beginnt ein ‚juristisches Streitgespräch‘ über die Gültigkeit seines Anspruchs.“ (Zumstein, 326). Dabei „… setzt sich Jesus über den in der Thora verankerten Rechtsgrundsatz hinweg und besteht darauf, dass sein Wort die volle Wahrheit enthält, so dass es keiner weiteren Zeugnisse bedarf. Er begründet seine Auffassung mit dem Satz, dass er vom Vater ausgegangen ist und zu ihm zurückkehrt.“ (Schneider, 174). „Er hat ein klares Wissen – die wichtigste Qualifikation eines Zeugen –, und zwar ein Wissen um seinen Ursprung und sein Ziel, so dass er um sich selbst weiß und über sich selbst aussagen kann. Er kommt als einziger ‚von oben‘, aus der himmlischen Welt Gottes und ‚bezeugt‘, was er gesehen und gehört hat (3,31f.). Dies kann kein anderer bezeugen, und darum muss Jesu Offenbarung notwendig ein Selbstzeugnis sein.“ (Schnackenburg II, 244; zum „Woher“ und „Wohin“ Jesu vgl. 7,27-29.33-36).

 

Seine Gegner aber kennen weder sein „Woher“ und „Wohin“. Jesus nennt den Grund dafür: „Ihr richtet nach dem Fleisch …“  „Nach dem Fleisch“ zu richten bedeutet, Dinge nach rein menschlichen Maßstäben zu beurteilen (vgl. zu 3,6). „Die Gegner … sind dem Irdisch-Diesseitigen verhaftet, und ihre Urteile entsprechen dieser Kategorie.“ (Schnelle, 205).

 

Und er fügt hinzu: „Ich richte niemand.“ Ähnlich hatte er sich bereits in 3,17-18 ausgedrückt: „(17) Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. (18) Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.“  Er richtet seine Gegner nicht dafür, dass sie ihm keinen Glauben schenken, sondern ihn nach menschlichen Maßstäben beurteilen – aufgrund ihres Unglaubens sind sie nämlich bereits gerichtet.

 

(16-18) Hatte Jesus eben noch betont, dass sein Zeugnis auch ohne weitere Zeugen wahr ist, führt er nun doch einen zweiten Zeugen ein – seinen Vater, der ihn gesandt hat.

 

Der erste Teil von Vers 16 scheint im Widerspruch zum Ende von Vers 15 zu stehen. Hatte er dort gesagt: „… ich richte niemand“, so heißt es nun: „Wenn ich aber richte, so ist mein Richten wahr …“ Ähnliche Gedankengänge finden sich aber im Johannesevangelium auch an anderer Stelle:

1,10-12

(10) Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. (11) Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. (12) Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben,

3,32-33

(32) Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er; und sein Zeugnis nimmt niemand an. (33) Wer aber sein Zeugnis annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.

Deshalb ist anzunehmen, dass auch hier bewusst so formuliert wird.

 

Was aber meint Jesus, wenn er sagt: „Wenn ich aber richte, so ist mein Richten wahr …“? Geht es hier um das Gericht? Dafür spricht die Parallele aus 5,30: „Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“  Oder geht es hier um das Urteilen? Dafür spricht der unmittelbare Zusammenhang (8,13-15), in dem es ja um die Beurteilung des Anspruchs Jesu geht. Die Begründung ist in beiden Fällen klar: Jesus steht mit seinem Richten „nicht allein“, sondern in Übereinstimmung mit seinem Vater, der ihn gesandt hat.

 

Dabei bezieht sich Jesus auf die Bestimmungen der Thora, nach denen „zweier Menschen Zeugnis wahr“ ist (vgl. zu 8,13). Anschließend stellt er fest, dass er 1. „von sich selbst zeugt“ und 2. der Vater, der ihn gesandt hat, von ihm „zeugt“ (vgl. 5,36-39).

 

„Als der Gesandte Gottes gibt er selbst ein vollgenügendes Zeugnis, weil in ihm der Vater spricht (V.14); als Gesandter Gottes aber lässt er sich vom Sendenden unterscheiden, und so treten zwei Zeugen in den Blick … Ihrem Verlangen ist formell Genüge getan, und doch in einer Weise, dass ihr eigentliches Verlangen unerfüllt bleibt.“ (Schnackenburg II, 246f.). Eine Beglaubigung durch menschliche Autoritäten, wie sie die Pharisäer fordert, unterbleibt bewusst (vgl. 8,15).

 

(19a) Dass Jesus den Vater, der ihn gesandt hat, als zweiten Zeugen aufruft, provoziert die kritische Rückfrage seiner Gegner: „Wo ist denn dein Vater?“

 

(19b) Daraufhin erklärt Jesus ihnen unumwunden, dass sie weder ihn, noch seinen Vater kennen und begründet seine Behauptung damit, dass sie seinen Vater nur dann kennen, wenn sie erkennen, was es mit ihm auf sich hat. M.a.W.: Die Erkenntnis Jesu und die Erkenntnis Gottes sind untrennbar miteinander verbunden – und zwar so, dass die Erkenntnis Gottes von der Erkenntnis Jesu Christi abhängt.

 

Ähnliche Aussagen finden sich auch an anderen Stellen des johanneischen Schrifttums:

12,45

Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat.

14,9

Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater?

15,21

Aber das alles werden sie euch tun um meines Namens willen; denn sie kennen den nicht, der mich gesandt hat.

1 Joh 2,23

Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater.

2 Joh 9

Wer darüber hinausgeht und bleibt nicht in der Lehre Christi, der hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt, der hat beide, den Vater und den Sohn.

 

(20) Dieses Streitgespräch, so fügt der Evangelist hinzu, fand beim „Gotteskasten“ statt, als Jesus im Tempel lehrte – also „an jener Stelle im Tempelbezirk, wo der Frauenvorhof lag, das gesamte Volk Zutritt hatte und die Opferkästen sowie die Aufbewahrungskammern für die Tempelschätze lagen. Der Frauenvorhof war auch der Ort, wo während des Laubhüttenfestes die große nächtliche Lichtfeier stattfand.“ (Schnelle, 205).

 

Erneut wird berichtet, dass er nicht festgenommen wird, weil „seine Stunde …noch nicht gekommen“ ist (7,30.44).

 

 

Dass seine Verhaftung in der Luft liegt, nimmt Jesus – wie in 7,32f. – zum Anlass, über seinen Weggang und die damit verbundenen Folgen für seine Gegner zu sprechen.

 

(21) Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. (22) Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen? (23) Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. (24) So habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden. (25) Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Was soll ich euch zuerst sagen? (26) Ich habe viel über euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. (27) Sie erkannten aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach. (28) Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir aus tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. (29) Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. (30) Als er das sagte, glaubten viele an ihn.

 

(21) Der Vers erinnert an 7,33-34: „(33) Da sprach Jesus: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat. (34) Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.“  

 

Dass Jesus weggeht bedeutet, dass er zu dem geht, der ihn „gesandt hat“, also zu seinem Vater (vgl. zu 7,33-34). Dann werden sie ihn vergeblich „suchen“. Die Folge, die das für sie hat, bringt Jesus nun noch klarer auf den Punkt. Hieß es in 7,33 „ihr werdet mich suchen und nicht finden“, formuliert Jesus den gleichen Sachverhalt direkt und ohne Umschweife: „… und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben …“  

 

Interessanterweise ist hier nicht von „Sünden“ (Plural), sondern von „Sünde“ (Singular) ist Rede. Nach 16,9 ist mit „Sünde“ gemeint, nicht an Jesus zu glauben (16,8-9: „(8) Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; (9) über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben …“).

 

Warum werden sie ihn vergeblich suchen und in ihrer Sünde sterben? Weil sie nicht an den Ort gelangen können, an den Jesus geht – in die Gegenwart seines himmlischen Vaters. Für sie ist es unmöglich, „Zugang zur Welt Gottes zu bekommen.“ (Z, 330).

 

(22) Erneut wird diese Aussage missverstanden. Dachten seine Gegner in 7,35 an seinem Weggang in die Diaspora, verstehen sie sein Wort jetzt als Andeutung seines Selbstmordes. Möglicherweise handelt es sich um eine „bewusste Missdeutung und eine sarkastische Beschimpfung: Er will zur Hölle abfahren – dorthin können und wollen wir ihm nicht folgen. Sie verdächtigen den, der das Licht des Lebens verheißt, sich selbst das Leben zu nehmen, und bestätigen so ihre ‚Sünde‘.“ (Schnackenburg II, 251). Ungeachtet dessen enthält „ihr Missverständnis … aber ein Stück Wahrheit: Jesus spricht wirklich von seinem Tod. Aber dieser Tod ist kein Selbstmord, durch den er seinen Gegnern entkommen könnte (…), sondern ist der Weg, der zum Vater führt.“ (Zumstein, 330).

 

(23-24) Daraufhin erklärt Jesus ihnen noch einmal, warum sie nicht dorthin kommen können, wo er hingeht und in ihren Sünden sterben werden. Der Grund lautet: „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.“ Der Grund ist die Herkunft. Während seine Gegner „von unten“ bzw. „von dieser Welt“ sind, kommt er „von oben her“ und ist „nicht von dieser Welt“ (vgl. 3,31: „Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, ist über allen.“). „Er und sie gehören zwei verschiedenen Welten an, der göttlichen und der widergöttlichen. Eben deshalb gilt – so wird mit Rückweisung auf V.21 gesagt – , dass sie in ihren Sünden sterben werden.“ (Bultmann, 265).

 

„Der Abgrund, der Jesus von den Juden trennt, ist freilich nicht unüberbrückbar. Sie würden dem ewigen Tod entrinnen und dahin kommen, wo er bald sein wird, wenn sie glauben würden, ‚dass er [es] ist‘.“ (Schneider, 177). Aber wenn sie nicht an Jesus glauben, werden sie in ihren Sünden sterben.

 

(25a) Seine Gegner greifen die Aussage „wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin“ auf, und fragen: „Wer bist du denn?“  Die Frage kann ernst, aber auch ironisch gemeint sein.

 

(25b-26) Der erste Satz der Antwort Jesu (τὴν ἀρχὴν ὅ τι καὶ λαλῶ ὑμῖν) bereitet den Übersetzern Schwierigkeiten.

 

Dabei geht es vor allem um die beiden ersten Worte (τὴν ἀρχὴν); der Rest des Satzes ist eigentlich klar und muss mit „was rede ich auch mit euch?“ übersetzt werden. Was aber bedeutet das Nomen ἀρχὴν im Akkusativ (τὴν ist der entsprechende Artikel im Akkusativ)? Es hat verschiedene Bedeutungen, vor allem die folgenden: Anfang, Beginn, Ursprung, Ursache, Prinzip, Amt, Regierung, Obrigkeit. Die LB meint, dass es hier um den Anfang geht und übersetzt daher: „Was soll ich euch zuerst sagen?“  Das passt durchaus zum Zusammenhang, weil Jesus anschließend bemerkt: „Ich habe viel über euch zu reden und zu richten …“ Gleiches gilt, wenn man von der Bedeutung i.S.v. Ursache ausgeht und mit „was rede ich überhaupt noch mit euch?“ übersetzt (z.B. Wengst, 258).

 

Aber wenn nicht klar ist, welcher Übersetzung der Vorzug zu geben ist: Jesus macht eine hier eine Bemerkung, die zeigt, dass er das Gespräch mit den Pharisäern als problematisch betrachtet.

 

Anschließend weist er darauf hin, dass er noch viel „über“ seine Gegner „zu reden und zu richten“ hätte (dabei hatten seine Gegner ihn gefragt: „Wer bist du denn?“). Aber er verzichtet darauf und erklärt stattdessen noch einmal, wer er ist und was er tut. Er verkündet der Welt, was er von dem gehört hat, der ihn „gesandt hat“ (vgl. 4,34; 5,23f.39.37; 6,38f.40.44; 7,16.18.28.33; 8,16.18.29; 9,4; 12,44f.49; 14,24; 15,21; 16,5; 20,21) und der „wahrhaftig“ ist (vgl. 7,18).

 

(27) Die Pharisäer erkennen nicht, dass Jesus mit dem, der ihn gesandt hat, seinen Vater im Himmel meint.

 

(28-29) Daraufhin erklärt er ihnen, wann sie erkennen werden, dass er der von Gott Gesandte ist, der nicht von sich aus agiert, sondern verkündigt, was ihn „der Vater gelehrt hat“. Das wird der Fall sein, wenn sie „den Menschensohn erhöhen“.

 

Von sich als dem Menschensohn spricht Jesus auch in 1,51; 3,13.14; 5,27; 6,27.53.62; 9,35; 12,23.34; 13,31. Mit seiner Erhöhung ist sein Tod am Kreuz gemeint (12,32-33: „(32) Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (33) Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“). Von der Erhöhung bzw. Verherrlichung des „Menschensohns“ ist in diesem Sinne auch in 12,23.34; 13,31 die Rede.

 

Zu den Folgen, die es für seine Gegner hat, wenn sie angesichts seines Kreuzestodes erkennen, was es mit Jesus auf sich hat, wird nichts gesagt. Vermutlich ist es dann für sie zu spät (Bultmann, 265; vgl. 7,33-34; 8,21.24; anders: Schnackenburg II, 256f.).

 

Fest steht jedoch: „Der am Kreuz Erhöhte zwingt die Erkenntnis auf, dass er in seinen Erdentagen nichts von sich aus getan, sondern stets nach der Weisung des Vaters geredet hat …“ (Schnackenburg II, 257). Und weil er „allezeit“ (bis in den Tod) tut , „was ihm gefällt“, steht der Vater stets an seiner Seite und lässt ihn „nicht allein“.

 

(30) „Die Szene schließt mit einer überraschenden Bemerkung: ‚Als er das redete, gewannen viele Vertrauen auf ihn.‘ Der vorangehende Gesprächsverlauf mit seinen verhärteten Positionen legt eine solche Reaktion nicht nahe. Möglicherweise hat sich Johannes außer den direkten Gesprächspartnern Jesu, den führenden Juden, noch eine größere Zuhörerschaft vorgestellt, was bei der Verortung im Tempelbereich leicht denkbar ist. Auf Teile von ihr könnte sich diese Bemerkung beziehen.“ (Wengst, 272).

 

 

„Im folgenden Abschnitt wird der Glaube dieser für seine Sache gewonnenen ‚Juden‘ auf die Probe gestellt.“ (Zumstein, 337)

 

(31) Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger (32) und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. (33) Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Nachkommen und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? (34) Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. (35) Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. (36) Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.

 

(31-32) Jesus erklärt den Juden, die aufgrund des Streitgesprächs bzw. als dessen Zeugen (vgl. zu 8,30) an ihn glauben: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger …“  

 

Vom „Bleiben“ ist im johanneischen Schrifttum vor allem an folgenden Stellen die Rede:

Joh 15,4-10

(4) Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. (5) Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. (6) Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. (7) Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. (8) Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. (9) Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! (10) Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe.

1 Joh 2,27-28

(27) Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehre; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist's wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm. (28) Und nun, Kinder, bleibt in ihm, damit wir, wenn er offenbart wird, freimütig reden und nicht zuschanden werden vor ihm, wenn er kommt.

2 Joh 9

Wer darüber hinausgeht und bleibt nicht in der Lehre Christi, der hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt, der hat beide, den Vater und den Sohn.

 

Nun geht es um das Bleiben an seinem Wort. Das Wort Gottes ist demnach so etwas wie ein „Lebensraum …, in dem der Mensch sich dauernd aufhalten darf“ (Schnelle, 208; vgl. 8,37: „Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Nachkommen seid; aber ihr sucht mich zu töten, denn mein Wort findet bei euch keinen Raum.“)

 

Nur wer dieses Kriterium erfüllt, ist „wahrhaftig“ ein Jünger Jesu. „Nicht die schnelle Zustimmung, sondern die Glaubenstreue verleiht den Charakter echter Jüngerschaft.“ (Bultmann, 332).

 

Dieser echten Jüngerschaft gilt die Verheißung: „… und werdet die Wahrheit erkennen“. Mit „Wahrheit“ ist, wie in 1,14, die sich offenbarende göttliche Wirklichkeitgemeint (Bultmann, 50). Die Wahrheit zu „erkennen“ heißt: „innewerden, ob diese Lehre von Gott ist“ (7,17). Wer auf Dauer an Jesus Wort bleibt, wird dessen „göttliche Herkunft und Heilkraft erkennen.“ (Schnackenburg II, 261).

 

Die Erkenntnis der Wahrheit führt den Menschen in die Freiheit. Von der Freiheit ist im ganzen johanneischen Schrifttum nur in dem kleinen Abschnitt 8,31-36 die Rede. Wovon soll der Glaubende befreit werden? In seiner Antwort auf die kritische Rückfrage seiner Zuhörer (8,34) wird deutlich, dass Jesus an die Freiheit von der Macht der Sünde denkt, an „die durch die Sünde, durch Lüge, Finsternis und Tod hervorgerufene Entfremdung“ (Zumstein, 338).

 

Zusammengefasst kann zu Vers 32 gesagt werden: „Als Wahrheit erschließt Jesus den Glaubenden den Sinn seiner Sendung, offenbart ihnen den Vater und befreit sie dadurch von den Mächten des Todes, der Sünde und der Finsternis.“ (Schnelle, 208).

 

(33) Auf diese Aussage Jesu reagieren auch die Juden, die an ihn glauben (8,31), skeptisch. Sie verweisen darauf, dass sie als „Abrahams Nachkommen … niemals jemandes Knecht gewesen“ sind – und verstehen daher nicht, wie Jesus sagen kann: „… und die Wahrheit wird euch frei machen“.

 

Inwiefern meinen sie, „niemals jemandes Knecht gewesen“ zu sein? Politisch? Wirtschaftlich? Viel spricht dafür, dass sie hier betonen, als „Abrahams Nachkommen“  niemals Knechte anderer Götter gewesen zu sein (vgl. Gal 4,8-9: „(8) Aber zu der Zeit, als ihr Gott noch nicht kanntet, dientet ihr denen, die ihrer Natur nach nicht Götter sind. (9) Nun aber, da ihr Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt seid, wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Mächten zu, denen ihr von Neuem dienen wollt?“). Dann ist gemeint: „Sie sind Nachkommen Abrahams (…), also Empfänger der göttlichen Erwählung, die Gott seinem Volk in der Person des Patriarchen zukommen lassen hat und deren Ausdruck der Bund ist. Von Abraham haben sie den Glauben an den Einzigen Gott geerbt. Niemals haben sie fremde Götter verehrt (…). Der monotheistische Glaube gehört seit jeher zu ihrer Identität, schon vor ihrem Kommen zu Jesus. Im Gegensatz zu Jesu Behauptung (…) müssen sie also nicht vom Götzenkult befreit werden, um zum wahren Glauben, genauer gesagt, zur wahren göttlichen Wirklichkeit zu gelangen.“ (Zumstein, 339).

 

(34) Daraufhin erklärt Jesus ihnen mit Hilfe eines Offenbarungswortes („wahrlich, wahrlich …“), dass sie sehr wohl Knechte sind. Denn: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ 

 

Auch hier ist – wie in 8,21 – nicht von „Sünden“, sondern von „Sünde“ (Singular) ist Rede, womit der Unglaube gegenüber Jesus gemeint ist (vgl. 8,24; 16,8-9). Sünde tun bezeichnet hier daher „die Ablehnung der göttlichen Offenbarung im grundsätzlichen Sinn“ (Zumstein, 339).

 

Die Folge ist klar: „Wer mit Gott in Konflikt tritt oder sich von ihm abwendet, der verliert sich. Er ist nicht mehr dazu in der Lage, sein Leben zu verstehen und auszurichten: Deshalb verliert er seine Freiheit: Er wird Sklave der Sünde (…).“ (Zumstein, 339).

 

Im Zusammenhang der vorangegangenen Verse bedeutet dies: Jesus, die Offenbarung Gottes, macht frei. Ohne ihn aber ist der Mensch unfrei.

 

(35a) Die Unfreiheit hat Folgen: Wer „Knecht“ ist, „bleibt nicht ewig im Haus“. Sein „Schicksal … ist prekär und unsicher. Er lenkt sein Leben nicht selbst, sondern ist der Macht eines anderen ausgeliefert.“ (Zumstein, 340; möglicherweise ist auch an die Freilassung des Sklaven im Sabbatjahr gedacht, vgl. 2 Mos 21,1-11; 5 Mos 15,12-18). Sein Status als Knecht „gefährdet jegliche stabile Beziehung zum Vater“ (Zumstein, 340).

 

(35b-36) Der Sohn aber hat demgegenüber einen ganz anderen Status. Er „bleibt ewig“. Möglicherweise spielt der Text auf die Geschichte Isaaks an, der – im Unterschied zu Ismael (1 Mos 21,8ff.) – für immer im Haus seines Vaters blieb. Und deshalb kann er frei machen.

 

 

Bisher ist Jesus nicht auf das Argument der Abrahamskindschaft eingegangen (8,33). Das holt er nun nach – und bestreitet seinen jüdischen Sympathisanten, Abrahams Nachkommen zu sein.

 

(37) Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Nachkommen seid; aber ihr sucht mich zu töten, denn mein Wort findet bei euch keinen Raum. (38) Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe; und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt. (39) Sie antworteten und sprachen zu ihm: Abraham ist unser Vater. Spricht Jesus zu ihnen: Wenn ihr Abrahams Kinder wärt, so tätet ihr Abrahams Werke. (40) Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. (41) Ihr tut eures Vaters Werke. Da sprachen sie zu ihm: Wir sind nicht aus Hurerei geboren; wir haben einen Vater: Gott. (42) Jesus sprach zu ihnen: Wäre Gott euer Vater, so liebtet ihr mich; denn ich bin von Gott ausgegangen und komme von ihm; denn ich bin nicht von mir selber gekommen, sondern er hat mich gesandt. (43) Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt! (44) Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge. (45) Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht. (46) Wer unter euch kann mich einer Sünde überführen? Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht? (47) Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid.

 

(37-38) Jesus erklärt seinen Gesprächspartnern, dass ihm ihre abrahamitische Abstammung sehr wohl bekannt ist. Gleichzeitig erinnert er sie daran, dass sie ihn umbringen wollen (7,1.19.25.30.32.44; 8,20) – und nennt als Grund für ihre Absicht, dass sie sein Wort zwar gehört haben, es aber bei ihnen „keinen Raum“ eingenommen hat.

 

Dann weist Jesus darauf hin, dass sowohl er, als auch seine Widersacher von ihrem Vater bestimmt werden. Er redet von dem, was er von seinem Vater gesehen hat; seine Gegner tun, was sie von ihrem Vater gehört haben.

 

(39a) Daraufhin weisen sie Jesus noch einmal darauf hin, dass Abraham ihr Vater ist.

 

(39b-41a) Nun spricht Jesus ihnen ohne Umschweife ab, „Abrahams Kinder“ zu sein. Wenn sie das wären, würden sie „Abrahams Werke“ tun. Das aber tun sie nicht. Sie versuchen, ihn zu töten – also jemand, der ihnen „die Wahrheit gesagt“ hat, die er „von Gott gehört“ hat. So etwas – das ist hier der Punkt – „hat Abraham nicht getan“. „Abrahams Frömmigkeit war in jeglicher Hinsicht unbestritten; niemals hätte er einen Boten Gottes oder sogar den Sohn Gottes töten können.“ (Schnelle, 210). Also kann es sich bei seinen Widersachern nicht um „Abrahams Kinder“  handeln.

 

Deshalb wiederholt – und verschärft? – er seine Aussage von 8,38 („… und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt.“): „Ihr tut eures Vaters Werke.“

 

(41b) Auch wenn Jesus noch nicht ausgesprochen hat, wer seiner Meinung nach ihr Vater ist, haben seine Gegner natürlich verstanden, dass ein schwerwiegender Vorwurf in der Luft liegt. Daher legen sie Wert auf die Feststellung, dass sie doch nicht „aus Hurerei geboren“ sind. Weil Jesus in Frage stellt, dass sie „Abrahams Kinder“ sind, erklären sie: „wir haben einen Vater: Gott“. Dabei liegt die Betonung auf dem Wort „einen“, also dem Monotheismus. „Sie nehmen den Vorwurf Jesu, einen anderen Vater als Abraham zu haben, positiv steigernd auf und behaupten, in einem legitimen Gottesverhältnis zu stehen.“ (Schnelle, 210).

 

(42-47) Daraufhin erklärt Jesus ihnen, dass Gott gar nicht ihr Vater sein kann – weil sie, wenn das wirklich der Fall wäre, nicht versuchen würden, ihn, der von Gott kommt, zu töten, sondern ihn lieben würden. Schließlich ist er nicht aus eigenen Stücken gekommen; Gott hat ihn gesandt.

 

Als von Gott Gesandter verkündet er, was er von seinem Vater „gesehen“ hat (8,38). Aber sie verstehen ihn nicht. Und das liegt daran, dass sie sein Wort gar nicht hören können!

 

Warum können sie sein Wort nicht hören? Weil sie „den Teufel zum Vater“ haben und deshalb gemäß der „Begierden“ ihres Vater handeln wollen. Der Teufel ist 1. „ein Mörder von Anfang an“ und 2. „ein Lügner und der Vater der Lüge“.  Dementsprechend wollen sie Jesus töten und ignorieren die Wahrheit, die er verkündigt (8,40).

 

Die Aussage, dass der Teufel „ein Mörder von Anfang an“ ist (zu „von Anfang an“ vgl. auch 1 Joh 3,8: „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an …“), bezieht sich entweder auf den Sündenfall (1 Mos 3), durch den der Tod in die Welt kam, oder auf den Brudermord von Kain (1 Mos 4; vgl. 1 Joh 3,12).

 

Die „Lüge“ ist das Gegenteil von „Wahrheit“, der göttlichen Offenbarung – und deshalb „der gegengöttliche Bereich schlechthin“ (Schnackenburg II, 290). Dass der Teufel lügt, entspricht seinem Wesen. Alle Lüge hat in ihm seinen Ursprung; er ist der „Vater der Lüge“ – womit vermutlich ebenfalls auf den Sündenfall angespielt wird (1 Mos 3,1-5.13).

 

Da sie „den Teufel zum Vater“ haben, der „ein Lügner und der Vater der Lüge“ ist, schenken sie Jesus keinen Glauben – gerade weil er die Wahrheit sagt.

 

Dass Jesus die Wahrheit sagt, zeigt sich auch daran, dass er sie ganz offen fragen kann: „Wer unter euch kann mich einer Sünde überführen?“  Bei seinen Gegner hat ihre Absicht, Jesus zu töten, gezeigt, dass sie nicht „Abrahams Kinder“ sein können (8,39f.). Bei Jesus gibt es diese Schizophrenie nicht. Er sündigt nicht und sagt deshalb die Wahrheit.

 

Abschließend stellt Jesus die Frage: „Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?“ Jesus selbst gibt die Antwort. Nach dem eben Gesagten ist die Antwort klar: „Gottes Worte“ hört nur der, der „von Gott ist“. Seine Gegner hören nicht, weil sie nicht „von Gott“ sind. „Sie haben überhaupt kein Organ für die göttliche Offenbarung, die er bringt (V 43), weil sie nicht ‚aus Gott‘ sind, das heißt nicht von ihm stammen und nicht seine Art in sich tragen (…).“ (Schnackenburg II, 291).

 

 

Nach diesen Worten eskaliert das Gespräch endgültig. Seine Gegner drehen Jesu Anschuldigung um und auch Jesus betont seine Göttlichkeit so klar, wie nie zuvor.

 

(48) Da antworteten die Juden und sprachen zu ihm: Sagen wir nicht mit Recht, dass du ein Samariter bist und von einem Dämon besessen bist? (49) Jesus antwortete: Ich bin nicht besessen, sondern ich ehre meinen Vater, aber ihr nehmt mir die Ehre. (50) Ich suche nicht meine Ehre; es ist aber einer, der sie sucht und richtet. (51) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit. (52) Da sprachen die Juden zu ihm: Nun erkennen wir, dass du von einem Dämon besessen bist. Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sprichst: Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken in Ewigkeit. (53) Bist du mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Und die Propheten sind gestorben. Was machst du aus dir selbst? (54) Jesus antwortete: Wenn ich mich selber ehre, so ist meine Ehre nichts. Es ist aber mein Vater, der mich ehrt, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott. (55) Und ihr kennt ihn nicht, ich aber kenne ihn. Und wenn ich sagen würde: Ich kenne ihn nicht, wäre ich ein Lügner wie ihr. Aber ich kenne ihn und halte sein Wort. (56) Abraham, euer Vater, wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. (57) Da sprachen die Juden zu ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen? (58) Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich. (59) Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Aber Jesus verbarg sich und ging zum Tempel hinaus.

 

(48) Auf den Vorwurf, „den Teufel zum Vater“ zu haben (8,44) antworten die Juden, indem sie den Vorwurf zurückgeben: „Sagen wir nicht mit Recht, dass du ein Samariter bist und von einem Dämon besessen bist?“  Ein Samariter zu sein, bedeutet hier vor allem, nicht zu „Abrahams Nachkommen“ zu zählen (8,37-40). Außerdem galten die Samariter besonders anfällig für Magie und Zauberei (Schnelle, 213), wozu der zweite Vorwurf passt, dass er „von einem Dämon besessen“ ist (vgl. 7,20: „Das Volk antwortete: Du bist von einem Dämon besessen; wer sucht dich zu töten?“; 10,20: „Viele unter ihnen sprachen: Er ist von einem Dämon besessen und ist von Sinnen; was hört ihr ihm zu?“)

 

(49-51) Jesus weist diesen (Gegen)Vorwurf entschieden zurück und erklärt seinen Gegnern: „Ich ehre meinen Vater“, aber ihr „nehmt mir die Ehre“. Anschließend fügt er hinzu, dass er nicht seine eigne „Ehre“ sucht (vgl. 5,41). Es gibt aber jemanden, der sich darum kümmert, „der sie sucht“. Gemeint ist natürlich Gott (vgl. 8,54). Jesus die Ehre zu nehmen bedeutet also, sich Gott selbst zu widersetzen.

 

Gott sucht nicht nur die Ehre Jesu – er „richtet“ auch. An diese Aussage schließt sich ein weiteres Offenbarungswort („wahrlich, wahrlich, ich sage euch …“) an. In ihm verheißt er allen, die sich an sein Wort halten, das ewige Leben, das hier und heute beginnt, weil jeder, der an ihn glaube, „den Tod nicht sehen“ wird „in Ewigkeit“ (vgl. 5,24; 6,40.47; 11,25f.).

 

(52-53) Für sein Gegner sind diese Aussagen nur ein weiteres Argument, für ihren Gegenvorwurf der Besessenheit. Warum? Weil Abraham und die Propheten gestorben sind und Jesus mit dem Anspruch auftritt, dass alle, die sein Wort halten, „den Tod nicht schmecken“ werden „in Ewigkeit“. In ihren Augen stellt er sich damit über Abraham und die Propheten. Deshalb fragen sie ihn provozierend: „Was machst du aus dir selbst?“

 

(54-56) In 8,50 hatte Jesus bereits gesagt, dass er nicht seine eigene Ehre sucht. Nun fügt er hinzu, dass seine Ehre „völlig wertlos“ wäre, wenn sie „aus einem Akt der Selbstverherrlichung resultieren würde“ (Zumstein, 350). Aber sein Vater ehrt ihn (vgl. 8,50: „… es ist aber einer, der sie sucht und richtet.“).

 

Dann erklärt Jesus, dass sein Vater der ist, von dem seine Gegner sagen: „Er ist unser Gott.“ Aber sie sagen das zu Unrecht, denn im Unterschied zu ihm kennen sie ihn nicht. Er selbst würde lügen, wie seine Gegner das tun, wenn er sagen würde: „Ich kenne ihn nicht.“ Denn er kennt ihn (vgl. 10,15: wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater …“) und hält sein Wort. „Die Erkenntnis Gottes (…) findet sich auf Seiten des joh Jesus, und seine Widersacher … sind die, die Gott nicht kennen (…).“ (Zumstein, 350).

 

Nach der scharfen Zurückweisung des Vorwurfs der Selbstverherrlichung kommt Jesus auf Abraham zu sprechen, den die Juden gegen ihn ausspielen wollten. Vers 56 ist chiastisch formuliert:

Abraham, euer Vater, wurde froh,

A

dass er meinen Tag sehen sollte,

B

und er sah ihn

B‘

und freute sich. 

A‘

 

Mit dem „Tag“ Jesu ist einfach die Zeit gemeint, in der er als Gesandter Gottes unter den Menschen wirkt. Jesus behauptet, dass Abraham diese Zeit vorab sah und sich darüber freute – und deshalb natürlich nicht gegen Jesus ins Feld geführt werden kann.

 

„Nach älteren Traditionen soll Gott bei der Schließung des ‚Bundes zwischen den Stücken‘ Gn 15,9ff. Abraham die fernste Zukunft offenbart haben … Diese Stellen zeigen, dass sich die alte Synagoge vielfach mit den Offenbarungen der Zukunft an Abraham beschäftigt hat; Jesus durfte also bei seinem Ausspruch Joh 8,56 auf einiges Verständnis bei seinen Hörern rechnen.“ (StrBill II, 525f.).

 

„Im Plan der Heilsgeschichte ist Abraham nicht der Höhepunkt … Er hat seinen Platz in der Perspektive der Verheißung und erwartet mit Freude deren Erfüllung mit dem Anbruch des Tages des Messias. In diesem Sinn stützt Abraham … den Anspruch dessen, der behauptet, der Gesandte des Vaters zu sein.“ (Zumstein, 351).

 

(57) Seine Gegner verstehen die Aussage Jesu falsch. Der hatte davon gesprochen, dass Abraham ihn gesehen hat. Die Juden aber meinen, Jesus habe gesagt, dass er Abraham gesehen hat. Das ist in ihren Augen unmöglich, weil Jesus „noch nicht fünfzig Jahre alt“ ist.

 

(58) Aber Jesus nutzt dieses Missverständnis für eine abschließende Offenbarung. Er teilt ihnen mit, dass er tatsächlich Abraham gesehen hat, und erklärt: „Ehe Abraham wurde, bin ich.“ 

 

Abraham „wurde“. Gemeint ist natürlich, dass er geboren wurde. Nun sagt Jesus nicht einfach, dass er vor Abraham da war – also älter ist als er. „Jesu absolutes ‚Ich bin‘ … gehört in den Bereich der Ewigkeit, der Welt Gottes – eine Welt, die in den Begriffen der Temporalität nicht gedacht werden kann. Die Präexistenz … beschreibt den Unterschied zwischen Abraham, der der Endlichkeit und dem Tod unterworfen ist, und dem joh Jesus, dessen Dasein seinen Grund in Gott hat und der mit ihm durch eine Beziehung einzigartiger Nähe verbunden ist.“ (Zumstein, 352). „Präexistenz ist Partizipation an der Gottheit Gottes (vgl. 5,26; 17,5.24).“ (Becker , 310).

 

Außerdem erinnern die Worte „bin ich“ an 2 Mos. 3,14 (EB): „Da sprach Gott zu Mose: ‚Ich bin, der ich bin‘. Dann sprach er: So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der ‚Ich bin‘ hat mich zu euch gesandt.“ Jesus ist „der ‚Ich bin‘“; er ist Gott (vgl. 20,28: „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!“)

 

(59) Für seine Gegner ist das Gotteslästerung. Nach dem Gesetz muss sie mit Tod durch Steinigung bestraft werden (3 Mos 24,10-16). Sie sind so erregt, dass sie dieses Urteil ohne vorherige Verhandlung sofort vollziehen wollen. Aber Jesus versteckt sich und verlässt den Tempel.

 

 

Zusammenfassung:

Weil er von Gott kommt, schenkt Jesus Leben, Licht, Erkenntnis der Wahrheit und Freiheit. Dass er von Gott kommt, kann jedoch nicht mit menschlichen Mitteln erkannt werden, sondern nur im Glauben. Wer nicht an Jesus glaubt, kennt Gott nicht und hat nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater und wird von ihm bestimmt. Deshalb kann die Diskussion Jesu mit seinen Gegnern nur dazu führen, dass die Positionen sich immer unversöhnlicher gegenüberstehen und die Anwendung von Gewalt immer näher rückt.

 

 

 

4.3.2   Die Heilung des Blindgeborenen (9,1-41)

 

Die Szene schließt unmittelbar an 8,59 an. Als Jesus den Tempel verlässt, sieht er dort „einen Menschen, der blind geboren war“. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Frage, wer Jesus eigentlich ist. Erneut wird die ablehnende Haltung der Pharisäer deutlich (vgl. 7,1-8,59). Positives Gegenbeispiel ist der Glaube des Geheilten.

 

Kapitel 9 ist analog zu den Kapiteln 5, 6 und 11 aufgebaut. „Ausgangspunkt ist eine Wundergeschichte (V.1-7), deren Bedeutung dann in einer Reihe von Dialogen (V.8-34) besprochen wird. Der Abschnitt findet seinen Höhepunkt in der Offenbarung der Identität Jesu (V.35-41).“ (Zumstein, 359).

 

 

Die ersten Verse schilden die Begegnung Jesus mit dem Blindgeborenen, ein Gespräch mit seinen Jüngern über das Wirken des Lichtes der Welt und die wunderbare Heilung des  Blindgeborenen.

 

(1) Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. (2) Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? (3) Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. (4) Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. (5) Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. (6) Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden (7) und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

 

(1) Beim Verlassen des Tempels sieht Jesus einen „einen Menschen, der blind geboren war“. Aus 9,8 ergibt sich, dass der Blindgeborene die Besucher des Tempels um Almosen anbettelt.

 

(2-5) Die Begegnung mit dem Blindgeborenen ist zunächst Anlass für ein Lehrgespräch. Die Jünger Jesu fragen ihren Meister nach der Ursache der Krankheit. Dabei gehen sie wie selbstverständlich davon aus, dass sie Folge der Sünde ist. Ungeklärt ist lediglich die Frage: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Hat er vor seiner Geburt gesündigt? Oder ist seine Blindheit die Folge der Sünde seiner Eltern?

 

„Die hier formulierte Alternative entspricht dem volkstümlichen Glauben, da (a) die rabbinische, also spätere Tradition zwar einige Fälle kannte, in denen eine vorgeburtliche Sünde möglich war (speziell in Bezug auf die Kinder von Heiden, die Götzendienst leisteten), (b) vor allem die Bestrafung von Kindern (Krankheit, Missbildung) als Folge eines Ehelebens, das die Regeln der Frömmigkeit nicht beachtet (StrBill II, 529), d.h. als Folge von in der Halacha nicht erlaubten Sexualpraktiken.“ (Zumstein, 363).

 

Jesus aber lehnt beide Interpretationen ab: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern …“. Das bedeutet vermutlich nicht, dass Jesus den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit grundsätzlich leugnet. Schließlich hatte er dem Geheilten am Teich Betesda gesagt: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“  Aber dieser Fall ist anders gelagert: „… sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ (zu „Werke Gottes“ vgl. 4,34; 5,20.36; 6,29; 7,21; 10,25.32.37; 14,10-12; 15,24).

 

„Die Blindheit des Blinden ist … nicht als Offenbarung der Strafe Gottes zu verstehen, sondern als Ort seines befreienden Eingreifens.“ (Zumstein, 363). Ähnliches gilt für das Weinwunder (2,11: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit …“) und die Auferweckung des Lazarus (11,4: „… Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.“).

 

Für diese „Werke Gottes“ bzw. die „Werke dessen“, der Jesus „gesandt hat“, ist jetzt die Zeit. Sie müssen getan werden, „solange es Tag ist“, denn „es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. Der „Tag“ ist die Zeit des Lichts, womit natürlich Jesus Christus gemeint ist. „Solange“ er „in der Welt“ ist, ist er „das Licht der Welt“ (vgl. 8,12: „Ich bin das Licht der Welt …“). Die Zeit seiner Gegenwart soll genutzt werden, bevor es zu spät ist. Ähnlich drückt Jesus sich in 12,35-36 aus: „(35) Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. (36) Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“

 

Diese Ausführung Jesu zeigen, dass es über die gleich erfolgende Heilung des Blindgeborenen hinaus um Grundsätzliches geht. „Zunächst offenbart sie [die Heilung] im wörtlichen Sinn einen Gott, der sich gegen alles erhebt, was die menschliche Existenz entstellt und beeinträchtigt. Und sodann zeigt sie in einem zweiten, symbolischen Sinn, dass es sich um eine Offenbarung handelt, die die Fähigkeit besitzt, dieser Existenz Sinn und Richtung zu verleihen.“ (Zumstein, 364). „Was sich in der Geschichte am Blindgeborenen ereignet, vollzieht sich an jedem Menschen, der zum Glauben kommt. Er wird vom ‚Licht der Welt‘ aus seiner Blindheit herausgeholt und wird so zu einem wahrhaft Sehenden.“ (Schnelle, 221).

 

Nun spricht Jesus in der ersten Person Plural („Wir müssen die Werke … wirken …“). Er tat das auch an anderer Stelle (3,11: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an.“) Ist dieses „Wir“ ein „potenziertes Ich“ (Schneider, 189)? Wahrscheinlicher ist, dass hier die Jünger nachösterlich mitgedacht sind (14,12: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“)

 

(6-7) Nach diesen Erklärungen spuckt Jesus auf die Erde, rührt einen Brei an und streicht ihn auf die Augen des Blinden (vgl. Mk 8,22-26). Damals schreibt man dem Speichel eine heilende Wirkung zu, auch bei Augenleiden (vgl. die Belege bei Wengst, 297f.). Blindenheilungen galten aber als unmöglich bzw. als außergewöhnliches Wunder Gottes (2 Mos 4,11; Ps 146,8; Jes  29,18; 42,6-7.16).

 

Nachdem Jesus den Brei aufgetragen hat, befiehlt er dem Blinden, zum Teich Siloah, der sich am Fuß des Tempelbergs befindet, zu gehen und sich dort zu waschen. Das erinnert an die Geschichte von Naeman (2 Kön 5,10-14). Der Blinde tut wie befohlen und kehrt „sehend wieder“.

 

In den Bericht eingefügt ist die kurze Notiz, dass der Name des Teiches Siloah mit „gesandt“ zu übersetzen ist. Das kann sich darauf beziehen, dass Jesus ihn dort hin sendet, aber auch darauf, dass Jesus der Gesandte Gottes ist (9,4).

 

 

Die Heilung des Blindgeborenen ist Stoff für Gespräche. Zunächst kommt es zu einer Unterhaltung mit seinen Nachbarn und Bekannten:

 

(8) Die Nachbarn nun und die, die ihn zuvor als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? (9) Einige sprachen: Er ist's; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin's. (10) Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen aufgetan worden? (11) Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend. (12) Da fragten sie ihn: Wo ist er? Er sprach: Ich weiß es nicht.

 

(8-9) Alle, die den Geheilten vorher als den kannten, der aufgrund seiner Blindheit als Bettler vor dem Tempel oder anderen Orten sitzt, rätseln, ob es sich wirklich um die gleichen Person handelt. Einige stellen das mit Erstaunen fest, andere vermuten eine Verwechslung aufgrund einer großen Ähnlichkeit. Der Geheilte muss ihnen erklären: „Ich bin’s.“

 

Die „Nachbarn und Bekannten, die sich auf die alltägliche Erfahrung und das damit verbundene Wissen berufen“, sind „nicht in der Lage …, das geschehene Ereignis zu interpretieren. Sie scheitern angesichts einer unerklärlich bleibenden Wirklichkeit. Das Kommen der Offenbarung stiftet Verwirrung und scheidet die Geister. Sie bringt die einfachsten Gewissheiten ins Wanken.“ (Zumstein, 366).

 

(10-12) Nachdem die Identitätsfrage geklärt ist, erkundigen sich die Nachbarn und Bekannte, wie die Heilung geschehen ist. Der Geheilte gibt bereitwillig Auskunft und erklärt seinen Gesprächspartnern dabei auch, dass „der Mensch, der Jesus heißt“, dieses Wunder getan hat. Daraufhin möchten sie wissen, wo sich Jesus befindet – vermutlich, um ihn selbst zu befragen. Der Geheilte kann ihnen aber die gewünschte Auskunft nicht geben.

 

 

Weil sie nicht bei Jesus selbst nachhaken können, führen die Bekannten und Nachbarn den Geheilten zu den Pharisäern. Dort kommt es zu einer ersten Anhörung.

 

(13) Da führten sie den, der zuvor blind gewesen war, zu den Pharisäern. (14) Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete. (15) Da fragten ihn auch die Pharisäer, wie er sehend geworden wäre. Er aber sprach zu ihnen: Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend. (16) Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand Zwietracht unter ihnen. (17) Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet.

 

(13) Wie an anderen Stellen des Johannesevangeliums, so erscheinen die Pharisäer auch hier als offizielle Vertreter des Judentums (1,24; 3,1; 4,1; 7,32.45.48; 8,13; 11,47.57; 18,3), obwohl sie diese Stellung erst nach der Zerstörung Jerusalem im Jahre 70 n.Chr. erlangt haben. Die Bekannten und Nachbarn des Geheilten bringen ihn zu ihnen, weil sie offenbar der Auffassung sind, dass die Pharisäer die Situation richtig beurteilen können.

 

(14) Bevor der Bericht des Evangelisten mit der Befragung durch die Pharisäer fortfährt, wird eine zusätzliche Info gegeben: „Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete.“  (vgl. 5,9). Deshalb geht es hier nicht allein um eine Heilung, sondern um eine Heilung am Sabbat, die nach Aussagen des Talmud nur bei Lebensgefahr erlaubt war (bJoma 83a: „Jeder Zweifel der Lebensgefahr verdrängt den Sabbat“). Auch die damit verbundene Herstellung des Breis ist nach pharisäischer Auffassung am Sabbat verboten (StrBill I, 615f.) – auch weil Mahlen, Sieben, Kneten und Backen (Joh.9,6) zu den 39 am Sabbat untersagten Hauptarbeiten gehören (bSchab 7,2).

 

(15-16) Wie zu vor die Nachbarn und Bekannten (9,10), fragen nun auch die Pharisäer den Geheilten, wie seine Heilung geschehen ist. Er wiederholt in etwas knapperen Worten die Antwort, die er zuvor gegeben hat (9,11).

 

Die Pharisäer sind geteilter Meinung (vgl. 7,43; 10,19). Für einige von ihnen steht fest: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.“  Andere weisen jedoch darauf hin, dass „ein sündiger Mensch“ wohl nicht in der Lage wäre, „solche Zeichen“ zu tun.

 

(17) Daraufhin fragen sie den Geheilten nach seiner Meinung über Jesus. Er erklärt den Pharisäer, dass er ihn für einen Propheten hält (vgl. 1,45; 4,19; 6,14; 7,40).

 

 

Weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“ stellen die Pharisäer in Frage, dass der Geheilte jemals wirklich blind war und wenden sich an dessen Eltern.

 

(18) Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend geworden war, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war, (19) und sie fragten sie und sprachen: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, er sei blind geboren? Wieso ist er nun sehend? (20) Da antworteten seine Eltern und sprachen: Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. (21) Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht, und wer ihm die Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden. (22) Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: Wenn jemand ihn als den Christus bekennt, der soll aus der Synagoge ausgestoßen werden. (23) Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst.

 

(18-19) Die Pharisäer, die hier als „Juden“ und damit als die maßgebliche Gruppe innerhalb des Judentums bezeichnet werden (vgl. 1,19.24; 7,32-36; 18,3.12), stellen in Frage, ob der Mann, der hier als geheilt auftritt, jemals blind gewesen ist. Schließlich rufen sie seine Eltern. Sie sollen bestätigen, dass dies wirklich ihr Sohn ist, von dem sie sagen, dass er blind geboren ist. Außerdem sollen sie ggf. erklären, weshalb er nun sehen kann.

 

(20-21) Die Eltern antworten ausweichend. Zwar bestätigen sie, dass es sich bei dem Geheilten um ihren Sohn handelt und er blind geboren ist. Gleichzeitig aber erklären sie, dass sie den Grund seiner Heilung und den Namen des Wundertäters nicht kennen. Sie empfehlen den Pharisäer, ihn selbst zu fragen und ihn „für sich selbst reden“ zu lassen, weil er „alt genug“ ist.

 

(22-23) Die abschließende Bemerkung wird vom Evangelisten kommentiert. Er nennt den Grund für das Verhalten der Eltern: „… sie fürchteten sich vor den Juden“ (vgl. 7,13; 19,38; 20,19). Erklärend fügt er hinzu, dass „die Juden … sich schon geeinigt“  hatten, alle aus der Synagoge auszuschließen, die sich zu Jesus als dem „Christus“ bekennt (vgl. 12,42: „Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden.“; 16,2: „Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst.“). Auch diese Situation ist wohl erst nach 70 n.Chr. vorstellbar.

 

 

Weil sie auch durch die Befragung der Eltern nicht weiter gekommen sind, laden die Pharisäer den Geheilten erneut zu einer Vernehmung vor. „Die ganze Szene wird durch die massive Autoritätsbehauptung der Behörden beherrscht werden, die den Blinden dazu bringen wollen, seine vorherigen Aussagen zurückzunehmen (vgl. z.B. V.15.17), um den Heilungsakt und seinen Urheber zu diskeditieren. Die Behörde lässt ihre Masken fallen und zeigt, wo sie steht: Sie behauptet sich als Entscheidungsinstanz (… V.24.28.29), sie ist im Besitz des Wissens (… V.24.29), sie bezieht sich auf eine Norm (Mose: V.28-29) und betraft alle, die sich ihren Ansichten nicht anschließen (der Zeuge wird beschimpft V.28 …).“ (Zumstein, 372).

 

(24) Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war, und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. (25) Er antwortete: Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend. (26) Da fragten sie ihn: Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan? (27) Er antwortete ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt ihr auch seine Jünger werden? (28) Da schmähten sie ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger. (29) Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat; woher aber dieser ist, wissen wir nicht. (30) Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist; und er hat meine Augen aufgetan. (31) Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört; sondern den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. (32) Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. (33) Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun. (34) Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? Und sie stießen ihn hinaus.

 

(24) Die Pharisäer laden den Geheilten noch einmal vor und beschwören ihn mit den Worten „gib Gott die Ehre!“ die Wahrheit zu sagen (vgl. Jos 7,19: „Und Josua sprach zu Achan: Mein Sohn, gib dem HERRN, dem Gott Israels, die Ehre und lobe ihn. Sage mir, was du getan hast, und verhehle mir nichts.“). Mit der Wahrheitsliebe der Pharisäer ist es aber nicht weit her. Sie erklären ganz offen, was sie von ihm hören wollen: „Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.“  Er soll also eine Aussage machen, die ihr eigenes Urteil bestätigt.

 

(25) Aber der Geheilte  lässt sich nicht unter Druck setzten. Auf die Behauptung, dass Jesus ein Sünder ist, antwortet er mit einem  „Das weiß ich nicht“ – um dann umso deutlicher hervorzuheben, was er „weiß“: dass er blind war und nun sehen kann.

 

(26) „Die Weigerung des heilten Blinden, das vorgetragene Urteil anzunehmen, und seine Forderung, die Wirklichkeitserfahrung als neues Beurteilungskriterium einzuführen, bringt die Behörde in seine schwierige Lage. Diese Verlegenheit zeigt sich in der Tatsache, dass das Verhör wieder aufgenommen wird, als ob zu dem verhandelten Fall nicht schon alles gesagt worden wäre.“ (Zumstein, 373). Sie wiederholen einfach, was sie ihn bereits beim ersten Mal gefragt haben (9,15).

 

(27) Nun aber geht der Geheilte in die Offensive. Er weist darauf hin, dass er ihnen die Antwort doch bereits gegeben hat und folgert daraus, dass sie nicht richtig zugehört haben. Spätestens ab dem nächsten Satz besteht seine Antwort aus beißender Ironie: „Was wollt ihr's abermals hören? Wollt ihr auch seine Jünger werden?“

 

(28-29) Auf diese Provokation antworten die Pharisäer, indem sie den Geheilten beschimpfen (zu Schmähungen als religiöse Beschimpfung und Beleidigung, vgl. Apg 23,4; 1 Kor 4,12; 1 Pt 2,23) und ihm in einer Art Retourkutsche vorwerfen, dass er ein Jünger Jesu ist, während sie selbst „Moses Jünger“ sind. Anschließend begründen sie, warum sie die Autorität des Mose anerkennen und die Autorität Jesu ablehnen. Von Mose wissen sie, dass Gott mit ihm geredet hat (vgl. z.B. 2 Mos 33,11: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet …“), während sie von Jesus nicht wissen, „woher … dieser ist“ (vgl. 8,14: „… ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe.“)

 

(30-33) Nun gewinnt der Geheilte endgültig die Oberhand. Zunächst fragt er die Pharisäer, wie es denn sein kann, dass sie die Herkunft eines Menschen nicht kennen, der eine so große Wundertat vollbracht hat. Dann folgt ein theologisches Argument. Es geht von allgemeingültigen Überzeugung aus, dass „Gott die Sünder nicht erhört“, sondern nur diejenigen, die „gottesfürchtig“ sind und „seinen Willen“ tun, weist darauf hin, dass die Heilung eines Blindgeborenen außergewöhnlich und einmalig ist und folgert dann: „Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun.“

 

(34) Die Pharisäer weisen diese Belehrung scharf zurück. Sie sprechen ihm jegliche Kompetenz ab und weisen zur Begründung darauf, dass er „ganz in Sünden geboren“ ist. Diese Aussage ist eine Anspielung auf Ps 51,7: „Siehe, in Schuld bin ich geboren, und meine Mutter hat mich in Sünde empfangen.“  Damit verändern die Pharisäer ihre Argumentation: Hatten sie bisher in Zweifel gezogen, dass er jemals blind war (9,18), nehmen sie nun seine Blindheit von Geburt an zur Grundlage, ihn zu verurteilen.

 

Es bleibt aber nicht bei einer verbalen Zurückweisung. Die Pharisäer stoßen den Blindgeborenen „hinaus“, womit vermutlich der Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft der Synagoge gemeint ist (9,22: „… Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: Wenn jemand ihn als den Christus bekennt, der soll aus der Synagoge ausgestoßen werden.“).

 

 

Als Jesus von diesem Ausgang des Verhörs erfährt, sucht er den Kontakt mit dem Geheilten und führt ihn zum Glauben an ihn, den Menschensohn.

 

(35) Jesus hörte, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? (36) Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's, auf dass ich an ihn glaube? (37) Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist's. (38) Er aber sprach: Herr, ich glaube. Und er betete ihn an.

 

(35) Erst gegen Ende der Erzählung tritt Jesus selbst wieder in Erscheinung. Als er hört, dass die Pharisäer den Geheilten ausgestoßen haben, findet er ihn (zum „Finden“ eines Menschen durch Jesus vgl. 1,43 und 5,14) und fragt ihn, ob er – im Unterschied zu den Pharisäern – „an den Menschensohn“ („Menschensohn“ im Johannesevangelium noch in: 1,51; 3,13f.; 5,27; 6,27.62; 8,28; 12,31) glaubt. So wichtig die Heilung ist – entscheidend ist der Glaube an Jesus.

 

(36-37) Der Geheilte hat noch nicht verstanden, dass Jesus selbst der „Menschensohn“ ist. In den Befragungen hatte er ihn lediglich als „Prophet“ bezeichnet (9,17) und als jemanden, der „von Gott“ ist (9,33). Seine Antwort zeigt aber auch, dass er die Gegenwart des Menschensohnes durchaus für möglich hält und nur dessen Identität nicht kennt. Daraufhin offenbart sich Jesus ihm: „Du hast ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist's.“

 

Dass er Jesus nicht sofort als Menschensohn erkennt, „ist nicht einer mutmaßlichen Unfähigkeit des wunderbar Geheilten zuzuschreiben. Aus eigener Kraft, eigener Intelligenz oder Frömmigkeit ist einem Menschen die Offenbarung, genauer gesagt der, der die Offenbarung inkarniert, nicht zugänglich … Die Offenbarung im joh Sinn kann man sich nicht erwerben. Sie ist Gabe. Sie ist nicht die Belohnung am Ziel eines bewusst gewählten Weges, sondern begegnet als ein Geschenk, ohne Gegenleistung, das alles umwirft, was ein Mensch hat, glaubt und hofft. Die Offenbarung ist ein Geschehen extra nos. Deshalb kann der entscheidende Schritt nur getan werden, wenn der Offenbarer die Initiative ergreift, er sich explizit zu erkennen gibt und sich im Wort darbietet.“ (Zumstein, 378).

 

(38) Nachdem Jesus sich ihm offenbart hat, spricht er ihn als „Herr“ an (vgl. 20,28: „… Mein Herr und mein Gott!“), bekennt seinen Glauben an ihn und betet ihn an (προσκυνέω meint mehr als „verehren“, 4,21-24: „(21) Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. (22) Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir aber wissen, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. (23) Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. (24) Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“; 12,20: „Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.“).

 

„Mit der hier gegebenen Antwort auf das Selbstoffenbarungswort Jesu offenbart der geheilte Blinde seinen Übergang von einem elementaren zum christologischen Glauben (…).“ (Zumstein, 379).

 

„Jesus hat das zweite Wunder gewirkt. Jetzt ist dem einst Blindgeborenen auch das innere Auge geöffnet worden, so dass er nunmehr seine Bereitschaft zu glauben in die Tat umsetzt. Er bekennt: ‚Ich glaube, Herr!‘ Das ist das schlichteste Glaubens- und Christusbekenntnis, das es im Neuen Testament gibt, aber es enthält die volle Anerkennung des eschatologischen Heilsbringers.“ (Schneider, 195).

 

 

Abschließend stellt Jesus noch einmal klar, was seine Aufgabe in der Welt ist. Daraus ergibt sich ein kurzer Dialog mit den Pharisäern.

 

(39) Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden. (40) Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind wir denn auch blind? (41) Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

 

(39) Jesus erklärt: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen …“. Gericht zu halten schließlich ist die Aufgabe des Menschensohns (5,27: „und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.“).

 

Bereits in 3,17-21 und 5,22-30 hatte Jesus davon gesprochen, dass er zum Gericht gekommen ist. Dabei wurde deutlich, dass es dabei um den Glauben an Jesus geht und sich nicht erst am Ende der Tage, sondern hier und jetzt ereignet (3,18-21).

 

Nun beschreibt Jesus das von ihm ausgehende Gericht mit folgenden Worten: „… auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.“ Hier geht es um „Blindheit“ im übertragenden Sinne – um Blindheit gegenüber der göttlichen Wahrheit.

 

Gemeint ist das, was Jesus an anderer Stelle mit Hilfe der Begriffe „Licht“ und „Finsternis“ ausdrückt.  Von Natur aus können Menschen „nicht sehen“, sondern „wandeln in der Finsternis“. Wer aber Jesus, dem „Licht der Welt“,  „nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (8,12; vgl. 12,46: „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“). Entscheidend ist, dass es auch andersherum geht: Sehende werden durch Jesus zu Blinden – weil sie die Finsternis mehr lieben als das Licht (3,19).

 

(40) Einige Pharisäer bekommen diese Aussage Jesu mit und fragen nach: „Sind wir denn auch blind?“ Sie beziehen sich auf den zweiten Teil des Satzes: „und die da sehen, blind werden“. Wie Vers 41 („… weil ihr aber sagt: Wir sind sehend …“) zeigt, meinen sie damit: „Wie können sie, die doch im Besitz des Wissens sind, ‚blind‘ sein?“ (Zumstein, 381).

 

(41) Jesus erklärt den Pharisäern – also denen, die fragen, ob sie „denn auch blind“ sind – , dass es eigentlich gut für sie wäre, wenn sie blind wären. Denn dann hätten sie „keine Sünde“. „Als Einfältige, Ungebildete wären sie noch im Stadium der Unschuld und könnten ‚sehend‘ werden.“ (Wengst, 310). Ihr Problem geht viel tiefer. Sie sagen nämlich: „Wir sind sehend.“ Deshalb „bleibt“ ihre „Sünde“, die auch hier darin besteht, die Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus abzulehnen (16,9).

 

„Obwohl die Pharisäer gerade (…) durch das ‚Zeichen‘ in Kapitel 9 mit der Realität der Offenbarung konfrontiert wurden, behaupten sie weiterhin, das entscheidende Wissen zu besitzen. Obwohl sie die Taten des joh Jesus gesehen haben, wollten sie nicht sehen, was sie in Wirklichkeit hätten sehen müssen, nämlich die Gegenwart des Gesandten des Vaters. Die Sünde besteht gerade in diesem ‚nicht sehen wollen‘, dessen Grund in ihrem angeblichen religiösen Wissen zu suchen ist. In dieser anmaßenden Behauptung, das Wissen zu haben gegenüber dem, der das Licht der Welt ist, liegt die Sünde schlechthin. In dem Maße, in dem die Sünde bedeutet, den joh Jesus zurückzuweisen, hat sie einen endgültigen Charakter.“ (Zumstein, 381).

 

 

Zusammenfassung:

Jesus öffnet Menschen, die von Natur aus blind sind, die Augen, damit sie an ihn als alles entscheidenden Menschensohn erkennen und an ihn glauben. Größtes Hindernis ist dabei die Illusion des Menschen, nicht blind, sondern sehend zu sein.

 

 

 

4.3.3   Jesus – der gute Hirten in göttlicher Vollmacht (10,1-42)

 

Kapitel 10 steht in einem engen Zusammenhang mit Kapitel 9. In Vers 21 wird ausdrücklich auf die Heilung des Blindgeborenen Bezug genommen. Außerdem: „Während die ‚Juden/Pharisäer‘ durch die Heilung des Blindgeborenen als schlechte Hirten entlarvt werden, wird … Jesus in Kapitel 10 als guter Hirte dargestellt, der sich um seine Schafe kümmert und sein Leben für sie gibt.“ (Zumstein, 357).

 

Kapitel 10 stellt „wieder (…) vor Probleme der literarischen Struktur und der Einfügung in das Evangelium … Das … Problem bezieht sich … auf folgende Tatbestände: a) den abrupten Einsatz von 10,1; b) die Einordnung des Disputs über Jesus, bei dem die Blindenheilung eine Rolle spielt, in 10,19-21; c) die Auseinanderreißung von Stellen, die unter dem gleichen Bildmotiv und Thema zusammengehören (V 1-18 und V 26-29); d) die Ansage des Tempelweihfestes in 10,22, die dazu noch einen zeitlichen Abstand schafft.“ (Schnackenburg II, 347ff.).

 

Auch wenn die Beobachtungen durchaus zutreffend sind, stellt sich die Frage, ob sie ein eindeutiges Indiz dazu sind, dass die Texte ursprünglich in einer anderen Reihenfolge standen und diese ursprüngliche Reihenfolge rekonstruiert werden kann.

 

Zum abrupten Einsatz von 10,1 (a) und zum Bezug auf die Blindenheilung (b): Hier kommt es darauf an, „wie man den inneren Zusammenhang zwischen den Kapiteln 9 und 10 beurteilt. Ist man der Meinung, dass ein solcher Zusammenhang nicht besteht, weil in Kapitel 10 ein Thema behandelt wird, das mit der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen nichts zu tun hat, dann ist man zu der Umstellung von 10,19-21 berechtigt. Man kann aber auch die Tatsache, dass in 10,1 eine Situationangabe fehlt, so erklären, dass in Kapitel 10 die Antwort Jesu an die Pharisäer (9,40.41) fortgesetzt wird. Den falschen, durch ihre geistige Blindheit zur Führung des Volkes unfähigen Hirten werde – nach H. Strathmann – der rechte Hirt Jesus gegenübergestellt. Dafür spreche auch, dass der Evangelist mit der feierlichen Beteuerung „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ nicht eine neue Rede zu beginnen pflegt, sondern in einer schon begonnenen Erörterung einen Gedanken besonders hervorhebt oder ihn weiterführt … Es besteht also kein ‚Bruch‘ zwischen diesen beiden Kapiteln. Das bedeutet dann aber, dass die Verse 19-21 an der richtigen Stelle stehen.“ (Schneider, 198).

 

Zu den Stellen, die vom Motiv zusammen gehören, sich aber an unterschiedlichen Stellen des Textabschnitts befinden (c): „Man kann argumentieren, dass die Worte Jesu an die Juden 10,26-29 … auf die Hirtenrede zurückblicken …“ (Schnackenburg II, 350).

 

Zum zeitlichen Abstand zwischen dem Laubhüttenfest und dem Tempelweihfest (d): „Der zeitliche Abstand zwischen dem Laufhütten- und dem Tempelweihfest vermindert sich, wenn man die Rede von Kap 8 und die Reden von Kap. 8 und die Blindenheilung in die Zeit nach dem Laubhüttenfest verlegt. Außerdem gibt sich der Evangelist mit solchen chronologischen Erwägungen nicht ab, sondern ist ganz mit seinen Themen beschäftigt …“ (Schnackenburg II, 351).

 

 

Das Kapitel beginnt mit einer Gleichnisrede Jesu vom Hirten und seinen Schafen. Inhaltlich geht es um Kennzeichen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Hirten.

 

(1) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber.  (2) Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. (3) Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. (4) Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. (5) Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. (6) Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.

 

Rudolf Schnackenburg hat in seinem Kommentar den Hintergrund der Bildrede aus dem damaligen Hirtenwesen anschaulich erläutert:

„Die Elemente dieser Bildrede sind: der Hirt, die Schafe bzw. die ‚eigenen Schafe‘, die αὐλή [Hof], die Tür, der Türhüter, die Diebe und Räuber, die Fremden. Der Vorgang, der geschildert wird, spielt sich am Morgen ab, wenn die Schafe auf die Weide geführt werden. Die örtlichen Verhältnisse werden unterschiedlich, im wesentlichen in einer zweifachen Weise erklärt: (1) Es handelt sich um eine Schafhürde, wie sie für die Weidezeit im Freien, außerhalb des Ortes, errichtet wird. Die Hirten haben in der Nähe ihr Lager, und ein Mann bewacht den umzäunten Pferch. (2) Der ‚Hof‘ der Schafe gehört zu einem Haus; er grenzt daran an und ist durch eine Mauer geschützt. Auch Kenner der palästinischen Verhältnisse sind in ihrem Urteil geteilt. Die αὐλή ist nach dem sprachlichen Befund eher ein wirklicher, mit einem anderen Gebäude zusammenhängender ‚Hof‘. Dafür dürfte auch sprechen, dass anscheinend an mehrere Besitzer von Kleinherden gedacht ist, die ihre Schafe gemeinsam in einem festen Hof unterbringen und dafür einen Wächter angestellt haben. Freilich ist die gemeinsame Unterbringung mehrerer Kleinherden in einem großen Pferch auch im Freien nicht unmöglich. Die ‚Tür‘ kann ebenso ein einfacher Zugang zur Hürde wie das Tor einer festen Mauer sein. Doch wird man sich lieber für die zweite Möglichkeit entscheiden, weil dazu auch der  - offenbar fest angestellte – Türhüter besser passt.

Wichtiger für die Deutung ist die Frage, ob eine oder mehrere Herden vorausgesetzt sind, ob also der Hirt nur seine ‚eigenen‘ Schafe ruft und hinausführt und die anderen zurücklässt. Von anderen Hirten und ihren Schafen hören wir nichts. Dennoch legen das artikellose ποιμήν [Hirte] in V 2 (…), der auffällige Wechsel von τὰ πρόβατα [die Schafe] (V 1-3b) zu τὰ ἴδια πρόβατα [die eigenen Schafe] und die betonte Aufnahme von τὰ ἴδια [die eigenen] in V 4a die Annahme mehrerer Herden, die gemeinsam in dem Hof untergebracht sind, nahe. Die anderen Hirten und Schafe haben für den Erzähler kein Interesse und dürfen auch nicht gegen V 16 ausgespielt werden; die dem Hirten gehörenden Schafe sind auch hier zunächst ‚aus diesem Hof‘, doch nimmt er andere hinzu, die nicht aus ihm kommen.

Bei den so vorgestellten Verhältnissen entsteht ein anschauliches und lebendiges Bild: Früh am Morgen kommt der Hirt zum Eingang des Hofes und wird vom Türhüter eingelassen. Er ruft und lockt ‚seine‘ Schafe, muss auch (wegen des Gedränges und der Schwerfälligkeit der Tiere) einigen nachhelfen, um ‚alle hinauszutreiben‘ (V 4). Nach dem Verlassen des Hofes stellt sich der Hirt an die Spitze des Zuges, geht seine Schafen voraus, und sie folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen (V 5). An diesem Bild aus dem Hirtenleben ist nichts unnatürlich und auffällig …

Die Szene aus dem Hirtenleben wird nicht einfach erzählt, sondern mit polemischen Akzenten versehen. Nach den ersten beiden Versen ist nur derjenige als Hirt ausgewiesen, der durch die Tür eintritt; wer anderswo einsteigt, ist Dieb und Räuber.

Neben den polemischen Akzenten in V 1-2 und V 5 lässt sich noch eine andere Tendenz erkennen: die Verbundenheit des Hirten mit seinen Schafen zu unterstreichen (V 3b-4). Dabei dringt ein mit der Wirklichkeit nicht ganz vereinbarer Zug ein: Der Hirt ruft die eigenen Schafe κατ᾽ ὄνομα [mit Namen], offenbar alle. Nun pflegen die Hirten zwar manchen Schafen nach körperlichen Eigenschaften Namen beizulegen (…), aber schwerlich allen; das ist selbst bei einer kleinen Herde kaum vorstellbar. Diese Übertreibung dringt also von der Sache her ein …

So dürfte die Erzählung, aufs ganze gesehen, eine in sich verständliche Schilderung einer Szene aus dem Hirtenleben sein, die aber nach der Intention des Erzählers, aus der ihm vorschwebenden ‚Sache‘ bestimmte Akzente erhält, die dann in den folgenden bildhaften Offenbarungsreden (V 7-18) selbständig und weiterführend herausgearbeitet werden.“ (Schnackenburg II, 352ff.).

 

Zum Hintergrund gehört auch, dass Gott im AT als Hirte seines Volkes beschrieben wird, vor allem in Hes 34.

(1) Und des HERRN Wort geschah zu mir: (2) Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? (3) Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. (4) Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. (5) Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. (6) Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht.

(7) Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! (8) So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, (9) darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! (10) So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

(11) Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. (12) Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. (13) Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. (14) Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. (15) Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. (16) Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

(17) Aber zu euch, meine Herde, spricht Gott der HERR: Siehe, ich will richten zwischen Schaf und Schaf und Widdern und Böcken. (18) Ist's euch nicht genug, die beste Weide zu haben, dass ihr die übrige Weide mit Füßen tretet, und klares Wasser zu trinken, dass ihr auch noch hineintretet und es trübe macht, (19) sodass meine Schafe fressen müssen, was ihr mit euren Füßen zertreten habt, und trinken, was ihr mit euren Füßen trübe gemacht habt? (20) Darum, so spricht Gott der HERR zu ihnen: Siehe, ich will selbst richten zwischen den fetten und den mageren Schafen; (21) weil ihr mit Seite und Schulter drängtet und die Schwachen von euch stießt mit euren Hörnern, bis ihr sie alle hinausgetrieben hattet, (22) will ich meiner Herde helfen, dass sie nicht mehr zum Raub werden soll, und will richten zwischen Schaf und Schaf.

(23) Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, (24) und ich, der HERR, will ihr Gott sein. Und mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein; das sage ich, der HERR.

(25) Und ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten, dass sie sicher in der Steppe wohnen und in den Wäldern schlafen können. (26) Ich will sie und alles, was um meinen Hügel her ist, segnen und auf sie regnen lassen zu rechter Zeit. Das sollen gnädige Regen sein, (27) dass die Bäume auf dem Felde ihre Früchte bringen und das Land seinen Ertrag gibt, und sie sollen sicher auf ihrem Lande wohnen und sollen erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich ihr Joch zerbrochen und sie errettet habe aus der Hand derer, denen sie dienen mussten. (28) Und sie sollen nicht mehr den Völkern zum Raub werden, und kein wildes Tier im Lande soll sie mehr fressen, sondern sie sollen sicher wohnen, und niemand soll sie schrecken. (29) Und ich will ihnen eine Pflanzung aufgehen lassen zum Ruhm, dass sie nicht mehr Hunger leiden sollen im Lande und die Schmähungen der Völker nicht mehr ertragen müssen. (30) Und sie sollen erfahren, dass ich, der HERR, ihr Gott, bei ihnen bin und dass die vom Hause Israel mein Volk sind, spricht Gott der HERR. (31) Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

 

(1) Die Gleichnisrede beginnt mit den Worten: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch …“. Diese Formel findet sich an mehr als 20 Stellen des Johannesevangeliums (z.B. 1,51; 3,3.5.11). Sie signalisiert, dass etwas Entscheidendes gesagt wird und knüpft i.d.R. an einen vorangegangenen Dialog an. Wenn – wovon auszugehen ist – dies auch hier der Fall ist, sind mit „euch“ die Juden bzw. Pharisäer gemeint, mit denen sich Jesus in 9,39-41 einen kurzen Schlagabtausch geliefert hat.

 

Ihnen erklärt Jesus, dass derjenige, der „nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall“ (vgl. dazu die Erläuterungen Schnackenburgs), sondern „anderswo“ hinein steigt, „ein Dieb und ein Räuber“ ist.

 

(2-4) Anders der „Hirte der Schafe“: Er geht „zur Tür“ in den Schafstall hinein. Der „Türhüter“ öffnet ihm die Tür – weil er weiß, dass es sich um den rechtmäßigen Hirten handelt. Außerdem besteht zwischen wahren Hirten und den Schafen eine enge und vertrauensvolle Beziehung. Die Schafe hören die Stimme ihres Hirten. Der Hirte wiederum ruft die Schafe mit Namen, führt sie aus dem Schafstall hinaus und geht vor ihnen her. Die Schafe folgen ihm – weil sie seine Stimme kennen.

 

Bei der Aussage, dass die Schafe die Stimme des Hirten hören, klingt möglicherweise Ps 93,7 an: „Denn er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand. Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet.“ Dass er sie mit Namen ruft, erinnert an Jes 43,1: „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“  Es ist aber unklar, ob diese Assoziationen gewollt sind. Fest steht, dass die Hörer nicht verstehen, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen will (10,6).

 

(5) Auf den „Fremden“, der nicht zur Tür in den Schafstall gelangt ist und der „ein Dieb und ein Räuber“ ist, reagieren die Schafe ganz anders. Anstatt ihm zu folgen, fliehen sie vor ihm – weil sie seine Stimme nicht kennen. 

 

(6) Der Evangelist erklärt, dass es sich hier um ein „Gleichnis“ (παροιμία) handelt. Im Johannesevangelium findet er sich dieser Begriff noch an folgenden Stellen:

16,25

Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater.

19,29

Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in einem Bild.

Gemeint ist danach eine „dunkle, rätselhafte Rede im Gegensatz zur offenen, verständigen Rede“ (Schnelle, 231). Deshalb verstehen die Pharisäer nicht, was Jesus ihnen damit sagen will. Sie müssten in der Lage sein, das Rätsel zu deuten. Das sind sie aber nicht – auch aufgrund ihrer Verblendung (9,39-41).

 

 

Es folgt eine Gleichnisrede über die „Tür zu den Schafen“. Dabei handelt es sich möglicherweise um eine Weiterverarbeitung des Hirtengleichnisses aus 10,1-5, in dem ja auch bereits von der Tür die Rede war. „Von dem, der das Recht hat, durch die Tür zu gehen, um zu den Schafen zu gelangen, wird Jesus zur Tür selbst und wird dadurch zum einzig möglichen Zugang für die Schafe und für die, die zu ihnen gelangen wollen.“ (Zumstein, 392).

 

(7) Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. (8) Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. (9) Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden. (10) Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge.

 

(7-8) Erneut beginnt Jesus mit den Worten: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch …“ (vgl. 10,1). Nun bezeichnet er sich als „Tür zu den Schafen“. Gemeint ist natürlich: Jesus „ist die einzige Person, durch die ein Zugang zum Volk Gottes möglich ist“ (Zumstein, 391). Alle anderen sind „Diebe und Räuber“ (vgl. 10,1). Sie eignen sich die Schafe unrechtmäßig an und überfallen sie. „Wer nicht durch die Tür geht, wer also nicht anerkennt, dass in und durch Jesus Gott zu seinem Volk kommt, sondern einen anderen Zugang hat, erweist sich eben damit als Dieb und Räuber.“ (Wengst, 314).

 

Jesus erklärt, dass sie vor ihm gekommen sind. Weil der Hirte am Morgen durch das Tor in den Hof eintritt, kann damit gemeint sein, dass sie während der Nacht gekommen sind – was ja typisch für Diebe und Räuber wäre (Schnackenburg II, 366). Möglicherweise aber sind „alle angeblichen Heilande gemeint, die einst Menschen zu sich riefen, denen einst Menschen folgten“ (Bultmann, 286).

 

Aber das unheilvolle Wirken der Diebe und Räuber ist nicht von Erfolg gekrönt: „… aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht.“ Sie können den Schafen nichts vormachen und deshalb hören sie nicht auf sie.

 

(9-10) Noch einmal bezeichnet sich Jesus als „die Tür“. Handelten die Verse 7-8 vom Zugang zu den Schafen, geht es jetzt darum, welche Vorteile ein Schaf davon hat, dass es durch Jesus Christus, die Tür, „hineingeht“. Dazu werden zwei Aussagen gemacht.

 

Erstens: „… er wird selig werden“, bzw. gerettet werden (σῴζω; vgl. 3,17: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“).

 

Zweitens: Er wird „ein und aus gehen und Weide finden“. Das Eingehen und Ausgehen steht an anderer Stelle für die Gesamtheit des menschlichen Tuns (5 Mos 28,6: „Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang und gesegnet bei deinem Ausgang.“; Ps 121,8: „Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!“), das Finden der Weide dafür, dass der Mensch bei all seinem Tun ein gutes Auskommen hat (Ps 23,2: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“; Hes 34,14: „Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.“).

 

Wieder wird im Vergleich dazu das unheilvolle Wirken des Diebes für die Schafe geschildert. Er „kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen“. Dann aber spricht Jesus wieder von seinem heilvollen Wirken – diesmal aber nicht mit Hilfe von bildhafter Sprache, sondern in Form von „Klartext“. Er ist gekommen, damit alle, die zu ihm gehören, „das Leben haben“. Mit „Leben“ ist das ewige Leben gemeint (3,16), das bereits hier und jetzt beginnt (5,24.25). Es handelt sich, wie hinzugefügt wird, um ein Leben im „Überfluss“ (EB) – also das „Leben in seiner höchsten Steigerung, das ewige Leben“ (Schnackenburg II, 369).

 

 

Erneut wird das Hirtengleichnis aus 10,1-5 aufgenommen – nun unter dem Aspekt, dass der gute Hirte sein Leben für die Schafe lässt.

 

(11) Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. (12) Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, (13) denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. (14) Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, (15) wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

 

(11) Auch in 10,1-5 war vom Hirten die Rede. Jetzt aber sagt Jesus ganz direkt: „Ich bin der gute Hirte“. Weil im AT von Gott als dem Hirten seines Volkes gesprochen wurde (vgl. vor allem Hes 34), offenbart diese Aussage seinen göttlichen Anspruch.

 

Im Mittelpunkt aber steht die Aussage, dass der gute Hirte sein Leben für die Schafe lässt. Die Redewendung „Leben lassen für …“ findet sich im johanneischen Schrifttum noch in an folgenden Stellen:

10,15-18

(15) wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. (16) Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. (17) Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich's wieder empfange. (18) Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu empfangen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.

13,37-38

(37) Petrus spricht zu ihm: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen. (38) Jesus antwortete ihm: Du willst dein Leben für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast.

15,13

Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.

1 Joh 3,16

Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.

Die Redewendung bezieht sich auf den Tod Jesu am Kreuz. Dabei ist nicht der Sühnegedanke vorherrschend. „Es ist eher wie in 15,13 an die antike Ethik der Freundschaft zu denken, wo es das nobelste Ideal ist, in einer Situation großer Gefahr sein Leben für seine Freunde oder für seine Stadt zu geben, um deren Zukunft zu sichern. Das so in Kauf genommene Sterben wird schöpferisch, weil es den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft das Leben ermöglicht.“ (Zumstein, 393).

 

(12-13) Der „Mietling“ aber denkt nicht daran, sein Leben für die Schafe zu riskieren oder zu opfern. Wenn er den Wolf kommen sieht, ergreift er die Flucht und überlässt die Schafe sich selbst. Von schlechten Hirten ist im AT verschiedentlich die Rede (Hes 34,5-10; Jer 23,1-3; Sach 11,15-16); gemeint sind jeweils die Führer des Volkes.

 

Unklar ist, ob der „Mietling“ hier einfach nur die dunkle Folie für Jesus, den guten Hirten ist, oder ob dabei an bestimmte Personengruppen zu denken ist, z.B. die jüdischen Autoritäten. Interessant ist auch die Überlegung, den fliehenden Mietling mit Jochanan Ben Zakkai, der Gründungsfigur des rabbinischen Judentums, in Verbindung zu bringen, der vor der Eroberung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. ein Arrangement mit Kaiser Vespasian traf und die Stadt rechtzeitig verlassen konnte (Wengst, 318).

 

(14-15) Nach den Ausführungen über den „Mietling“ entfaltet Jesus die beiden Aussagen aus Vers 11. Er wiederholt den ersten Satz: „Ich bin der gute Hirte.“ Bevor er aber auch die zweite Aussage („Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“) wiederholt, spricht er über die Wechselbeziehung zwischen ihm und sein Schafen und über die Wechselbeziehung zwischen ihm und seinem Vater.

 

„Ich … kenne die Meinen und die Meinen kennen mich …“ „Dieses wechselseitige Kennen ist nicht primär kognitiv, sondern gibt die existentielle Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern wieder – ein Kennen, das aus Liebe (1Joh 3,16) und Nähe besteht.“ (Zumstein, 394). Es geht um eine „personale Verbundenheit“, um ein „zur Gemeinschaft führendes Kennen.“ (Schnackenburg II, 373; vgl. Am 3,2: Aus allen Geschlechtern auf Erden habe ich allein euch erkannt …“).

 

Die gleiche Verbundenheit besteht auch zwischen ihm und seinem himmlischen Vater. „Die Beziehung der Reziprozität [Wechselseitigkeit] (…) im Bereich des Kennens, die zwischen Sohn und Vater herrscht, wird zum Modell für die Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern.“ (Zumstein, 394f.; vgl. 17,21: „… Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein …“).

 

Durch den Hinweis auf diese beiden Wechselbeziehungen erstrahlt der abschließende Satz „und ich lasse mein Leben für die Schafe“ in einem neuen Licht. Sie ist die Folge der innigen Beziehung zwischen Jesus und den Seinen, die aber wiederum in der engen Beziehung zwischen Jesus und seinem Vater wurzelt.

 

 

Bevor Jesus den Gedanken seiner Lebenshingabe für die Seinen weiterführt, macht er eine Aussage über „andere Schafe“.

 

(16) Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

 

(16) Wer sind die anderen Schafe, die „nicht aus diesem Stall“ sind? Es handelt sich zweifelsohne um Menschen außerhalb des Volkes Israel. Nach 11,51f. wird Jesus „nicht für das Volk allein“ sterben, „sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen“. Dass ihm dies gelingt, wird in 12,20-24 berichtet: „(20) Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. (21) Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. (22) Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen's Jesus. (23) Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. (24) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“

 

Auch die „Heiden“ werden Jesu Stimme hören (vgl. 10,3). Alle zusammen werden eine Herde unter einem Hirten sein (vgl. Hes 34,23; 37,24).

 

 

Dann erläutert Jesus den Gedanken seiner Lebenshingabe für die Seinen, indem er davon spricht, wie der Vater zu seinem Tod am Kreuz steht und dass er der souveräne Herr über seinen Tod und sein Leben ist.

 

(17) Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich's wieder empfange. (18) Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu empfangen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.

 

(17) Von der Liebe seines himmlischen Vaters zu ihm spricht Jesus auch an folgenden Stellen:

3,35

Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.

15,9

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe!

17,23-26

(23) ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. (24) Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die Welt gegründet war. (25) Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. (26) Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.

Hier wird die Liebe des Vaters zum Sohn damit begründet, dass er sein Lesen lässt, damit er es wieder empfängt. „Sein Tod ist freiwilliges Sterben als Durchgang zum Leben, dessen er (5,26) eigentlich nie verlustig gehen kann. Aber so zu handeln ist der Wille des Vaters.“ (JB, 334). Und dafür liebt ihn sein Vater.

 

(18) Dann erläutert Jesus den letzten Teil von Vers 17 („… auf dass ich’s wieder empfange.“). Er betont, dass er auch bei der Hingabe seines Lebens souverän bleibt. Niemand kann ihm das Leben nehmen – „er geht von sich aus und freiwillig den Weg ans Kreuz“ (Schnelle, 234). Und genauso, wie er freiwillig sein Leben lässt, hat er auch die „Macht, es wieder zu empfangen“.

 

Diese Souveränität zeigt sich dann auch in der johanneischen Passionsgeschichte:

18,1-11

(1) Als Jesus das geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, in den gingen er und seine Jünger. (2) Judas aber, der ihn verriet, kannte den Ort auch, denn Jesus versammelte sich oft dort mit seinen Jüngern. (3) Als nun Judas die Schar der Soldaten mit sich genommen hatte und Knechte der Hohenpriester und Pharisäer, kommt er dahin mit Fackeln, Lampen und mit Waffen. (4) Da nun Jesus alles wusste, was ihm begegnen sollte, ging er hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr? (5) Sie antworteten ihm: Jesus von Nazareth. Er spricht zu ihnen: Ich bin's! Judas aber, der ihn verriet, stand auch bei ihnen. (6) Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bin's!, wichen sie zurück und fielen zu Boden. (7) Da fragte er sie abermals: Wen sucht ihr? Sie aber sprachen: Jesus von Nazareth. (8) Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt: Ich bin's. Sucht ihr mich, so lasst diese gehen! (9) Damit sollte das Wort erfüllt werden, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast. (10) Nun hatte Simon Petrus ein Schwert und zog es und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Und der Knecht hieß Malchus. (11) Da sprach Jesus zu Petrus: Steck das Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat?

19,11

Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. Darum hat, der mich dir überantwortet hat, größere Sünde.

19,17

und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.

19,30

Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.

Dieser besondere Akzent der johanneischen Passionsgeschichte unterscheidet sich von der Darstellung der anderen Evangelien.

 

Darin, dass Jesus sein Leben freiwillig hingibt, erfüllt er das „Gebot“ seines Vaters.

 

 

Aufgrund dieser Worte Jesu kommt es zu „Zwietracht unter den Juden“.

 

(19) Da entstand abermals Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. (20) Viele unter ihnen sprachen: Er ist von einem Dämon besessen und ist von Sinnen; was hört ihr ihm zu? (21) Andere sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen; kann denn ein Dämon die Augen der Blinden auftun?

 

(19-21) Wichtig ist der Hinweis, dass es „abermals“ zu „Zwietracht unter den Juden“ kommt (vgl. 7,43; 9,16). Einige erklären Jesus für „von einem Dämon besessen“ und deshalb für verrückt (vgl. 7,20; 8,48.52). Andere aber geben zu bedenken, dass ein Besessener wohl kaum „die Augen der Blinden auftun“ kann (vgl. 9,16: „Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand Zwietracht unter ihnen.“)

 

 

Weil die Juden sich nicht darüber einigen können, was sie von Jesus halten sollen, kommt es im Rahmen des Tempelweihfestes zu einem weiteren Disput zwischen Jesus und ihnen. Dabei geht es zunächst um seine Messianität.

 

(22) Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem, und es war Winter. (23) Und Jesus ging umher im Tempel in der Halle Salomos. (24) Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus. (25) Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir. (26) Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen. (27) Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; (28) und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. (29) Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. (30) Ich und der Vater sind eins. (31) Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen.

 

(22-23) Erst an dieser Stelle folgt eine chronologische Angabe: „Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem, und es war Winter.“  Das Tempelweihefest (Chanukka) wird am 25. Kislev (9. Monat, November/Dezember) zur Erinnerung an die Tempelweihe durch Judas Makkabäus gefeiert – also rund zwei Monate nach dem Laubhüttenfest (15. bis 21. Tisri, 7. Monat), auf dem der Konflikt mit den Juden eskaliert war (Kap. 7).

 

Während dieses Festes geht Jesus „in der Halle Salomos“ umher. Sie war offenbar von Salomo selbst erbaut worden und befand sich an der Ostseite des Tempels. Dort versammeln sich später auch die ersten Christen (Apg 3,11; 5,12).

 

(24) Da kommen die Juden auf ihn zu. Sie wollen ihn zu einer klaren Aussage drängen und fragen vorwurfsvoll: „Wie lange hältst du uns im Ungewissen?“ (wörtlich: „Bis wann hältst du unsere Seele hin?“). Und dann stellen sie die alles entscheidende Frage: „Bist du der Christus?“ – und verbinden diese Frage mit der Aufforderung, ihnen „frei heraus“ zu antworten.

 

Die Frage ist nicht neu (4,25-26; 7,26-31.41-42; 9,22). Bisher aber war Jesus selbst nicht dazu befragt worden. Sie erinnert an die Frage, die Jesus nach dem Bericht der synoptischen Evangelien beim Verhör vor dem Hohen Rat gestellt wird (Mt 26,63; Mk 14,61; Lk.22,67), die bezeichnenderweise im Johannesevangelium dort nicht mehr findet.

 

(25-26) Aber Jesus antwortet nicht mit „Ja“ oder „Nein“. Stattdessen erklärt er ihnen, dass er es ihnen bereits gesagt hat, womit er z.B. auf die „Ich-bin-Worte“ (6,35; 8,12; 9,5) oder seine Aussage, von Gott gesandt worden zu sein (5,36.38; 6,29.57; 7,29; 8,42), anspielt. Das Problem liegt bei ihnen: Sie haben ihm nicht geglaubt – und deshalb nicht gehört, was er gesagt hat. „Nicht das angebliche Schweigen Jesu ist Grund für die Verborgenheit seiner Identität, sondern das Fehlen des Glaubens bei seinen Gegnern.“ (Zumstein, 401).

 

Auch aufgrund seiner „Werke“ , die er im Namen seines Vaters tut, ist die Frage, ob er der Christus ist, bereits geklärt. Gemeint sind die zeichenhaften Wundertaten (vgl. 7,3.21; 8,32f.) – nicht zuletzt die Heilung des Blindgeborenen, über deren Bedeutung für die Frage nach der Identität Jesu sich seine Gegner eben noch gestritten haben (10,21). Aber obwohl die Sache klar ist, glauben sie dem Zeugnis seiner Werke nicht.

 

Der Grund ihres Unglaubens ist, dass sie nicht zu den Schafen Jesu gehören. Wohl gemerkt: Dass sie nicht zu seiner Herde gehören, ist nicht die Folge, sondern die Ursache ihres Unglaubens! Oder anders herum: Der Unglaube ist die Folge dessen, dass sie nicht zu Jesus gehören.

 

Ähnliche Aussagen finden sich auch an anderer Stelle des Johannesevangeliums:

6,44

Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

8,43.47

(43) Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt! … (47) Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid.

Auch hier ist der Glaube bzw. Unglaube des Menschen vom Wirken Gottes abhängig, bzw. davon, ob jemand „von Gott“ ist oder nicht.

 

(27-28) Aber die „Schafe“, die zu Jesus gehören, hören seine Stimme (10,3.16). Jesus kennt sie (10,3.14) und sie folgen ihm (10,4).

 

Das hat Folgen: Jesus gibt seinen Schafen (schon jetzt) das ewige Leben (10,10). Für die Zukunft gilt: „sie werden nimmermehr umkommen“; nichts und niemand kann sie von ihm trennen.

 

(29-30) Warum kann sie niemand aus Jesu Hand reißen? Weil Jesus und sein Vater „eins“ sind. „Die Sicherheit, die die Glaubenden beim Offenbarer finden, ist begründet in seinem Verhältnis zu Gott, in seiner Einheit mit Gott.“ (Bultmann, 294).

 

Die Schafe sind Jesus von seinem Vater „gegeben“ worden (6,37.39: „(37) Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen … (39) Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage.“). Dass er das getan hat, „ist größer als alles“. Es gibt keine Macht über ihm, die das in Frage stellen könnte. Deshalb kann niemand die Gläubigen „aus des Vaters Hand reißen“.

 

Das führt geradewegs zu der abschließenden Behauptung: „Ich und der Vater sind eins.“ Jesus begründet die Aussage „und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ mit dem Hinweis auf die Größe Gottes und dass niemand sie „aus des Vaters Hand reißen“. Der Grund dafür ist die Einheit, die zwischen ihm und seinem Vater besteht. Sie arbeiten „Hand in Hand“ (Wengst, 326). Anders formuliert: „Allein die Wesen-, Offenbarungs- und Wirkeinheit von Vater und Sohn (vgl. Joh. 1,1; 17,20-22 …) begründet Jesu Stellung als ‚guter Hirte‘.“ (Schnelle, 237).

 

(31) Nach dieser Aussage versuchen die Juden erneut, Jesus zu steinigen (8,59) – weil er in ihren Augen Gott gelästert hat (10,33).

 

 

Aber bevor sie ihre Absicht in die Tat umsetzen, fragt Jesus, mit welcher Begründung sie ihn steinigen wollen und wiederlegt anschließend den Vorwurf der Gotteslästerung – indem er seine Gottessohnschaft begründet.

 

(32) Jesus antwortete ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen? (33) Die Juden antworteten ihm: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen und weil du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott. (34) Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz (Psalm 82,6): "Ich habe gesagt: Ihr seid Götter"? (35) Wenn jene "Götter" genannt werden, zu denen das Wort Gottes geschah - und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden -, (36) wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott -, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn? (37) Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht; (38) tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt, auf dass ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich im Vater. (39) Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen. Aber er entging ihren Händen.

 

(32-33) Als die Juden im Begriff sind, ihn zu steinigen, erinnert er sie daran, dass er ihnen „viele gute Werke“, die er durch seinen Vater vollbracht hat (vgl. 5,19-20: „(19) Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn. (20) Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, sodass ihr euch verwundern werdet.“), gezeigt hat und fragt, wegen „welches dieser Werke“ sie ihn denn steinigen wollen.

 

Daraufhin erklären sie ihm, dass sie ihn nicht „um eines guten Werkes willen“ steinigen, „sondern um der Gotteslästerung willen“  (zur Steinigung bei Gotteslästerung vgl. 3 Mos 24,14-16). Das Vorliegen dieses Straftatbestandes begründen sie mit den Worten: „… weil du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott.“ (vgl. 5,18: „Darum trachteten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich.“; 19,7: „Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.“).

 

(34-36) Jesus weist den Vorwurf der Gotteslästerung zurück und beruft sich dabei zunächst auf die Schrift. Die Wortwahl („euer Gesetz“) ist ein Zeichen für eine gewisse Distanz.

 

Jesus zitiert Psalm 82,6: „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter"?  (der ganze Vers lautet: „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten;“). Jesus versteht diese Aussage so, dass Gott hier diejenigen „Götter“ nennt, „zu denen das Wort Gottes geschah“, womit er vermutlich die Gesetzesoffenbarung meint, die die Israeliten am Berg Sinai erhielten (vgl. z.B. 5 Mos 5,4: „Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.“).

 

Weil die „Schrift … doch nicht gebrochen werden“ kann, zieht Jesus daraus eine logische Schlussfolgerung nach dem Prinzip „a minore ad maius“ (vom Kleinen auf das Große): Wenn die Schrift bzw. das Gesetz die Israeliten „Götter“ nennt, wie können sie ihm, der vom „Vater geheiligt“  (gemeint ist: ausgesondert) und in die Welt gesandt“  wurde (zur Sendung Jesu vom Vater vgl. 3,17; 6,29.57; 7,29; 8,42; 11,42; 17,18.21.23; 20,21), Gotteslästerung vorwerfen, weil er sagt: „Ich bin Gottes Sohn?“ „Wenn schon ein Mensch durch göttliche Anrede ausdrücklich als Gott bezeichnet wird, dann darf erst recht der von Gott Geheiligte und in die Welt Gesandte sich Sohn Gottes nennen.“ (Schneider, 208).

 

(37-38) Dann beruft sich Jesus zur Rechtfertigung seines Anspruchs, „Gottes Sohn“ (10,36) zu sein, darauf, dass er die Werke seines Vaters tut (vgl. 10,32: „Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen?“). Seine Gegner hatten ja eben betont, nichts gegen seine Werke zu haben (10,33). Daran knüpft Jesus an und fordert sie auf zu prüfen, ob er hier die Werke seines Vater tut  oder nicht – damit sie erkennen, dass er eine einzigartige Beziehung zu seinem Vater hat.

 

Wenn er nicht die Werke seines Vaters tut, so sollen sie ihm nicht glauben. Wenn er aber die Werke seines Vaters tun, sollen sie doch – wenn sie ihm selbst nicht glauben – den Werken, die er tut, glauben. „Diese Werke haben eine solche Beweiskraft, dass sie einen Erkenntnisprozess einleiten, der zum Erkennen der Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn führt …“ (Zumstein, 407).

 

Diese Einheit (vgl. 10,30: „Ich und der Vater sind eins.“) beschreibt Jesus mit den Worten: „der Vater in mir“ und „ich im Vater“. Im Zusammenhang des Johannesevangeliums sind diese Aussagen über die gegenseitige Einheit von Vater und Sohn so zu verstehen: „Der Vater ist im Sohn, insofern Jesus in vollkommener Weise Gott in der Welt repräsentiert, und dies ist das Geschehen der Offenbarung. Umgekehrt ist der Sohn im Vater, insofern er nichts aus sich selbst tut, sondern die Worte des Vaters spricht und seine Werke vollbringt.“ (Zumstein, 407f.)

 

(39) Nach diesen Worten, mit denen Jesus seine Aussage von 10,30 bekräftigt und verstärkt, versuchen seine Gegner „abermals, ihn zu ergreifen“ (7,30.32.44; 8,20), um ihn zu töten (5,18; 7,1; 8,37.40.59; 10,31). Aber Jesus entkommt ihnen.

 

 

Nachdem Jesus knapp der Steinigung entgangen ist, zieht er sich an den Jordan zurück. Dort kommen viele Menschen zum Glauben an ihn.

 

(40) Und er ging wieder fort auf die andere Seite des Jordans an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte, und blieb dort. (41) Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes hat zwar kein Zeichen getan; aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist wahr. (42) Und viele dort glaubten an ihn.

 

(40) Jesus verlässt Jerusalem und geht „auf die andere Seite des Jordans an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte“. Dabei ist vermutlich an Betanien zu denken (1, 28: „Dies geschah in Betanien jenseits des Jordans, wo Johannes taufte.“); aber auch Änon ist denkbar (3,22-26: „(22) Danach kam Jesus mit seinen Jüngern in das Land Judäa und blieb dort eine Weile mit ihnen und taufte. (23) Aber auch Johannes taufte in Änon, nahe bei Salim, denn es war da viel Wasser; und sie kamen und ließen sich taufen. (24) Johannes war ja noch nicht ins Gefängnis geworfen. (25) Da erhob sich ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über die Reinigung. (26) Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Rabbi, der bei dir war jenseits des Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm.“).

 

(41-42) Dort kommen „viele“ Menschen zu ihm – vor allem solche, die sich an Johannes den Täufer erinnern. Sie stellen fest, dass Johannes – im Unterschied zu Jesus – „kein Zeichen getan“ hat, aber das alles, was Johannes über Jesus gesagt hat (1,29-34), „wahr“ ist. Dabei ist wohl vor allem sein Zeugnis „dieser ist Gottes Sohn“ gemeint (1,34). So finden dort „viele“ zum Glauben an Jesus Christus.

 

 

Zusammenfassung:

Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern spricht Jesus von unrechtmäßigen Hirten, zu denen die Schafe kein Vertrauen haben, die die Schafe nicht schützen oder selbst zu einer Gefahr für sie werden. Demgegenüber ist er der rechtmäßige und gute Hirte, zu dem die Schafe vertrauen haben, dem sie folgen und der ihnen unter Verlust seines eigenen Lebens das ewige Leben schenkt, das ihnen aufgrund seiner Einheit mit seinem himmlischen Vater nicht verloren gehen kann. Jesu Gegner sehen in der Behauptung dieser Einheit einen Akt der Gotteslästerung. Trotzdem bekräftigt Jesus seine untrennbare Verbundenheit mit seinem Vater.

 

 

 

4.3.4   Die Auferweckung des Lazarus – Jesus, die Auferstehung und das Leben (11,1-54)

 

„Kapitel 11 bildet den Höhepunkt und Abschluss der Offenbarung des joh Jesus vor der Welt. Der Ruf Jesu, der Lazarus zurück ins Leben bringt, ist das letzte der sieben ‚Zeichen‘, die der Offenbarer vollbringt. Dieses letzte Wunder ist das größte und gewaltigste: ein Verstorbener, dessen Leichnam schon zu verwesen beginnt, wird ins Leben zurückgerufen. In diesem letzten Machterweis Jesu kommt das Ziel seines Auftrags – das Leben in Fülle zu bringen – in verdichteter Form zum Ausdruck. Dieses Wunder, so eindrücklich es auch ist, provoziert aber zugleich das definitive Scheitern des Auftrags des Offenbarers unter den Menschen. Die Auferweckung des Lazarus entfesselt die Feindschaft der im Synedrium versammelten Behörden, die den Unruhestifter zum Tode verurteilten. Das größte ‚Zeichen‘ erweckt die unerbitterlichste Feindschaft. Die sich im Laufe von Kapitel 7-10 steigernde Intensität des Konflikts erreicht hier ihren Höhepunkt. Kapitel 11 stellt also den Kulminationspunkt der Offenbarung Jesu vor der Welt dar und bereitet den Leser gleichzeitig auf den zweiten Teil des Evangeliums vor.“ (Zumstein, 412).

 

„Alle großen Sequenzen der Kapitel 5.6.9-10, die von einem joh ‚Zeichen‘ berichten, sind nach ein und demselben literarischen Muster konstruiert: Die Erzählung beginnt jeweils mit einer Wundergeschichte. Anschließend wird in mehreren Dialogen und Reden sein theologisches Potential entfaltet. In Kapitel 11 wird diese Reihenfolge der Darstellung umgedreht.“ (Zumstein, 414).

 

 

Im ersten Teil der Erzählung geht es um Ereignisse und Gespräche vor dem Eintreffen Jesu in Betanien.

 

(1) Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. (2) Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank. (3) Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. (4) Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. (5) Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus.

(6) Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. (7) Danach spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa ziehen! (8) Die Jünger aber sprachen zu ihm: Rabbi, eben noch wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dorthin ziehen? (9) Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wer bei Tage umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt. (10) Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm. (11) Das sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke. (12) Da sprachen die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, wird's besser mit ihm. (13) Jesus aber sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs. (14) Da sagte ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; (15) und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen! (16) Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den andern Jüngern: Lasst uns mit ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!

 

(1.2.5) Zunächst nennt der Bericht die Hauptpersonen, den Ort und den Anlas des Geschehens. Alles dreht sich um Lazarus, der zusammen mit seinen Schwestern Maria und Marta in Betanien, einem Ort drei Kilometer südöstlich von Jerusalem (vgl. 11,18, nicht zu verwechseln mit dem „Betanien jenseits des Jordans“, 1,28), lebt. Jesus hat eine besondere Beziehung zu ihnen – vor allem zu Marta, aber auch zu Maria, die kurze Zeit später Jesus salbt und seine Füße mit ihren Haaren trocknet (12,1-8; der Bericht in 11,2 blickt aber auf dieses Ereignis zurück). Lazarus erkrankt.

 

(3-4) Seine Schwestern senden Boten zu Jesus, um ihm auszurichten, dass ihr Bruder erkrankt ist. Das ist natürlich indirektes Hilfsgesuch  (vgl. 2,3). Aber anstatt sich auf den Weg zu machen, kommentiert er diese Nachricht mit dem Hinweis, dass diese „Krankheit … nicht zum Tode“ ist, sondern „zur Verherrlichung Gottes“ dient und der „der Sohn Gottes dadurch verherrlicht“ wird.

 

Dass diese „Krankheit … nicht zum Tode“ ist, kann vordergründig betrachtet so verstanden werden, dass sie nicht lebensbedrohlich ist. Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist – was dafür spricht, dass Jesus etwas anderes meint (wenn man nicht annehmen will, dass Jesus die Lage falsch eingeschätzt hat). Dann meint Jesus, dass der Tod hier nicht das letzte Wort haben wird.

 

Das entspricht auch der Fortsetzung, in der Jesus davon spricht, dass diese Krankheit zur „Verherrlichung Gottes“ bzw. seiner eigenen Verherrlichung als „Sohn Gottes“ dienen wird. Gemeint ist natürlich nicht, dass die Krankheit selbst zur „Verherrlichung“ dient, sondern die in Verbindung mit ihr sich ereignende Wundertat. Die „Verherrlichung“ Jesu  bzw. die Offenbarung der „Werke Gottes“ ist auch nach 2,11 und 9,3 der Sinn der Wundertaten Jesu bzw. seiner „Zeichen“.

 

Jesus erklärt hier also, dass „diese Krankheit … nicht in Bezug auf den Tod und auf das mit ihr verbundene Zunichtewerden zu betrachten“ ist, „sondern in Verbindung mit der δόξα [Herrlichkeit] Gottes.“ (Zumstein, 419).

 

(6-10) Anstatt nach der Nachricht von der Erkrankung des Lazarus sofort nach Betanien aufzubrechen, bleibt er noch zwei Tage an seinem augenblicklichen Aufenthaltsort – also an dem „Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte“ (10,40), an den er sich nach den Auseinandersetzungen mit den Juden zurückgezogen hatte. Auch bei der Hochzeit zu Kana hatte Jesus nach dem Hinweis seiner Mutter, dass der Wein ausgeht, nicht sofort reagiert (2,3-4).

 

Dann aber verkündet er seinen Jüngern: „Lasst uns wieder nach Judäa ziehen!“  Die erinnern ihn daran, dass die Juden ihn doch eben erst steinigen wollten (8,59; 10,31.39). Aber Jesus erklärt ihnen, dass jetzt gehandelt werden muss und verdeutlicht das mit dem Bild vom Tag und der Nacht. Wer „bei Tage umhergeht … stößt sich nicht“, wer „aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm.“ Nun hat der Tag „zwölf Stunden“. Gemeint ist, dass er nur zwölf Stunden hat, die für das Wirken geeignete Zeit also begrenzt ist (vgl. 9,4: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“). Jesus meint also: „er muss die kurze Zeit, die ihm auf Erden noch bleibt, ausnutzen“ (Bultmann, 304).

 

(11-15) Anschließend nennt Jesus seinen Jüngern den Grund für die Rückkehr nach Judäa: „Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke.“  Die Jünger missverstehen Jesu Aussage (zu den Missverständnissen als Stilmittel vgl. zu 3,4) als eine gute Nachricht – im Sinne eines heilsamen Schlafs. Er meint aber, dass Lazarus verstoben ist (zur Rede vom Tod als Schlaf vgl. Mt.27,52; Apg.7,60; 13,36; 1.Kor.7,39; 11,30; 15,6.18.20.51; 1.Thess.4,13-15; 2.Pt.3,4) und erklärt ihnen daher „frei heraus“, dass Lazarus gestorben ist.

 

Dann nennt Jesus den eigentlichen Grund, weshalb er zu Lazarus geht und sich erst jetzt, nach seinem Tod, auf den Weg macht. „Durch das sich ankündigende Geschehen sollen die Jünger in ihrem Glauben erbaut und gestärkt werden, indem sie erkennen, dass derjenige, der zu ihnen spricht, ‚die Auferstehung und das Leben‘ ist.“ (Zumstein, 423).

 

(16) Thomas aber erwartet, dass die Rückkehr nach Judäa ganz andere Folgen hat – nämlich das Martyrium. Er erklärt den anderen Jüngern: „Lasst uns mit ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!“  Ist das ironisch gemeint? Zeigt er, dass er sich in das Unvermeidliche fügen will oder sogar ehrlich zum Martyrium bereit ist? Die Pointe liegt vermutlich im Gegensatz zwischen der Absicht Jesu, sich den Jüngern als „die Auferstehung und das Leben“ zu offenbaren und der Todeserwartung des Thomas.

 

 

Jesus trifft erst vier Tage nach der Grablegung des Lazarus in Betanien ein. Dort begegnet er zunächst Marta.

 

(17) Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. (18) Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. (19) Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders.

(20) Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen. (21) Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. (22) Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. (23) Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. (24) Marta spricht zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. (25) Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; (26) und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? (27) Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

 

(17-19) Hintergrund des Hinweises, dass Lazarus bei seiner Ankunft in Betanien bereits vier Tage im Grab lag, ist vielleicht die zeitgenössische Auffassung, dass die Seele des Verstorbenen noch drei Tage in der Nähe des Körpers weilt und danach jegliche Hoffnung zur Rückkehr ins Leben ausgeschlossen ist (StrBill II, 544f.). Weil Betanien nur ca. 3 Kilometer von Jerusalem entfernt liegt, kommen „viele Juden zu Marta und Maria …, sie zu trösten wegen ihres Bruders“. Für die Tröstung der Trauernden waren damals i.d.R. die ersten sieben Tage nach der Beisetzung vorgesehen (StrBill IV, 592-607).

 

(20-22) Als Marta vom baldigen Eintreffen Jesu erfährt, geht sie ihm entgegen – während ihre Schwester Marta im Haus sitzen bleibt und sich weiter ihrer Trauer hingibt (zum Sitzen als Trauerhaltung: Hes 8,14; 26,16; Klg 2,10). Marta empfängt Jesus mit den Worten: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Dabei handelt es sich wohl weniger um einen Vorwurf, als um ein schmerzliches Bedauern und einen Ausdruck ihres Vertrauens in die Möglichkeiten Jesu. Auch jetzt – nachdem ihr Bruder verstorben ist – vertraut sie darauf, dass Jesus aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zu seinem Vater etwas tun kann und sein Vater ihm alles geben wird, worum er bittet. In einer „bewusst allgemein (…) und unbestimmt gehaltenen Form“ wird eine Hoffnung angedeutet und eine Bitte geäußert, „die alle Möglichkeiten offen hält“ (Schnackenburg II, 413).

 

(23-26a) Jesus greift die unbestimmt formulierte Hoffnung Martas auf und erklärt ihr: „Dein Bruder wird auferstehen“. Erneut wird er missverstanden (vgl. 11,11). Marta bezieht Jesu Antwort auf die „Auferstehung am Jüngsten Tage“.

 

Daraufhin erklärt er ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ (vgl. die anderen „Ich-bin-Worte“: 6,35.41.48.51: „Ich bin das Brot des Lebens“; 8,12: „Ich bin das Licht der Welt.“; 10,7.9: „Ich bin die Tür“; 10,11.14: „Ich bin der gute Hirt.“; 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“; 15,1: „Ich bin der wahre Weinstock.“). Davon, dass Jesus das „Leben“ ist, wird im Johannesevangelium immer wieder gesprochen (1,4; 3,15f.36; 4,14.36; 5,24.26.29.39.40; 6,27.33.35.40.47.48.51.53.63.68; 8,12; 10,10.28). Gemeint ist: er ist das ewige Leben in Person (vgl. 5,26: „… so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber“). Dass Jesus sich hier auch als „die Auferstehung“ in Person bezeichnet, ist eine einmalige Formulierung und ergibt sich aus dem Zusammenhang. Entscheidet ist, dass die Aussage im Präsens formuliert ist.

 

Was bedeutet es, dass Jesus Christus die Auferstehung und das Leben in Person ist und deshalb beides in ihm bereits gegenwärtig ist? Erstens: Wer an Jesus glaubt, „wird leben, ob er gleich stürbe“. Gemeint ist nicht, dass die Gläubigen bei der „Auferstehung am Jüngsten Tage“ zum Leben auferstehen. Dann hätte Jesus ja nur die Auffassung Martas wiederholt (11,24). Jesus behauptet vielmehr: „der Glaubende mag den irdischen Tod sterben; gleichwohl hat er das ‚Leben‘ in einem höheren, im einen endgültigen Sinn“ (Bultmann, 307f.). Zweitens: Wer lebt und an Jesus glaubt, der „wird nicht sterben in Ewigkeit“ (so wörtlich). „Wer sein geschichtliches Leben (…) im Glauben (…) lebt, erleidet den Tod nicht mehr als den Moment einer unabänderlichen, völligen Vernichtung. Das ‚wird nicht sterben in Ewigkeit‘ bedeutet, dass das im Glauben empfangene ewige Leben den Glaubenden vor dem Tod im grundsätzlichen Sinn schützt. Die Macht des Todes … kann ihn nicht mehr treffen; weder in seiner geschichtlichen Existenz, noch bei seinem physischen Tod oder jenseits seines Hinscheidens.“ (Zumstein, 427f.).

 

Zusammengefasst heißt das: „Der Tod ist nicht mehr Verneiner des Lebens und Sturz in das endgültige Nichts, sondern Übergang, ein bloßer Durchgang zum ewigen Leben. Der Tod im alten Sinn ist wesens- und bedeutungslos geworden, denn wer Jesus im Glauben hat, hat bereits Anteil durch ihn am ewigen Leben. Über solchen Glaubenden hat der Tod keine Macht.“ (Becker, 423).

 

(26b-27) Im Anschluss an das Ich-bin-Wort und den Hinweis auf die damit verbundenen Konsequenzen fragt Jesus Marta, ob sie das glaubt, was er ihr verkündet hat. Sie antwortet ihm mit einem Bekenntnis zu Jesus als dem „Christus“, dem „Sohn Gottes, der in die Welt kommt“. „Der Logik des Dialogs nach wäre zu erwarten, dass Martha bei der Formulierung des Inhalts ihres Glaubens (…) die Verheißungen von V.25b und V.26a wiederholt. Martha vermeidet aber jegliche Aussage zum ‚Auferstehungsleben‘ und ihrem Schicksal; sie bekennt lediglich das lebensspendende ‚Du‘ des Offenbarers. Sie objektiviert das geschenkte Leben nicht, sondern bekennt den, der es gibt ….“ (Zumstein, 429).

 

 

 

Dann kommt es auch zu einer Begegnung zwischen Jesus und Maria.

 

(28) Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria und sprach heimlich zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich. (29) Als Maria das hörte, stand sie eilends auf und kam zu ihm. (30) Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war. (31) Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria eilends aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen.

(32) Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. (33) Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbebte (34) und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh! (35) Und Jesus gingen die Augen über. (36) Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! (37) Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste?

 

(28-31) Nach ihrem Glaubensbekenntnis geht Marta zurück zu ihrer Schwester und teilt ihr „heimlich“  mit,  dass Jesus da ist und sie zu sich ruft. Der Grund für die heimliche Überbringung der Nachricht ist vermutlich die Angst vor den mittrauernden Juden (vgl. 7,1.10: „(1) Danach zog Jesus umher in Galiläa; denn er wollte nicht in Judäa umherziehen, weil ihm die Juden nach dem Leben trachteten … (10) Als aber seine Brüder hinaufgegangen waren zum Fest, da ging auch er hinauf, nicht offen, sondern heimlich.“).

 

Unverzüglich begibt sich Maria zu Jesus, der aber noch nicht ins Dorf gekommen ist, sondern sich noch dort befindet, wo er mit Marta gesprochen hat. Als die jüdische Trauergesellschaft sieht, dass Maria aufsteht und hinausgeht, folgt sie ihr, weil sie glaubt, dass sie zum Grab geht, um dort zu weinen.

 

(32) Als Maria Jesus tritt, grüßt sie ihn ehrerbietig. Dann äußert sie sich ganz ähnlich, wie zuvor ihre Schwester: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ (vgl. 11,22). Auch hier handelt es sich wohl weniger um einen Vorwurf, als um eine schmerzliches Bedauern und einen Ausdruck ihres Vertrauens. Allerdings fehlt der Satz, den Marta hinzugefügt hat: „Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“

 

(33-35) Als Jesus Maria und die jüdische Trauergesellschaft weinen sieht, ergrimmt er im Geist und erbebt. Dabei geht es nicht um Mitleid – davon ist später die Rede (V. 35). Das griechische Wort für „ergrimmen“ (ἐμβριμάομαι) meint „hart anfahren“, „schelten“, „Vorwürfe machen“ oder „streng befehlen“ und findet sich noch in 11,38; „erbeben“ (ταράσσω) kann auch mit „in Aufregung/Unruhe/Schrecken versetzen“ übersetzt werden. In Vers 38 geht es dabei eindeutig um eine Reaktion auf den Unglauben, der im Vers zu vor beschrieben wird. Das ist vermutlich auch in Vers 33 die Aussage: Als Jesus Maria und die jüdische Trauergesellschaft weinen sieht, ist er wütend über den Unglauben der Trauernden (so Bultmann, 310; Schnackenburg II, 421; Schneider, 216; Schnelle, 250). Voll „heiliger Wut“ fragt Jesus nach dem Ort des Begräbnisses. Man führt ihn dort hin. Am Grab bricht er in Tränen aus.

 

(36-37) Die ihn begleitenden Juden reagieren unterschiedlich auf seinen Gefühlsausbruch. Zunächst sehen sie darin ein Zeichen seiner innigen Verbundenheit mit Lazarus (vgl. 11,5). Einige aber können sich die kritische Frage nicht verkneifen, warum er, der „dem Blinden die Augen aufgetan“ hat (Joh 9), nicht in der Lage war, den Tod des Lazarus zu verhindern.

 

 

Nun folgt die Auferweckung des Lazarus.

 

(38) Da ergrimmte Jesus abermals und kommt zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. (39) Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen.  (40) Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? (41) Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. (42) Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. (43) Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! (44) Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen!

 

(38-39a) Nach den kritischen Fragen jüdischen Trauergesellschaft wird Jesus erneut von „heiliger Wut“ gepackt. Er kommt zum Grab, bei dem es sich um ein Höhlengrab mit einem Stein davor handelt, und befiehlt, den Stein wegzurollen.

 

(39b-40) Marta, die inzwischen auch hinzugekommen ist, versucht, das zu verhindern und verweist auf den inzwischen fortgeschrittenen Verwesungszustand (vgl. zu 11,17). Aber Jesus entgegnet ihr: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“  Unklar ist, wann er ihr das gesagt hat. Sind die Verse 25 und 26 gemeint? Dann wären sie hier aber äußerst frei wiedergegeben. Seinen Jüngern hatte Jesus gesagt: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.“  Klar ist, dass mit der Offenbarung der „Herrlichkeit Gottes“ ein Wunder gemeint ist (vgl. 2,11: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.“). Die Voraussetzung für das Sehen der „Herrlichkeit Gottes“ ist der Glaube, zu dem Jesus Marta in Vers 26 aufgerufen hatte.

 

(41-42) Nach Jesu Entgegnung auf den Marta Einwand gegen die Öffnung des Grabes, wird tatsächlich der Stein vor dem Grab entfernt. Jesus spricht ein Gebet. In diesem Gebet dankt er seinem himmlischen Vater bereits für die Erhörung und fügt hinzu, dass er um die Erhörung seiner Gebete durch ihn weiß und dieses Gebet nur „um das Volkes willen, das umhersteht“ spricht, „damit sie glauben“, dass er von Gott gesandt ist (zu Jesus als Gesandter Gottes vgl. 3,17; 5,36; 6,29.57; 8,42; 11,3; 17,3.8.18.23.25; 20,21). Weil „der Sohn der Erhörung durch den Vater stets gewiss ist, bedarf er nie der Bitte; hat er jetzt gebetet, so geschah es nur um des anwesenden Volkes willen, ‚damit sie Glauben fassen‘, dass Gott ihn gesandt hat.“ (Bultmann, 311).

 

(43-44) Dann geschieht das Wunder. Mit lauter Stimme befiehlt Jesus Lazarus, aus dem Grab herauszukommen. Und tatsächlich: Der Verstorbene kommt heraus. An Füßen und Händen ist er noch mit Grabtüchern gebunden und sein Gesicht ist mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus befiehlt den Umherstehenden, ihm die Binden zu lösen und ihn gehen zu lassen.

 

„Die ‚Auferstehung‘ des Lazarus verweist auf die Auferstehung Jesu in 20,1-10 (die Ähnlichkeiten zwischen Kapitel 11 und Kapitel 20 sind offensichtlich: das Motiv des Gangs zum Grab, die Rolle der Frauen unter den Jüngern, die Beschreibung des Grabes, die Binden und das Schweißtuch …“ Gleichzeitig gilt, „dass die Auferstehung des Lazarus nur der Schatten und die unvollkommene Vorwegnahme der Auferstehung Jesu ist (die Unterschiede zwischen den beiden Berichten sind nicht weniger offensichtlich: Die Auferstehung Jesu wird nicht beschrieben; im Gegensatz zu Lazarus befreit sich Jesus selbst von den Binden und vom Schweißtuch).“ (Zumstein, 433).

 

 

Nach dem Wunder werden abschließend die gegensätzlichen Reaktionen und die daraus folgenden Konsequenzen beschrieben:

 

(45) Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. (46) Einige aber von ihnen gingen hin zu den Pharisäern und sagten ihnen, was Jesus getan hatte. (47) Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. (48) Lassen wir ihn gewähren, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Tempel und Volk. (49) Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in diesem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; (50) ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. (51) Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in diesem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk (52) und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen. (53) Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten. (54) Da ging Jesus nicht mehr frei umher unter den Juden, sondern ging von dort weg in eine Gegend nahe der Wüste, in eine Stadt mit Namen Ephraim, und blieb dort mit den Jüngern.

 

(45-46) Einige Mitglieder der jüdischen Trauergesellschaft (11,18.31.36f.) finden aufgrund dieses Wunders zum Glauben an Jesus (vgl. 8,30-31: „(30) Als er das sagte, glaubten viele an ihn. (31) Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger.“). Andere aber gegen geradewegs zu den Pharisäern, um ihnen zu berichten, „was Jesus getan hatte“ (vgl. 9,13).

 

(47-50) Daraufhin berufen „die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat“ ein (zu „Hohepriester und Pharisäer vgl. 7,32.45.47; 18,3). Sie beraten, was angesichts der vielen Wunder Jesu zu tun ist und listen die Folge auf, die es haben könnte, wenn sie ihn „gewähren“ lassen: Es werden „alle an ihn glauben“. Daraufhin „kommen die Römer“, die alle messianischen Bewegungen argwöhnisch betrachten. Sie werden ihnen „Tempel und Volk“ wegnehmen.

 

Ein Mitglied des Hohen Rates, Kaiphas, der zu dieser Zeit als Hohepriester amtiert (seine Amtszeit dauerte von 18-37 n.Chr.), bezeichnet die ratlosen Mitglieder des Hohen Rates als unwissend, wirft ihnen Ideenlosigkeit vor und weist sie anschließend darauf hin, dass es doch besser für sie ist, dass „ein Mensch … für das Volk“ stirbt, anstatt zuzulassen, dass durch ihn „das ganze Volk“ in Mitleidenschaft gezogen wird.

 

(51-52) Der Evangelist kommentiert, dass Kaiphas diese Aussage „nicht von sich aus“ getan hat, sondern hier als amtierender Hohepriester unbewusst geweissagt („Die Auffassung, dass bisweilen Worte einen tieferen prophetischen Sinn haben können, lässt sich auch sonst im Judentum nachweisen …“ (Schnackenburg II, 451; vgl. StrBill II, 546) und den stellvertretenden Tod Jesu „für das Volk“ angekündigt hat – wobei er hinzufügt, dass Jesus auch gestorben ist, „um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen“.

 

(53) Nach dieser Sitzung des Hohen Rates ist es beschlossene Sache, dass Jesus beseitigt werden soll.

 

„Im Unterschied zu den Synoptikern wird das Todesurteil Jesu nicht im Rahmen eines Prozesses nach seiner Festnahme, sondern als Konsequenz des Zeichen des Lazarus gefällt.“ (Zumstein, 437).

 

(54) Daraufhin bewegt sich Jesus „nicht mehr frei umher unter den Juden“, sondern begibt sich zusammen mit seinen Jüngern „von dort weg in eine Gegend nahe der Wüste, in eine Stadt mit Namen Ephraim“, einer Stadt ca. 20 Kilometer nordöstlich von Jerusalem am Rande der Wüste.

 

 

Zusammenfassung:

Die Auferweckung des Lazarus zeigt, dass Jesus die Auferstehung und das Leben in Person ist und dient daher zu seiner Verherrlichung. Dieser Höhepunkt seiner Offenbarung vor der Welt führt aber gleichzeitig dazu, dass seine Gegner das Todesurteil über ihn fällen.

 

 

 

4.4    Die letzte Reise nach Jerusalem und die bevorstehende Passion (11,55-12,36)

 

4.4.1   Vor dem Passafest (11,55-57)

 

(55) Es war aber nahe das Passafest der Juden; und viele aus der Gegend gingen hinauf nach Jerusalem vor dem Fest, dass sie sich reinigten. (56) Da suchten sie Jesus und redeten miteinander, als sie im Tempel standen: Was meint ihr? Er wird doch nicht zum Fest kommen? (57) Die Hohenpriester und Pharisäer aber hatten geboten, wenn jemand wüsste, wo er wäre, sollte er's anzeigen, damit sie ihn ergreifen könnten.

 

(55) Erneut naht das Passafest (vgl. 2,13; 6,4), das distanziert als „Passafest der Juden“ bezeichnet wird (vgl. 2,13; 6,4). Deshalb ziehen kurz vor dem Fest „viele aus der Gegend“ – also aus der „Gegend nahe der Wüste“ bzw. aus der „Stadt mit Namen Ephraim“ (11,54) – „hinauf nach Jerusalem“, um sich zu reinigen.

 

Die Reinigung ist Voraussetzung, um an den Feierlichkeiten im Tempel teilzunehmen. Im AT gibt es dazu folgende Aussagen:

4 Mos 8,6-13

(6) Da waren einige Männer unrein geworden an einem toten Menschen, sodass sie nicht Passa halten konnten an diesem Tage. Die traten vor Mose und Aaron am selben Tage (7) und sprachen zu ihm: Wir sind unrein geworden an einem toten Menschen. Warum sollen wir ausgeschlossen sein und unsere Gabe nicht dem HERRN bringen dürfen zur festgesetzten Zeit mit den Israeliten? (8) Mose sprach zu ihnen: Wartet, ich will hören, was euch der HERR gebietet. (9) Und der HERR redete mit Mose und sprach: (10) Sage den Israeliten: Wenn jemand unter euch oder unter euren Nachkommen unrein geworden ist an einem Toten oder auf einer weiten Reise ist, so soll er dennoch dem HERRN Passa halten, (11) aber erst im zweiten Monat am vierzehnten Tage gegen Abend, und soll es mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern essen. (12) Und sie sollen nichts davon übrig lassen bis zum Morgen, auch keinen Knochen davon zerbrechen und sollen's ganz nach der Ordnung des Passa halten. (13) Wer aber rein ist und wer nicht auf einer Reise ist und unterlässt es, das Passa zu halten, der soll ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er seine Gabe nicht zur festgesetzten Zeit dem HERRN gebracht hat. Er soll seine Sünde tragen.

2 Chr 30,15-19

(15) Und sie schlachteten das Passa am vierzehnten Tage des zweiten Monats. Und die Priester und Leviten waren beschämt und heiligten sich und brachten die Brandopfer zum Hause des HERRN (16) und stellten sich an ihren Platz, wie sich's gebührt nach dem Gesetz des Mose, des Mannes Gottes. Und die Priester nahmen das Blut aus der Hand der Leviten und sprengten es; (17) denn es waren viele in der Gemeinde, die sich nicht geheiligt hatten; darum schlachteten die Leviten das Passa für alle, die nicht rein waren, dass sie dem HERRN geheiligt würden. (18) Denn eine Menge Volk, vor allem von Ephraim, Manasse, Issachar und Sebulon, hatte sich nicht gereinigt und aß das Passa nicht so, wie geschrieben steht. Doch Hiskia betete für sie und sprach: Der HERR, der gütig ist, wolle gnädig sein 19 allen, die ihr Herz darauf richten, Gott zu suchen, den HERRN, den Gott ihrer Väter, auch wenn sie nicht die Reinheit haben, die dem Heiligtum gebührt.

Josephus zitiert aus einem Brief der Königs Antiochus: „Kein Fremder darf das Innere des Tempels betreten, was ja auch den Juden nach dem Gesetz ihrer Väter nur erlaubt ist, wenn sie entsprechende Reinigungen vorgenommen haben.“ (Josephus, Jüdische Altertümer XII, 145). Er bezieht sich hier natürlich nicht nur auf das Passafest.

 

(56) Als die Pilger aus der „Gegend nahe der Wüste“ im Tempel beieinanderstehen, unterhalten sie sich über die Frage, ob Jesus auch zum Passafest kommen wird. Sie sind der Auffassung, dass er das wohl nicht tun wird.

 

(57) Grund für diese Annahme ist, dass die „Hohenpriester und Pharisäer“ (vgl. 7,32.45; 11,47; 18,3) nach Jesus fahnden lassen. Sie haben eine Verordnung erlassen, nach der jeder, der den Aufenthaltsort Jesu kennt, zur Anzeige verpflichtet ist – „damit sie ihn ergreifen könnten“. Das ist die logische Konsequenz ihres Beschlusses, Jesus zu töten (11,53).

 

 

 

4.4.2   Die Salbung in Betanien (12,1-11)

 

(1) Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den Jesus auferweckt hatte von den Toten. (2) Dort machten sie ihm ein Mahl, und Marta diente bei Tisch; Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm zu Tisch saßen. (3) Da nahm Maria ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls. (4) Da sprach einer seiner Jünger, Judas Iskariot, der ihn hernach verriet: (5) Warum wurde dieses Öl nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft und das Geld den Armen gegeben? (6) Das sagte er aber nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern er war ein Dieb; er hatte den Geldbeutel und nahm an sich, was gegeben wurde. (7) Da sprach Jesus: Lass sie. Es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses. (8) Denn Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit. (9) Da erfuhr eine große Menge der Juden, dass er dort war, und sie kamen nicht allein um Jesu willen, sondern um auch Lazarus zu sehen, den er von den Toten erweckt hatte. (10) Aber die Hohenpriester beschlossen, auch Lazarus zu töten; (11) denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus.

 

Von der Salbung Jesu in Betanien kurz vor dem Passafest berichten auch das Markusevangelium (Mk 11,3-9) und das Matthäusevangelium (Mt 21,6-13). Nach ihrem Bericht fand die Salbung aber erst nach Jesu Einzug in Jerusalem statt:

 

Salbung in Betanien

Einzug in Jerusalem

Markusevangelium

14,3-9

11,1-10

Matthäusevangelium

26,6-13

21,1-11

Johannesevangelium

12,1-11

12,12-19

Das Lukasevangelium berichtet in Kapitel 7 von Jesu Salbung durch eine Sünderin (Lk 7,36-50).

 

(1-2) „Sechs Tage vor dem Passafest“  begibt sich Jesus erneut nach Betanien. Da er am Freitag, den 14. Nisan, starb (vgl. 18,28), handelt es vermutlich um Sonntag, den 9. Nisan (wenn man den Sonntag selbst mitzählt).

 

Betanien ist der Wohnort von Lazarus (11,1), den Jesus von den Toten auferweckt hatte (11,1-45). Mit der Reise nach Betanien beginnt die Passionsgeschichte Jesu. Deshalb ist die Erinnerung an die Auferweckung des Lazarus vermutlich kein Zufall. Der Evangelist will zeigen: „Der da sterben wird ist jener, der Vollmacht über das Leben und den Tod hat.“ (Zumstein, 442).

 

In Betanien findet ein Festmahl zu Jesu Ehren statt. Marta, die eine der beiden Schwestern des Lazarus (11,1), übernimmt den Tischdienst (vgl. Lk 10,40). Lazarus sitzt mit Jesus zu Tisch, was noch einmal dokumentiert, dass er tatsächlich auferstanden ist und wieder am Leben teilnimmt.

 

(3) Während des Festmahls nimmt Maria, die andere Schwester des Lazarus, „ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde“ und salbt Jesus damit die Füße. Ein römisches Pfund entspricht 327,5 Gramm. Es handelt sich also um eine riesige Menge Salböl. Nach 12,5 beträgt ihr Wert mindestens 300 Silbergroschen – also 300 Tageslöhne! Dieser Überfluss erinnert an die Hochzeit zu Kana und den dortigen Überfluss an Wein (2,1-11). Wegen der großen Menge strömt der Geruch des Salböls durch das ganze Haus.

 

Dass ein Gast gesalbt wird, ist nicht unüblich – die Salbung seiner Füße allerdings schon. Geradezu skandalös ist es aber, dass Maria in aller Öffentlichkeit ihre Haare losbindet, um mit ihnen die Füße Jesu zu trocknen.

 

Was Maria mit dieser Handlung ausdrücken will, wird nicht gesagt. Sie ist sicher ein „Zeichen von Demut und Respekt. Mit der Salbung der Füße Jesu gibt Maria ihrer grenzenlosen Liebe und dem außergewöhnlichen Wert Ausdruck, den sie seiner Person beimisst.“ (Zumstein, 443).

 

(4-6) Judas Iskariot, der kurz darauf Jesus verrät (6,64; 13,2.21-30; 18,2-699), moniert, dass das Öl „nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft und das Geld den Armen gegeben“ wurde. Almosen gelten als ein gutes Werk – besonders in der Passazeit.

 

Der Evangelist aber fügt erklärend hinzu, dass Judas gar nicht am die Armen dachte, sondern an seine eigene Bereicherung. So bediente er sich auch aus der Kasse der Jüngerschaft, die er verwaltete (13,29).

 

(7-8) Jesus aber weist Judas mit den Worten „lass sie!“ zurück. Er begründet dies, indem er ihrer Handlung einen bestimmten Sinn gibt.

 

Die Übersetzung ist leider nicht eindeutig. Während die LB mit „es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses“ übersetzt, heißt es in der EB: „Möge sie es aufbewahrt haben für den Tag meines Begräbnisses.“  Inhaltlich geht es um die Frage, ob Jesus seine Salbung als eine vorweggenommene Totensalbung versteht (Becker, 440f.; Bultmann, 318; Zumstein, 444), oder ob er meint, dass ein Teil des Salböls für sein Begräbnis aufbewahrt werden soll (Schnelle, 263). Gegen die zweite Variante spricht: „Maria tritt nicht mehr auf den Plan, und Nikodemus bringt eine gewaltige Menge (an die 100 Pfund) von konservierenden und duftenden Substanzen, die den Leichentüchern beigegeben werden. So kann nur die bereits stattgefundene Salbung der Füße Jesu gemeint sein.“ (Schnackenburg II, 462). Auch im Markusevangelium deutet Jesus diese Handlung als Vorausname der Salbung seines Leichnams: „Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.“ (Mk 14,8).

 

Begründend fügt Jesus hinzu: „Denn Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit.“  „In diesem besonderen Moment der Geschichte Jesu kann die Aufmerksamkeit nicht den Armen gelten, sondern dem Schicksal Jesu, das sich nun entscheidet.“ (Zumstein, 444).

 

(9-11) Nun wird bekannt, dass Jesus sich in Betanien aufhält. Daraufhin kommt „eine große Menge der Juden“ – nicht nur wegen Jesus, sondern auch, um Lazarus zu sehen, den Jesus von den Toten auferweckt hat und der ebenfalls am Festmahl teilnimmt. Deshalb beschließen die Hohenpriester, „auch Lazarus zu töten“, weil die Menschen zu ihm kommen, um ihn zu sehen und dann an Jesus glauben.

 

 

 

4.4.3   Der Einzug Jesu in Jerusalem (12,12-19)

 

(12) Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, (13) nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! (14) Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): (15) „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“ (16) Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.

(17) Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. (18) Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. (19) Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

 

Wie bereits bemerkt, ist die Reihenfolge der Salbung Jesu und des Einzugs in Jerusalem anders als in den synoptischen Evangelien (vgl. zu 2.7.3). Auch im Detail unterscheiden sich die Berichte:

Mk 11,1-10

Joh 12,12-19

Die Jünger werden beauftragt, einen jungen Esel zu suchen.

Jesus findet einen jungen Esel.

Erst ist vom Esel die Rede, dann von der Prozession.

Erst ist von der Prozession die Rede – dann kommt der Hinweis auf den Esel.

Die Jünger inszenieren die Prozession.

Die Menge inszeniert die Prozession.

Die Menge begleitet Jesus.

Die Menge kommt Jesus entgegen.

Jubelruf: „Hosianna! Gelobt sei, der der kommt in dem Namen des Herrn!“

Jubelruf: „Hosianna! Gelobt sei, der der kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“

kein Bezug auf Sach 9,9

Bezug auf Sach 9,9

kein Hinweis auf Verständnis der Jünger nach Ostern

Verständnis der Jünger erst bei nachösterlichem Rückblick

 

(12-13) Einen Tag nach dem Fest in Betsaida, also fünf Tage vor dem Passafest (12,1), erfahren die Pilger, die bereits in Jerusalem sind und sich fragen, ob auch Jesus auch kommen wird (11,55-56), dass Jesus unterwegs ist. Daraufhin nehmen sie „Palmzweige“ und gehen „hinaus ihm entgegen“.

 

Palmzweige sind seit Makkabäerzeit Symbol siegreicher Herrscher und des jüdischen Nationalismus:

1 Makk 13,51

und nahm sie ein am dreiundzwanzigsten Tage des zweiten Monats im 171. Jahr und zog hinein mit Lobgesang und Palmzweigen, mit Harfen und Zimbeln und Zithern, mit Lobliedern und Preisliedern, weil dieser starke Feind aus Israel vertrieben war.

2 Makk 10,7

Sie trugen laubumwundene Stäbe und schöne Zweige und Palmwedel und priesen mit Lobgesängen den, der es gefügt hatte, dass seine heilige Stätte wieder gereinigt wurde.

2 Makk 14,4

So zog er im 151. Jahr zu König Demetrius, brachte ihm einen goldenen Kranz und einen Palmwedel und dazu Ölzweige, die im Tempel gebräuchlich waren. An diesem Tag verhielt er sich ruhig.

Das Entgegenkommen in Form einer Prozession entspricht dem freudigen Empfang hellenistischer Herrscher.

 

Während der Prozession rufen sie: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“ Dabei handelt es sich möglicherweise um eine Königsakklamation (Ausrufung zum König). Die Formel „gelobt sei, der der kommt im dem Namen des Herrn!“ entspricht Psalm 118,26a. Nun bezeichnet die Menge Jesus darüber hinaus ausdrücklich als „König von Israel“ (vgl. 1,49). „Die Akklamation ist zugleich Ausdruck eines nationalistischen Missverständnisses in Bezug auf die Rolle Jesu und die Vorwegnahme des christologischen Titels, der in der Passionsgeschichte bestimmend sein wird (vgl. 18,33.37.39; 19,3.12.14.15.19.21).“ (Zumstein, 448).

 

(14-15) Daraufhin findet Jesus „einen jungen Esel“ und setzt sich darauf. Dies entspricht – wie der Evangelist ausdrücklich erklärt – einer Aussage der Schrift.

 

Das folgende Zitat ist eine Kombination von Sach 9,9 und Zeph 3,16 (unterstrichene Passagen werden vom Evangelisten zitiert):

Sach 9,9

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.

Zeph 3,16

Zur selben Zeit wird man sprechen zu Jerusalem: Fürchte dich nicht, Zion! Lass deine Hände nicht sinken!

 

Welche Bedeutung hat diese Handlung? Klar ist, dass sie der Königserwartung entspricht. Vermutlich korrigiert sie diese aber gleichzeitig: „Jesus, der in Jerusalem einzieht, ist wohl der erwartete König – und darin ist er Gegenwart Gottes inmitten der Seinen –, aber sein Königtum ist weder nationalistisch gebunden noch kriegerisch. Es stellt sich auf überraschende Weise ein, wie es die Passionsgeschichte zeigen wird.“ (Zumstein, 448)

 

(16) Die ebenfalls anwesenden Jünger aber verstehen nicht, was hier geschieht bzw. was es bedeutet und dass sich hier die Schrift erfüllt. Das wird ihnen erst klar, nachdem „Jesus verherrlicht war“, also nach Ostern (vgl. 2,22: „Als er nun auferstanden war von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.“).

 

(17-19) Abschließend wird erklärt, wie es zu dem triumphalen Empfang gekommen ist: Die Augenzeugen der Auferweckung des Lazarus (vgl. 11,41-45; 12,9-11) haben dieses Wunder bezeugt. Nachdem die Volksmenge nun „hörte, er habe dieses Zeichen getan“, ging „ihm auch die Menge entgegen“.

 

Deshalb müssen die Pharisäer resigniert feststellen, dass sie gegen Jesus nichts ausrichten können und „alle Welt“ ihm nachläuft. Vermutlich ist das für sie eine Bestätigung dafür, dass ihr Beschluss zur Tötung Jesu (11,53) richtig ist.

 

Ihre Feststellung, das „alle Welt“ ihm nachläuft, ist möglicherweise gleichzeitig eine weitere unbewusste Weissagung (7,35: 11,51f.) – eine Weissagung der erfolgreichen Heidenmission der Christen.

 

 

 

4.4.4   Die Stunde der Verherrlichung des Menschensohns (12,20-36)

 

(20) Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. (21) Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. (22) Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen's Jesus. (23) Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. (24) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (25) Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's bewahren zum ewigen Leben. (26) Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. (27) Jetzt ist meine Seele voll Unruhe. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. (28) Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen. (29) Da sprach das Volk, das dabeistand und zuhörte: Es hat gedonnert. Andere sprachen: Ein Engel hat mit ihm geredet. (30) Jesus antwortete und sprach: Diese Stimme ist nicht um meinetwillen geschehen, sondern um euretwillen. (31) Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen werden. (32) Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (33) Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. (34) Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn? (35) Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. (36) Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.

 

Bei diesem Abschnitt handelt es sich um die letzte öffentliche Unterweisung Jesu. Sie enthält auffällig viele Parallelen zum ersten Kapitel des Johannesevangeliums:

 

Kapitel 1

Kapitel 12,20-36

Andreas und Philippus aus Bethsaida

1,44

12,21

Menschensohn/ Erhöhung des Menschensohns von der Erde in den Himmel

1,51

12,32

Bezugnahme auf eine Stimme Gottes

1,23

12,28.30

Bezugnahme auf das Hören der Stimme Gottes

1,37 12,29

12,29

Symbolik von Licht und Finsternis

1,4.9

12,35

 

(20-22) Unter den Pilgern, die anlässlich des Passafestes nach Jerusalem gekommen sind, befinden sich auch „einige Griechen“. Es handelt sich entweder um „Gottesfürchtige“ (Sympathisanten des Judentums, die aber nicht konvertiert sind) oder um „Proselyten“ (Personen, die nicht von Geburt an Juden waren, aber zum Judentum übergetreten sind). Dass sie sich an Jesus wenden, ist vermutlich eine Erfüllung der eben ergangenen unbewussten Prophezeiung aus dem Mund der Pharisäer: „… siehe, alle Welt läuft ihm nach.“

 

Sie wenden sich an Philippus, der aus Betsaida stammt (1,43-44), das an der Grenze zum heidnischen Territorium liegt, und erklären ihm: „Herr, wir wollen Jesus sehen.“ Philippus zieht Andreas hinzu (1,40.44). Anschließend informieren sie Jesus über die griechischen Pilger und ihre Bitte.

 

„Der Evangelist will offenbar andeuten, dass der Weg zu Jesus für die Griechen über die Apostel führt. Vielleicht werden auch Philippus und Andreas deshalb genannt, weil sie nach späterer Überlieferung in der Provinz Asien eine Rolle spielten.“ (Schneider, 229).

 

(23-24) „Jesus geht nicht direkt auf die Bitte … ein; stattdessen gibt er eine Deutung seines Todes. Er gewährt also den Griechen kein sofortiges Treffen, doch gibt er durch diese hermeneutische Verschiebung zu verstehen, dass das Treffen mit den Angehörigen der hellenistischen Welt … eine Frucht seines Todes sein wird. Die Heiden werden also erst nach seiner Erhöhung am Kreuz die Gelegenheit haben, Jesus zu ‚sehen‘.“ (Zumstein, 453f.).

 

Angesichts der Bitte der griechischen Pilger erklärt Jesus seinen beiden Jüngern: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.“  Wenn Jesus im Johannesevangelium von der „Stunde“ spricht, die für ihn kommt bzw. gekommen ist, meint er die Zeit seiner Passion (7,30: „… aber niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen“; 8,20: „… und niemand ergriff ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.“) oder – wie hier – die „Stunde“, in der er verherrlicht wird (vgl. 17,1: „… die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn …“). Mit der Verherrlichung – wie der Zusammenhang zeigt (12,24) – ebenfalls sein Tod am Kreuz gemeint. Dabei bezeichnet Jesus sich als „Menschensohn“ (vgl. 1,51; 3,13.14; 5,27; 6,27; 6,62; 8,28; 9,35; 12,34; 13,31).

 

Zur Erläuterung dieser Aussage er erzählt Jesus ein kurzes Gleichnis vom Weizenkorn (vgl. Mk 4,3-9.26-29.30-32; 1 Kor 15,37-38). Er leitet es mit der Offenbarungsformel „wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ ein (mehr als 20 mal im Johannesevangelium), die zeigt, dass die folgenden Worte von besonderer Bedeutung sind.

 

Das Gleichnis zeigt, dass Jesus in seinem Tod verherrlicht wird. Die Pointe liegt aber auf der Wirkung seines Todes. Ein Weizenkorn, dass „nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt … allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“.

 

Im Zusammenhang mit dem Interesse der „Griechen“ an Jesus und seiner Botschaft bedeutet das: „Jesu Tod ist notwendig, um reiche Missionsfrucht einzubringen.“ (Schnackenburg II, 480). Für die „Griechen“ heißt das gleichzeitig: „Jesus wird den Heiden nicht durch eine unmittelbare geschichtliche Begegnung zugänglich, sondern durch Tod und Erhöhung.“ (Zumstein, 455).

 

(25-26) In den Versen 25-26 geht es nicht mehr um die schöpferisch-missionarische Bedeutung des Todes Jesu. Stattdessen spricht Jesus darüber, auf welche Weise sein Tod das Leben der Jünger bestimmt (vgl. Mk 8,34-35).

 

Dabei stellt er zunächst zwei Lebensweisen gegenüber – mit einem Hinweis auf die damit verbundenen Konsequenzen.  Einerseits: „Wer sein Leben lieb hat, der verliert es …“. Andererseits: „Wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's bewahren zum ewigen Leben.“

 

„Das Wort vom Lieben und Hassen des Lebens knüpft unmittelbar an Jesu eigene Lebenshingabe an und zeigt dem Jünger, dass auch für ihn der Tod nicht Untergang, sondern Erfüllung des wahren Lebens ist.“ (Schnackenburg II, 481).

 

Die zweite Lebensweise und die mit ihr verbundene Verheißung wird in Vers 26 näher erläutert. Wer „sein Leben auf dieser Welt hasst“, tut das, weil und indem er Jesus dient und ihm nachfolgt.

 

Dem Nachfolger aber winkt das gleiche Schicksal, wie dem, dem er nachfolgt – nicht nur mit den damit verbundenen Schwierigkeiten, sondern auch mit seinen Vorteilen. Jesus sagt: „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“ Gemeint sind die „Wohnungen“ im Hause seines Vaters, von denen Jesus kurze Zeit später in 14,1-3 spricht: „(1) Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! (2) In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? (3) Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin.“  (vgl. 14,18-19: „(18) Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. (19) Es ist noch eine kleine Zeit, dann sieht die Welt mich nicht mehr. Ihr aber seht mich, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.“). Die anschließende Aussage „und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren“ zielt in die gleiche Richtung. „Bei Jesus sein und durch den Vater geehrt werden ist ein und dieselbe Sache.“ (Zumstein, 456).

 

„Wenn man des Weiteren die V.23-26 als eine Antwort sieht, die an die ‚Griechen‘ gerichtet ist, das heißt an jene, die mit Jesus keine direkte Verbindung haben, dann werden diese hier auf den Weg, den der Gekreuzigte-Erhöhte gegangen ist, verwiesen. Es gibt keinen direkten Zugang zum erhöhten Christus. Der Weg, auf dem man ihm begegnen kann, ist der Weg des Dienens, der die Erniedrigung und den Tod in der Nachfolge in Kauf nimmt.“ (Zumstein, 457).

 

(27-28) Das dann folgende Gebet Jesu zeigt sein Einverständnis mit dem Weg des Kreuzes. Zwar spricht er einleitend von seiner „Unruhe“ angesichts des vor ihm liegenden Weges (vgl. die Gethsemane-Szene der synoptischen Evangelien, die im Johannesevangelium nicht erwähnt wird: Mk 14,32-42) – aber nur, um anschließend sofort festzustellen, dass es für ihn keine Option ist, seinen Vater darum zu bitten, ihm diesen Weg zu ersparen. Stattdessen betont er, dass seine Aufgabe nicht darin besteht, „‘diese Stunde‘ zu vermeiden, sondern im Gegenteil, sie zum Mittelpunkt seines Handelns im Dienst Gottes zu machen.“ (Zumstein, 458). So will der Bericht weniger über den Seelenzustand Jesu berichten, als die Bedeutung seines Leidenswegs herausstellen.

 

Jesus hat daher nur eine Bitte: „Vater, verherrliche deinen Namen!“ Er bittet, dass durch seinen Tod die Gegenwart Gottes unter den Menschen vollkommen offenbart und anerkannt werde“ (Zumstein, 458).

 

Diese Bitte wird unmittelbar erhört. Es ertönt eine „Stimme vom Himmel“. Es ist die Stimme seines Vaters. Nun hatte Jesus seinen Vater gebeten: „Vater, verherrliche deinen Namen.“ Die Stimme aber erklärt: „Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.“  Gott verherrlicht seinen Namen also dadurch, dass er seinen Sohn verherrlicht.

 

Wann und wo wird Jesus verherrlicht? Sein himmlischer Vater hat ihn bei der Taufe, bei seiner Verkündigung und den damit verbundenen Zeichen verherrlicht – und er wird das „abermals“ tun.

 

(29-33) Auch die Volksmenge (12,17f.) hat die „Stimme vom Himmel“ gehört, aber nicht verstanden. So meinen die einen, dass es „gedonnert“ hat; andere vermuten, dass „ein Engel“ mit Jesus gesprochen hat.

 

Jesus erklärt ihnen, dass die „Stimme vom Himmel“ nicht seinetwegen, sondern ihretwegen gesprochen hat (vgl. 11,41-42: „(41) … Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. (42) Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.“).

 

Welche Botschaft hat die „Stimme vom Himmel“ für die Volksmenge? Sie zeigt, dass „jetzt … das Gericht über diese Welt“ stattfindet. Nach dem vorher Gesagten kann nur das Kreuzesgeschehen gemeint sein (vgl. 12,27: „Jetzt ist meine Seele voll Unruhe …“). Das aber bedeutet: „Dieses Gericht wird nicht auf apokalyptische Art und Weise, als am Ende der Geschichte eintretend, verstanden, sondern es geschieht mitten im Verlauf der Geschichte selbst, am Kreuz.“ (Zumstein, 460).

 

Inwiefern findet jetzt am Kreuz das Gericht statt? Jesus sagt: „Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen werden.“ Vom „Fürst dieser Welt“ ist auch in 14,30 und 16,11 die Rede. Gemeint ist natürlich der „Teufel“ (vgl. 8,44; 13,2) bzw. der „Satan“ (13,27). Im Frühjudentum wird der Teufel auch „Fürst der Geister“ (Jub 10,8), „Fürst des Unrechts, der diese Welt beherrscht“ (MartJes 2,4/Asc 2,4; 10,29), „Belial“ (1 QM 1,1; 5,13; 14,9; 1 QS 1,18; 2.5.19) oder „Beliar“ (TestXII) genannt; im NT auch „Gott dieser Welt“ (2 Kor 4,4) und „Mächtiger, der in der Luft herrscht“ (Eph 2,2).

 

Durch Jesu Tod wird der Teufel „hinausgestoßen“. Das bedeutet, „dass nicht mehr das Böse das letzte Wort über die Welt hat, sondern die Offenbarung der Liebe Gottes in der Gestalt des Gekreuzigten. Mit diesem Umbruch ist die Äonenwende [Zeitenwende] eingetreten.“ (Zumstein, 461).

 

Wenn Jesus am Kreuz – im wahrsten Sinne des Wortes (vgl. Vers 33!) – „erhöht“ wird „von der Erde“, will er dadurch „alle“ (vgl. 12,24: „… wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“) zu sich „ziehen“ (vgl. 6,44: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“).

 

(34-36) Das Volk aber stellt der Aussage Jesu über die Erhöhung des Menschensohns (12,23.32) die Aussage des Gesetzes gegenüber, „dass der Christus in Ewigkeit bleibt“ . Mit dem „Gesetz“ ist hier wohl, wie in 10,34, die ganze Schrift gemeint.

 

Unklar ist, auf welche Textstelle sie sich beziehen. In Frage kommen folgende Möglichkeiten:

Ps 89,37

Sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron vor mir wie die Sonne,

Jes 9,6

auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

Hes 37,25

Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.

 

Außerdem fragt das Volk: „Wer ist dieser Menschensohn?“ Aber anstatt auf ihre Frage einzugehen, fordert er seine Zuhörer dazu auf, solange er noch bei ihnen ist, in seinem Licht zu leben und an ihn zu glauben.

 

Bereits in 8,12 hatte Jesus sich als „das Licht der Welt“ bezeichnet. Außerdem hatte er darauf hingewiesen, dass er nur noch „eine kleine Zeit“ unter den Menschen weilen wird (7,33; vgl. 13,33; 14,19; 16,16-18). Deshalb sollen sie jetzt in diesem Licht „wandeln“, damit die „Finsternis“ (1,5; 3,19; 8,12; 12,46) sie nicht überfällt. Denn: „Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“ (vgl. 11,10: „Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm.“).  

 

Im Licht zu wandeln heißt natürlich nichts anderes als: „Glaubt an das Licht.“  Alle, die das tun, werden hier und heute „des Lichtes Kinder“ (vgl. 1,12). „Damit hat die eschatologische Verheißung … neuen Sinn gewonnen: was die apokalyptische Phantasie von kosmischen Umgestaltungen erwartet, das hat der Glaubende schon gegenwärtig.“ (Bultmann, 272).

 

Nach diesen Worten verlässt Jesu die Szene und verbirgt sich vor der Menschenmenge. Es ist das Ende seines öffentlichen Wirkens.

 

 

Zusammenfassung:

Jesus weicht der Passion nicht aus, sondern geht geradewegs auf sie zu – weil er gekommen ist, um sein Leben hinzugeben und dadurch alle, die an ihn glauben, zu sich zu ziehen.

 

 

 

4.5    Zusammenfassender Rückblick auf das öffentliche Wirken Jesu (12,37-50)

 

4.5.1   Der Unglaube des Volkes (13,37-43)

 

(37) Und obwohl er solche Zeichen vor ihren Augen getan hatte, glaubten sie doch nicht an ihn, (38) auf dass erfüllt werde der Spruch des Propheten Jesaja, den er sagte (Jesaja 53,1): "Herr, wer glaubt unserm Predigen? Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?" (39) Darum konnten sie nicht glauben, denn Jesaja sagte wiederum (Jesaja 6,9-10): (40) "Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, dass sie mit den Augen nicht sehen noch mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich ihnen helfe." (41) Das sagte Jesaja, weil er seine Herrlichkeit sah und von ihm redete. (42) Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. (43) Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.

 

Zusammenfassend stellt der Evangelist die weitgehende Erfolglosigkeit des Wirkens Jesu fest. Dabei geht es ihm aber vor allem um „eine theologische Betrachtung, die den jüdischen Unglauben im Licht der Schrift zu verstehen sucht“ (Schnackenburg II, 513).

 

(37-38) Der Evangelist stellt fest: Trotz der „Zeichen“, die Jesus „vor ihren Augen“ getan hat, glaubt das Volk nicht an ihn. Möglicherweise denkt er dabei speziell an die sieben Zeichen des Johannesevangeliums:

·         Das Weinwunder zu Kana (2,1-12)

·         Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten in Kapharnaum (4,43-54)

·         Die Heilung des Gelähmten am Sabbat beim Teich Bethesda (5,1-18)

·         Die Speisung des Volkes am See von Tiberias (6,1-15)

·         Der Seewandel (6,16-21)

·         Die Heilung des Blindgeborenen beim Teich Schiloach (9,1-12)

·         Die Auferweckung des Lazarus (11,1-57)

„Vielleicht will er um das Rätsel des Unglaubens zu unterstreichen, nur auf diese äußerlich am meisten beeindruckenden Dinge hinweisen: Sogar sie vermochten keinen Glauben hervorzurufen (vgl. 5,37f.; 15,24).“ (Schnackenburg II, 516). Genauso denkbar ist aber, dass auch weitere Zeichen gemeint sind (20,30: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus …“).

 

„Die nun folgende Argumentation hat den Zweck, das Phänomen des Unglaubens der Glaubensgenossen Jesu zu erläutern: Wie soll man erklären oder gar rechtfertigen, dass gerade die ursprünglichen Adressaten der Offenbarung sich dieser mehrheitlich verweigern? Welche Rolle spielt Gott in dieser dramatischen Geschichte? Wird seine Autorität durch dieses Scheitern in Frage gestellt? Wird der Glaube der Jünger durch diese Weigerung nicht angefochten? Der implizite Autor versucht, diesem Rätsel Sinn zu geben, indem er sich auf die Schrift, Ausdruck des Willens Gottes, bezieht.“ (Zumstein, 467).

 

Der Evangelist deutet den Unglauben des Volkes als Erfüllung der Schrift (vgl. 15,25) – konkret der Aussage des Propheten Jesaja (Jes 53,1): „Herr, wer glaubt unserm Predigen? Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?"  (Johannes zitiert hier nach der LXX). Die Menschen glauben weder seinem „Predigen“, noch seinen Taten („Arm des Herrn“).

 

„Der mit der Bibel vertraute Leser erkennt in diesem Zitat den Beginn des Liedes vom leidenden Gottesknecht (…). Somit bedroht das Scheitern der Offenbarung nicht ihre Gültigkeit, sondern ist mit Bezug auf diese berühmte Stelle als deren Erfüllung zu verstehen. Die nun anschließende Passionsgeschichte bestätigt diese hermeneutische Perspektive.“ (Zumstein, 468).

 

(39-40) Johannes geht aber noch einen Schritt weiter: Hatte er zunächst nur betont, dass sich im Unglauben des Volkes die Schrift erfüllt, behauptet er jetzt, dass es gar nicht glauben konnte, weil Gott den Unglauben des Volkes aktiv herbeigeführt hat.

 

Dabei bezieht er sich erneut auf eine Aussage des Propheten Jesaja (Jes 6,9-10), die er aber hier verkürzt und verändert wiedergibt.

Jes 6,9-10 im Zitat des Johannesevangeliums

Jes 6,9-10 im Original

Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, dass sie mit den Augen nicht sehen noch mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich ihnen helfe.

 

(9) Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! (10) Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.

Diese Verse werden auch in Mk 4,12 und Mt  13,13-16 zitiert.

 

Die Verblendung der Augen bezieht sich hier sicher darauf, dass das Volk trotz aller Zeichen, die er „vor ihren Augen getan hatte“, nicht an Jesus geglaubt hat (12,37). Das „Herz“ ist in biblischer Sprache das Zentrum der Person, der Ort, an dem die Entscheidungen fallen. Dieses Zentrum hat Gott „verstockt“. Deshalb konnte Israel nicht sehen, nicht verstehen und sich nicht bekehren. Deshalb konnte Jesus dem Volk nicht helfen. „Gott hat jenen Menschen mit der über sie verhängten Verstockung, aus der heraus sie nicht gläubig sehen und innerlich begreifen können, auch die Möglichkeit der ‚Heilung‘ und Rettung durch seinen Sohn, den eschatologischen Heilsbringer, genommen.“ (Schnackenburg II, 519).

 

Das bedeutet: „Das ‚nicht glauben können‘ des Volkes ist kein Widerruf der Autorität Gottes, sondern paradoxerweise ihre beabsichtigte Bestätigung … Dieser Gedanken hat das Ziel, die Glaubensidentität des Lesers zu stärken. Der unverständliche Unglaube des Volkes, der zur Zeit der Redaktion des Evangeliums im Synagogenausschluss Gestalt gewinnt, findet seine Erklärung in der Schrift und entspricht einem in der Geschichte Israels und seiner religiösen Tradition bekannten Phänomen: Die göttliche Offenbarung führt nicht nur zum Glauben der einen, sondern provoziert gleichzeitig die Ablehnung und Verstockung der anderen.“ (Zumstein, 469).

 

(41) Abschließend bekräftigt Johannes die Glaubwürdigkeit Jesajas. Er „ist deshalb ein vertrauensvoller Zeuge, weil er die Offenbarung der wahren Identität des Sohnes erfahren hat“ (Zumstein, 469).

 

Damit, dass Jesaja Jesu „Herrlichkeit sah und von ihm redete“, ist vermutlich die Berufungsvision Jesajas gemeint (Jes 6,1ff.), in deren Zusammenhang sich ja auch die Aussage über die Verstockung findet. Konkret spielt Johannes hier vermutlich auf Jes 6,5 an: „Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ Johannes deutet diesen Vers christologisch.

 

(42-43) Diese grundsätzlichen Aussagen über den Unglauben des Volkes und seine theologische Begründung schließen nicht aus, dass Einzelne an Jesus glauben. Sogar „von den Oberen“ (3,1; 7,26.48) glauben „viele an ihn“. Zu denken ist etwa an Nikodemus (3,1; 7,50; 19,39) und Joseph von Arimathäa (19,38).

 

Allerdings bekennen sich diese „Oberen“ aus Angst von den Pharisäern nicht offen zu Jesus. Sie wollen nicht „aus der Synagoge ausgestoßen … werden“ (vgl. 9,22; 16,2). Dahinter sieht der Evangelist noch eine problematische Grundhaltung: Ihnen ist die „Ehre bei den Menschen“ wichtiger als die „Ehre bei Gott“.  Für Johannes aber „gehört nur der Mensch zu den Jüngern Jesu, der bereit ist, seinen Glauben öffentlich zu bekennen; und er muss darauf gefasst sein, daraufhin nicht mehr in den Genuss sozialer Anerkennung zu gelangen.“ (Zumstein, 470).

 

 

4.5.2.  Zusammenfassendes Schlusswort Jesu (12,44-50)

 

(44) Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. (45) Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat. (46) Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe. (47) Und wer meine Worte hört und bewahrt sie nicht, den richte ich nicht; denn ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette. (48) Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage. (49) Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich tun und reden soll. (50) Und ich weiß: Sein Gebot ist das ewige Leben. Darum: Was ich rede, das rede ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.

 

„Zum Abschluss des öffentlichen Wirkens Jesu wird noch einmal die bleibende Heilsbedeutung seiner Offenbarung und ihr endzeitlicher Entscheidungscharakter herausgestellt.“ (Schnelle, 274).

 

(44-45) Noch einmal ruft (vgl. 7,28.37) Jesus dem Volk etwas zu. Natürlich geht es um den Glauben an ihn. Hier stellt er noch einmal klar, dass alle, die an ihn glauben, damit an den glauben, der ihn gesandt hat (4,34; 5,23.24.30.37; 6,38-40; 7,16.18.28.33; 8,16.29; 9,4; 13,16; 14,24; 15,21; 16,5; 20,21) – also an seinen Vater im Himmel.

 

Diese Aussage wird in Vers 45 noch einmal wiederholt, wobei nicht vom Glauben, sondern vom Sehen die Rede ist. Das Wort „kann körperlich-dingliches Sehen (9,8; 10,12; 20,6), geistiges Wahrnehmen (4,19; 12,19) und gläubiges Sehen (14,17.19) bis hin zur himmlischen Schau (17,24) bezeichnen. Mit Vorliebe wird es angewendet, wo der Übergang vom äußeren Sehen der σημεῖα (2,23; 6,2; ἔργα 7,3) und des sichtbar erscheinenden Jesus (6,19; 20,14) zu einem nur im Glauben vollziehbaren Sehen angedeutet wird (14,17.19; vgl. 6,62).“ (Schnackenburg II, 526).

 

„Beide Sätze sagen in synonymem Parallelismus das Gleiche: Jesus ist nichts für sich; er ist der Offenbarer, der Gott sichtbar macht.“ (Bultmann, 262).

 

(46) Im Anschluss an seinen Hinweis, dass alle, die an ihn glauben, damit an Gott glauben, betont Jesus die fundamentale Bedeutung des Glaubens an ihn. Weil er „als Licht in die Welt gekommen“ ist (1,4-5; 3,19; 8,12; 9,5; 12,35-36), werden alle, die an ihn glauben, „nicht in der Finsternis“ bleiben (8,12; 12,35).

 

„Die Welt, in der der Mensch lebt, ist ‚Finsternis‘, so dass jedes menschliche Dasein entfremdet ist, der Täuschung und dem Tod anheim gegeben. Allein das Kommen des Lichts in Gestalt des inkarnierten Sohnes (…), das die Realität Gottes offenbart, ermöglicht es dem Glaubenden, nicht in der Gefangenschaft der Finsternis zu verbleiben, sondern zum Sinn und dadurch zur Fülle des Lebens zu gelangen.“ (Zumstein, 472).

 

(47-48) Schließlich kommt Jesus auf die Folgen zu sprechen, die mit der Ablehnung seiner Botschaft verbunden sind. Dabei stellt er zunächst heraus, dass er selbst die Ungläubigen nicht richten wird – weil er nicht gekommen ist, um zu richten, sondern um zu retten (vgl. 3,16-17). Allerdings hat jeder, der ihn verachtet und seine Worte nicht annimmt „schon seinen Richter“ (vgl. 3,18). Inwiefern? Das Wort, das Jesus verkündigt hat, „wird ihn richten am Jüngsten Tage“. 

 

„Am letzten Tage (…) wird das von Jesus verkündigte Wort, das hier geradezu als eine selbständige, von seiner Person losgelöste Größe erscheint, sein Richter sein. Eine Parallele dazu bietet das Spätjudentum (Bar.Apok. 48,47; 4. Esra 13,28), wo dem Gesetz die gleiche Rolle zugewiesen wird.“ (Schneider, 239).

 

Interessant ist, dass die Ungläubigen zwar bereits ihren Richter haben, das Gericht selbst aber erst „am Jüngsten Tag“ stattfindet. Das heißt: „Der Epilog führt zwar die Konzeption eines Gerichts am Ende der Zeiten wieder ein (…), doch macht dieses Gericht lediglich rechtsgültig, welche Haltung der Mensch gegenüber dem Wort des inkarnierten Logos eingenommen hat (…). In diesem Sinne fällt der Unglaubende sein eigenes Urteil, indem er das Licht ablehnt und somit von Gott getrennt bleibt. Das Gericht offenbart lediglich unumkehrbar den Tod, den er gewählt hat.“ (Zumstein, 473).

 

(49-50) Warum hat Jesu Wort eine so große Bedeutung? Weil Jesus nicht aus sich selbst heraus geredet hat, sondern das, was ihm sein Vater geboten hat. Und was hat ihm sein Vater geboten bzw. als Botschaft aufgetragen? Er hat ihm geboten, vom ewigen Leben zu sprechen.

 

Daraus folgt: Jesu Verheißung des ewigen Lebens für alle, die an ihn glauben (3,16), wird für alle, die diese Botschaft ablehnen, „zum Gericht, weil Jesus nicht von sich aus, sondern nur im Auftrag des Vaters redet“ (Bultmann, 263).

 

 

Zusammenfassung:

„Die göttliche Offenbarung führt nicht nur zum Glauben der einen, sondern provoziert gleichzeitig die Ablehnung und Verstockung der anderen.“ (Zumstein, 469). Weil er im Auftrag Gottes spricht, haben sich alle, die Jesus zurückweisen, schon jetzt selbst gerichtet – auch wenn das Urteil noch nicht vollstreckt worden ist.