3 Das erste öffentliche Wirken: Die Kana-Ringkomposition
(2,1-4,54)
Der Aufbau des ersten Hauptteils (1,19-12,50) ist nicht eindeutig erkennbar. Klar ist jedoch, dass mit 2,1 das öffentliche Wirken Jesu beginnt und mit 5,1 die Auseinandersetzungen mit Vertretern des Judentums einsetzen (unterbrochen von Kap. 6). Außerdem beginnt und endet der Abschnitt 2,1-4,54 jeweils mit einem Wunder, das Jesus in Kana vollbringt.
3.1 Die
Hochzeit zu Kana (2,1-12)
(1) Und am dritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa, und
die Mutter Jesu war da. (2) Jesus aber und seine
Jünger waren auch zur Hochzeit geladen. (3) Und als der Wein ausging,
spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. (4) Jesus spricht zu ihr: Was
habe ich mit dir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht
gekommen. (5) Seine
Mutter spricht zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut. (6) Es standen aber dort sechs
steinerne Wasserkrüge für die Reinigung nach jüdischer Sitte, und in jeden
gingen zwei oder drei Maße. (7) Jesus spricht zu ihnen:
Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan. (8) Und er spricht zu ihnen:
Schöpft nun und bringt's dem Speisemeister! Und sie brachten's ihm. (9) Als aber der Speisemeister
den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wusste, woher er kam – die
Diener aber wussten's, die das Wasser geschöpft hatten –, ruft der
Speisemeister den Bräutigam (10) und spricht zu ihm: Jedermann
gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie trunken sind, den geringeren; du aber
hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten. (11) Das ist das erste Zeichen,
das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine
Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn. (12) Danach zog er hinab nach
Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger, und sie blieben nur
wenige Tage dort.
Wengst beginnt seine Auslegung mit dem Hinweis, dass „diese Erzählung … bei den Auslegern immer wieder Verlegenheit hervorgerufen“ hat. „Die gewisse Schroffheit, mit der Jesus seine Mutter anspricht, und vor allem die außerordentlich große Menge Alkohol, für deren Beschaffung er verantwortlich ist, haben nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet. Praktische Gemeindefrömmigkeit erfindet noch ein Wunder hinzu. So hat mir einmal eine fromme Frau versichert: ‚Von dem Wein, den Jesus da aus Wasser gemacht hat, ist niemand betrunken geworden.‘ Wissenschaftliche Exegese nimmt offen Anstoß und hilft sich mit einer religionsgeschichtlichen ‚Erklärung‘: Die Geschichte sei ‚aus heidnischer Legende übernommen und auf Jesus übertragen worden‘, wobei auf die ‚Dionysos-Legende‘ verwiesen wird.“ (Wengst, 86f.)
Die Wichtigkeit dieses Abschnitts ergibt sich daraus, dass er das „erste Zeichen, das Jesus tat“ (2,11) schildert – was ein Hinweis auf seine programmatische Bedeutung ist. Außerdem knüpft er an 1,50-51 an, wo Nathanael verheißen wird, „noch Größeres“ zu „sehen“ – den geöffneten Himmel. Demensprechend heißt es in 2,11: „… und er offenbarte seine Herrlichkeit“.
(1-2) Zunächst werden Zeit, Ort und Personen der Handlung vorgestellt. Die Zeitangabe „am dritten Tag“ erklärt sich möglicherweise einfach dadurch, dass für die Reise von Betanien (1,28) nach Kana in Galiläa drei Tage benötigt werden. Vielleicht aber will sie auch darauf hinweisen, dass sich die Nathanael gegeben Verheißung (1,50-51) schon bald erfüllt hat (Becker, 108; Schnackenburg I, 331).
Darüber
hinaus haben Bibelausleger gefragt, ob die Zeitangabe von drei Tagen eine
symbolische Bedeutung haben kann.
·
Offenbar handelt es sich bei dem „dritten
Tag“ um den siebten Tag der Erzählung des Johannesevangeliums. Ist die
Hochzeit zu Kana also der Sabbat der mit Jesus beginnenden neuen Schöpfung?
1.
Tag |
Abordnung
aus Jerusalem: |
1,19-28 |
2.
Tag |
Jesus
kommt zu Johannes |
1,29: „Am nächsten Tag …“ |
3.
Tag |
Die
ersten Jünger (Unbekannter + Andreas + Simon) |
1,35: „Am nächsten Tag …“ |
4.
Tag |
Die
ersten Jünger (Philippus und Nathanael) |
1,43: „Am nächsten Tag …“ |
5-7.
Tag |
Reise |
2,1:
„Und am dritten Tag …“ |
·
Vom dritten Tag ist auch bei der Offenbarung Gottes am Sinai die Rede
(2 Mos 19,16). Soll damit angedeutet werden, dass in Kana ein Ereignis von
ähnlicher bzw. noch größerer Bedeutung (1,17) bevorsteht?
·
Vor allem aber ist der dritte Tag der Tag der Auferstehung Jesu. Das
wird bereits im folgenden Abschnitt deutlich (2,19-22). Ist die Zeitangabe also
bereits ein Hinweis auf die Auferstehung Jesu?
Keine
dieser symbolischen Deutungen kommt über Vermutungen hinaus.
Ort der Handlung ist „Kana in Galiläa“. Die Stadt liegt westlich vom See Genezareth und ca. 15 Kilometer nördlich von Nazareth, der Heimatstadt Jesu (1,45).
Dort findet eine Hochzeit statt. Eine Hochzeit dauert damals i.d.R. eine Woche. Während dieser Zeit besuchen die Gäste das frisch vermählte Paar. „Sowohl die Menge des Weines als auch die Diener und der ‚Tafelmeister‘ als Chef der Dienerschaft verweisen auf einen reichen Haushalt. Ein verwegener Anfang, denn gerade in der Antike waren Hochzeiten rauschende Feste. Zahlreiche Texte berichten von üppigen Gelagen, besonderen Tanzdarbietungen und Mengen von Geschenken und Reden bei Hochzeiten.“ (Schnelle, 88).
Zu den Gästen gehört „die Mutter Jesu“. Sie wird nicht mit Namen genannt und tritt im Johannesevangelium nur noch unter dem Kreuz Jesu auf (19,25-27). Aber auch Jesus und seine Jünger sind zur Hochzeit eingeladen.
(3-5) Auf dieser Hochzeit kommt es zu einer Krise: der Wein droht auszugehen, so dass die Fortführung des Festes in Frage gestellt ist. In dieser Situation wendet sich die Mutter Jesu an ihren Sohn und erklärt ihm: „Sie haben keinen Wein mehr.“ Das ist sicher mehr als eine Feststellung, sondern auch eine Bitte, hilfreich einzugreifen. Offenbar hat sie zumindest die Hoffnung, dass er das Problem lösen kann.
Die Antwort Jesu überrascht. Er redet sie nicht mit „Mutter“, sondern mit „Frau“ an (vgl. 19,26). Im heutigen Sprachgebrauch entspricht das ungefähr einem „Madame“ (Wengst, 90). „Ist diese Anrede auch nicht respektlos oder verächtlich, so richtet sie doch eine eigentümliche Distanz zwischen Jesus und seiner Mutter auf. Die menschliche Verbundenheit und die aus ihr erwachsenen Motive kommen für das Handeln Jesu nicht in Frage; der Wundertäter untersteht seinem eigenen Gesetz und hat auf eine andere Stimme zu hören …“ (Bultmann, 81).
Die Antwort Jesu „was habe ich mit dir zu schaffen“ lautet wörtlich übersetzt: „was mir und dir?“. Diese Formel findet sich auch in Mk 1,24; 5,7 – und zwar im Mund von Besessenen, die Jesus abwehren wollen. Auch in 2,4 handelt es sich offensichtlich um eine Abwehrformel.
Entscheidend ist die Begründung: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Was aber meint Jesus, wenn er von seiner „Stunde“ spricht? Der Begriff „Stunde“ findet sich noch an folgenden Stellen des Johannesevangeliums (in der Tabelle unterstrichen – weil der Begriff in der LB an einigen Stellen einfach mit „Zeit“ übersetzt wird):
1,39 |
Er sprach zu ihnen: Kommt
und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber
um die zehnte Stunde. |
4,6 |
Es war aber dort Jakobs
Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder;
es war um die sechste Stunde. |
4,21.23 |
(21) Jesus spricht zu ihr:
Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge
noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet … (23) Aber es kommt die Stunde
und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im
Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. |
4,52-53 |
(52) Da fragte er sie nach
der Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie antworteten
ihm: Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber. (53) Da
merkte der Vater, dass es die Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt
hatte: Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause. |
5,25.29 |
(25) Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten
hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die
werden leben … (28) Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde,
in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden. |
7,30 |
Da suchten sie ihn zu
ergreifen; aber niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch
nicht gekommen. |
8,20 |
Diese Worte redete Jesus an
dem Gotteskasten, als er lehrte im Tempel; und niemand ergriff ihn, denn
seine Stunde war noch nicht gekommen. |
11,9 |
Jesus antwortete: Hat nicht
der Tag zwölf Stunden? Wer bei Tag umhergeht, der stößt sich nicht;
denn er sieht das Licht dieser Welt. |
12,23-28 |
(23) Jesus aber antwortete
ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn
verherrlicht werde. (24) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das
Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es
aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (25) Wer sein Leben lieb hat, der
wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren
zum ewigen Leben. (26) Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich
bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein
Vater ehren. (27) Jetzt ist meine Seele voll Unruhe. Und was soll ich sagen?
Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde
gekommen. (28) Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom
Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen. |
13,1 |
Vor dem Passafest aber
erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser
Welt ginge zum Vater … |
16,2-4 |
(2) Sie werden euch aus der
Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet,
meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit. (3) Und das werden sie darum
tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen. (4) Aber dies habe ich
zu euch geredet, damit, wenn ihre Stunde kommen wird, ihr daran denkt,
dass ich’s euch gesagt habe. Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt,
denn ich war bei euch. |
16,21 |
Eine Frau, wenn sie
gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen … |
16,25 |
Das habe ich euch in
Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, dass ich nicht mehr in Bildern
mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. |
16,32 |
Siehe, es kommt die Stunde
und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine,
und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. |
17,1 |
So redete Jesus und hob
seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen:
Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; |
19,27 |
Danach spricht er zu dem
Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie
der Jünger zu sich. |
An einigen Stellen ist einfach nur die Uhrzeit gemeint (1,39; 4,6; 4,52-53; 11,9). Meistens geht es aber um einen bestimmten Zeitpunkt oder Zeitabschnitt. So ist von der Stunde der Geburt die Rede (16,21), vom Zeitpunkt, ab dem sich der Jünger, den Jesus lieb hatte, um seine Mutter kümmert (19,27) und von der Zeit der Verfolgung (16,2-4; 16,32). Einige Texte sprechen von einer besonderen Zeit – von der Zeit einer neuen Anbetung Gottes (4,21.23), der Auferstehung der Toten oder der Zeit, in der Jesu mit seinen Jüngern nicht nur in Bildern von Gott sprechen wird (16,25).
Nun hat Jesus seiner Mutter gesagt: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ In 7,30 und 8,20 ist „seine Stunde“ die Zeit seiner Ergreifung – also die Zeit seiner Passion. In 13,1 ist „seine Stunde“ die Zeit seiner Rückkehr zu seinem Vater im Himmel und in 12,23 und 17,1 ist von der „Stunde“, in der Jesus verherrlicht wird, die Rede – wobei die Verherrlichung in seinem Kreuzestod geschieht (12,23-28).
Deshalb verstehen viele Bibelausleger die Aussage „meine Stunde ist noch nicht gekommen“ als Hinweis auf die Passion Jesu (Schnelle, 90; Wengst, 90; Zumstein, 119). Als Begründung für seine distanzierte Antwort auf die indirekte Bitte seiner Mutter aber macht der Hinweis auf seinen Tod wenig Sinn. Jedenfalls wäre sie für seine Mutter absolut unverständlich. Deshalb liegt es nahe, dass Jesus mit „meine Stunde“ an dieser Stelle einfach die Zeit seines Wirkens meint (Becker, 107; Bultmann, 107; Schnackenburg I, 335; Schneider, 81).
Aber wenn die Antwort „meine Stunde ist noch nicht gekommen“ meint, dass die Zeit für sein Wirken noch nicht gekommen ist – warum vollbringt Jesus dann kurze Zeit später das Weinwunder? In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Interesse, dass Jesus auch an anderer Stelle auf Vorschläge und Bitten zunächst ablehnend reagiert, dann aber doch eingreift:
7,1-10 |
(1) Danach zog Jesus umher
in Galiläa; denn er wollte nicht in Judäa umherziehen, weil ihm die Juden
nach dem Leben trachteten. (2) Es war aber nahe das Laubhüttenfest der Juden. (3) Da sprachen seine Brüder zu ihm: Mach dich auf von hier und
geh nach Judäa, auf dass auch deine Jünger die Werke sehen, die du
tust. (4) Denn niemand tut etwas im Verborgenen und will doch öffentlich
bekannt sein. Willst du das, so offenbare dich vor der Welt. (5) Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn. (6) Da spricht Jesus zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht da, eure
Zeit aber ist immer da. (7) Die Welt kann euch nicht hassen. Mich aber hasst sie, denn ich
bezeuge von ihr, dass ihre Werke böse sind. (8) Geht ihr hinauf zum Fest! Ich will nicht hinaufgehen zu diesem
Fest, denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt. (9) Das sagte er und blieb in Galiläa. (10) Als aber seine Brüder hinaufgegangen waren zum Fest, da ging
auch er hinauf, nicht offen, sondern heimlich. |
11,1-11 |
(1) Es lag aber einer
krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. (2) Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine
Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank. (3 )Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr,
siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. (4) Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum
Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch
verherrlicht werde. (5) Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und
Lazarus. (6) Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage
an dem Ort, wo er war. (7) Danach spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa
ziehen! (8) Die Jünger aber sprachen zu ihm: Rabbi, eben noch wollten die
Juden dich steinigen, und du willst wieder dorthin ziehen? (9) Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wer bei
Tage umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser
Welt. (10) Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein
Licht in ihm. (11) Das sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser
Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke. |
Warum handelt Jesus so? Möglichweise geht es ihm darum, dass Andere nicht über ihn zu bestimmen haben. Das wäre dann auch eine sinnvolle Erklärung für die Aussage „meine Stunde ist noch nicht gekommen“. Gemeint wäre dann, „dass Jesus sich die Stunde seines Handelns nicht vorschreiben lässt; sie ist erst da, wenn er sie für gekommen hält“ (Schneider, 81; vgl. Becker, 107: Bultmann, 81) bzw. „dass nur der Vater darüber zu verfügen hat“ (Schnackenburg I, 335).
Auch die Mutter Jesu hat die Antwort offenbar nicht so verstanden, als wolle Jesus passiv bleiben. Deshalb weißt sie die Diener an, die Anweisungen Jesu zu befolgen.
(6-8) Tatsächlich gibt Jesus ihnen konkrete Anweisungen. Sie beziehen sich auf „sechs steinerne Wasserkrüge“, die dort „für die Reinigung nach jüdischer Sitte“ bereit stehen und in die jeweils „zwei oder drei Maße“ Wasser passen. Ein Maß sind ca. 40 Liter, so dass es sich um 480 oder sogar 720 Liter handelt – eine außergewöhnliche Menge.
Dass die Wasserkrüge eigentlich „für die Reinigung nach jüdischer Sitte“ bestimmt sind, nun aber einem ganz anderen Zweck dienen, kann möglicherweise andeuten, dass Jesus in Kana „eine neue Wirklichkeit“ erschließt, „die den Alten Bund übertreffen soll“ (Zumstein, 120).
Jedenfalls weist Jesus die Diener an, die Krüge mit Wasser zu füllen. Sie befolgen Jesu Befehl und füllen sie „bis obenan“. Anschließend beauftragt er sie, dem Speisemeister eine Kostprobe zu bringen.
Der Leser ahnt, dass inzwischen ein Wunder geschehen ist. Aber: „Das Wunder wird nicht beschrieben. Diese narrative Lücke hat theologische Bedeutung: Das Handeln Gottes lässt sich nicht objektivieren und dementsprechend wäre jegliche direkte Beschreibung des Wunders unangemessen.“ (Zumstein, 120).
(9-10) Der Speisemeister kostet den Wein und kann sich – im Unterschied zu den Dienern – die Herkunft des Weines nicht erklären und bestätigt dadurch indirekt, dass ein Wunder geschehen ist. „Sein Unwissen ist der Beweis seiner Objektivität.“ (Zumstein, 120).
Daraufhin ruft er den Bräutigam zu sich – weil der Wein, den er gekostet hat, von besonderer Qualität ist und er sich wundert, warum dieser Wein erst jetzt aufgetischt wird. Denn: „Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie trunken sind, den geringeren.“ Unklar ist, ob der Speisemeister sich hier auf eine allgemein anerkannte Weinregel bezieht; sie kann jedenfalls für die damalige Zeit nicht eindeutig nachgewiesen werden. Vielleicht verweist er nur auf seine Erfahrungswerte (Schnelle, 91). Es kann sich aber auch „um eine einfache, leicht zynische Bemerkung zum bekannten Verhalten nicht sehr stilvoller Gastgeber“ (Zumstein, 121) oder um eine „humorvolle Bemerkung“ (Schnackenburg I, 337) handeln.
Aber hier läuft es anders herum. Dass jemand die Gäste austrickst, wäre für den Speisemeister nichts Neues. Aber dass jemand den guten Wein erst später auftischt, wenn die Gäste vielleicht gar nicht mehr den Unterschied merken, überrascht ihn.
An
dieser Stelle ein kurzer Exkurs zur Frage, was gemeint ist, wenn der
Speisemeister davon spricht, dass man den Gästen den minderwertigeren Wein
gibt, „wenn sie trunken sind“ – und
damit indirekt zu der Frage, ob er hier Traubensaft oder alkoholischen Wein
meint. Das griechische Wort, das die LB mit „trunken“
übersetzt (μεθύσκω), findet sich im NT noch an
folgenden Stellen:
LK
12.45 |
Wenn aber jener Knecht in
seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die
Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich voll
zu saufen, |
Eph
5,18 |
Und sauft euch nicht
voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom
Geist erfüllen. |
1
Thess 5,7 |
Denn die schlafen, die
schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. |
Off
17,2 |
mit der die Könige auf
Erden Hurerei getrieben haben; und die auf Erden wohnen, sind betrunken
geworden von dem Wein ihrer Hurerei. |
Das
Wort steht also immer im Zusammenhang mit Alkoholkonsum bzw. seinen negativen
Auswirkungen.
(11) Die Erzählung schließt mit einem Kommentar des Erzählers. Darin bezeichnet er das Wunder von Kana als „Anfang der Zeichen“ (EB in wörtlicher Übersetzung).
Was sind „Zeichen“? Im Johannes findet sich dieser Begriff noch an folgenden Stellen:
2,18 |
Da fingen die Juden an und
sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? |
2,23 |
Als er aber am Passafest in
Jerusalem war, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die
er tat. |
3,2 |
Der kam zu Jesus bei Nacht
und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen;
denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. |
4,48 |
Und Jesus sprach zu ihm:
Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. |
4,54 |
Das ist nun das zweite
Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam. |
6,2 |
Und es zog ihm viel Volk
nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. |
6,14 |
Als nun die Menschen das
Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der
in die Welt kommen soll. |
6,26 |
Jesus antwortete ihnen und
sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen
gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden
seid. |
6,30 |
Da sprachen sie zu ihm: Was
tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk
tust du? |
7,31 |
Aber viele aus dem Volk
glaubten an ihn und sprachen: Wenn der Christus kommen wird, wird er etwa
mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? |
9,16 |
Da sprachen einige der
Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.
Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es
entstand Zwietracht unter ihnen. |
10,41 |
Und viele kamen zu ihm und
sprachen: Johannes hat kein Zeichen getan; aber alles, was Johannes von
diesem gesagt hat, das ist wahr. |
11,47 |
Da versammelten die
Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir?
Dieser Mensch tut viele Zeichen. |
12,18 |
Darum ging ihm auch die
Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. |
12,37 |
Und obwohl er solche
Zeichen vor ihren Augen tat, glaubten sie doch nicht an ihn, |
20,30-31 |
(30) Noch viele andere
Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem
Buch. (31) Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der
Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt
in seinem Namen. |
Die Texte zeigen, dass der Begriff „Zeichen“ im Johannesevangelium uneinheitlich verwendet wird:
1.
Zunächst fällt auf, dass an vielen Stellen summarisch und allgemein von „Zeichen“ Jesu die Rede ist (2,23; 3,2; 6,2; 7,31; 10,41; 11,47; 12,37; 20,30-31). Es bleibt unklar, woran konkret zu denken ist. Der Begriff „Zeichen“ scheint einfach ein anderes Wort für Wunder zu sein. Sie beeindrucken die Menschen (3,2; 6,2), müssen auch von ihren Gegnern anerkannt werden (11,47) und führen Menschen zum Glauben an Jesus (2,23; 7,31) bzw. haben das Potential dazu (20,30-31). Die Mehrheit aber glaubt trotz der „Zeichen“ nicht an ihn (12,37).
2.
An zwei Stellen ist davon die Rede, dass von Jesus „Zeichen“ zu seiner Beglaubigung gefordert werden (2,18; 6,30). Dabei ist ebenfalls an Wunderzeichen zu denken. Aber anstatt, wie gefordert, ein Wunder zu tun und die Menschen dadurch möglicherweise zum Glauben zu führen, geht Jesus in seinen Antworten über die geforderten Wunderzeichen und den Horizont seiner Gesprächspartner weit hinaus – und erntet Unverständnis.
2,18ff. |
Ankündigung,
den Tempel in drei Tagen wieder aufzurichten – womit Jesus seine leibliche
Auferstehung meint. |
6,30ff. |
Bei
Jesus gibt es mehr als Manna – er ist das Brot des Lebens. |
3.
An einer Stelle kritisiert Jesus den Wunsch nach „Zeichen und Wundern“ sogar ausdrücklich als unzureichend: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ (4,48).
4.
An einigen Stellen ist – wie in 2,11 – klar, welches Ereignis konkret gemeint ist, wenn von einem „Zeichen“ die Rede ist:
4,54 |
Die
Heilung des Sohnes des königlichen Beamten |
6,14 |
Die
Speisung der Fünftausend |
9,16 |
Die
Heilung des Blindgeborenen |
12,18 |
Die
Auferweckung des Lazarus |
Wenn hier von „Zeichen“ gesprochen wird, geht es also jeweils um Wunder.
5.
Nach 6,26 geht es bei den „Zeichen“ nicht nur um ein konkretes und äußerlich sichtbares Wunder, sondern um eine tiefere Wirklichkeit, die hinter dem äußeren Wundergeschehen verborgen liegt bzw. weit über diese hinausgeht. Nach der Speisung der Fünftausend sagt Jesus der Volksmenge, die ihm folgt: „Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid.“ Er kritisiert, dass sie ihm folgen, weil sie aufgrund der Speisung der Fünftausend zu essen hatten. Dabei hätten sie das damit verbundene „Zeichen“ sehen sollen – also die tiefere Bedeutung des Ereignisses erfassen und ihm deshalb folgen sollen.
Was aber ist nun mit dem „Zeichen“ von Kana? Will es auf eine tiefere Wirklichkeit hinweisen? Und wenn ja, welche tiefere Wirklichkeit könnte gemeint sein?
Bei anderen „Zeichen“ wird die tiefere Bedeutung ausführlich entfaltet – vor allem in der Brotrede (Kap. 6). In Vers 11 heißt es lediglich: „… und er offenbarte seine Herrlichkeit“. Mit der „Herrlichkeit“ Jesu ist „die Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater“ (1,14) gemeint. Die Verwandlung von Wasser in Wein ist also ein „Zeichen“ für Jesu Herrlichkeit als Sohn Gottes: „In dem aus göttlicher Macht gewirkten Geschehen erfährt der Glaubende etwas vom göttlichen Wesen Jesu, schaut er die Majestät des Gottessohnes, ahnt er auch den Lichtglanz der himmlischen Welt, den er mit leiblichen Augen noch nicht sehen kann.“ (Schnackenburg I, 340). „Das Geschenkwunder wird zu einer Epiphanie der Göttlichkeit des Wundertäters.“ (Becker, 110).
Dass
das Wunder von Kana insofern „Zeichen“ ist, als in ihm die Herrlichkeit Jesu Christi
als Sohn Gottes aufstrahlt, ist auch die Pointe der Versuche, die Begebenheit
auf dem Hintergrund der Dionysos-Legende zu verstehen. Nach der griechischen
Mythologie ist Dionysos der Gott des Weines. Nun heißt es in einem Fragment des
Historikers Memnon von Herakleia (1./2. Jh. n. Chr.): „Er (Dionysos) füllte
also die Quelle, aus der Nikaia gewöhnlich trank, wenn sie von der Jagd
erschöpft war, mit Wein statt mit Wasser.“ (zit. in Schnelle, 91). Bultmann
erklärt darüber hinaus: „Am Tage des Dionysos-Festes sollen die Tempelquellen
auf Andros und Teos alljährlich Wein statt Wasser gesprudelt haben. In Elis
wurden am Vorabend des Festes drei leere Krüge im Tempel aufgestellt, die am
andern Morgen voll Wein gefunden wurden.“ (Bultmann, 83). Nach Zumstein wurde
diese „Verwandlung von Wasser in Wein … als eine Epiphanie des Göttlichen
gedeutet“ (Zumstein, 117). Die Belege für diese Vorstellung sind allerdings
spärlich; außerdem wird in den vorliegenden Quellen nirgends direkt betont,
dass Dionysos Wasser in Wein verwandelt hat (Wengst, 87; Schneider, 83).
Außerdem ist unklar, ob der Dionysos-Kult im 1. Jh. n. Chr. in Galiläa bekannt
bzw. von Bedeutung war (zustimmend z.B. Zumstein, 117; kritisch z.B. Schnelle,
92).
Worin aber zeigt sich „die Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater“ beim Wunder von Kana? Nach 1,14 ist die Herrlichkeit Jesu Christi „voller Gnade und Wahrheit“. Gemeint ist: In Jesus Christus wohnt die göttliche Fülle – und sie ist in ihm sichtbar geworden und wird von denen, die an ihn glauben, in Anspruch genommen (1,16: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade …“).
Dieser göttlichen Fülle entspricht die Fülle des Weines. Das Wunder von Kana also nicht nur ein „Zeichen“ für die Göttlichkeit Jesu Christi, sondern zugleich ein „Zeichen“ dafür, dass Menschen in Jesus Christus göttliche Fülle empfangen.
Dazu passt, dass die Hochzeit und die große Menge an Wein bereits im AT ein Bild für die gottgeschenkte Fülle der Heilszeit ist:
Hochzeit
und Heilszeit |
Jes
54,4-8 |
(4) Fürchte dich nicht,
denn du sollst nicht zuschanden werden; schäme dich nicht, denn du sollst
nicht zum Spott werden, sondern du wirst die Schande deiner Jugend vergessen
und der Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken. (5) Denn der dich gemacht
hat, ist dein Mann – HERR Zebaoth heißt sein Name –, und dein Erlöser ist der
Heilige Israels, der aller Welt Gott genannt wird. (6) Denn der Herr hat dich
zu sich gerufen wie eine verlassene und von Herzen betrübte Frau; und die
Frau der Jugendzeit, wie könnte sie verstoßen bleiben!, spricht dein Gott. (7)
Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer
Barmherzigkeit will ich dich sammeln. (8) Ich habe mein Angesicht im
Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will
ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. |
Jes
62,4-5 |
(4) Man soll dich nicht
mehr nennen »Verlassene« und dein Land nicht mehr »Einsame«, sondern du
sollst heißen »Meine Lust« und dein Land »Liebe Frau«; denn der HERR hat Lust
an dir, und dein Land hat einen lieben Mann. (5) Denn wie ein junger Mann
eine Jungfrau freit, so wird dich dein Erbauer freien, und wie sich ein
Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen. |
|
Der
Wein in der Heilszeit |
Jes
25,6 |
Und der HERR Zebaoth wird
auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem
Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist. |
Jer
31,5 |
Du sollst wiederum
Weinberge pflanzen an den Bergen Samarias; pflanzen wird man sie und ihre
Früchte genießen. |
|
Hos
2,24 |
und die Erde antwortet mit
Korn, Wein und Öl erhören, und diese sollen antworten Jesreel. |
|
Joel
4,18 |
Zur selben Zeit werden die
Berge von Most triefen und die Hügel von Milch fließen, und alle Bäche in
Juda werden voll Wasser sein. Und es wird eine Quelle ausgehen vom Hause des
Herrn, die wird das Tal Schittim bewässern. |
|
Am
9,13 |
Siehe, es kommt die Zeit,
spricht der HERR, dass man zugleich ackern und ernten, zugleich keltern und
säen wird. Und die Berge werden von Most triefen, und alle Hügel werden
fruchtbar sein. |
Nun
ist in der Erzählung von den Wasserkrügen „für
die Reinigung nach jüdischer Sitte“ die Rede. Sie werden von Jesus
zweckentfremdet. Das legt nahe, dass das Wunder von Kana auch insofern ein „Zeichen“ ist, dass Jesus „an die Stelle
der alttestamentlichen Kultordnung eine neue setzt. Nicht das für die äußere
Reinigung vorgesehene Wasser, sondern die von ihm gespendete Heilsfülle hat
lebensspendende Kraft.“ (Schneider, 83). Gegen diese Deutung des Begriffs „Zeichen“ in der Erzählung von der
Hochzeit zu Kana spricht, dass die für die Reinigung vorgesehenen Wasserkrüge
nur eine untergeordnete Rolle spielen und somit die neue Kultordnung eher als
Nebenaspekt des Zeichens anzusehen ist.
Wenn es im Kommentar des Erzählers abschließend heißt „und seine Jünger glaubten an ihn“, dann ist ihr Glaube wohl die Folge der Offenbarung der Herrlichkeit Jesu in diesem besonderen Zeichen (vgl. 20,30-31). „Nicht der Glaube schaut das Wunder, sondern durch die Offenbarung der Doxa des Inkarnierten im Wunder entsteht der Glaube. Weil das Wunder Offenbarungsort der Doxa und damit der Gottheit des Inkarnierten ist, kann es zum Glauben führen.“ (Schnelle, 92).
(12) Die Erzählung schließt mit dem Bericht über den Ortswechsel der Protagonisten. Sowohl Jesus, als auch „seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger“ begeben sich in die ca. 30 Km entfernte Stadt Kapernaum am Nordufer des Sees Genezareth. Kapernaum ist möglicherweise so etwas wie die „Basisstation“ Jesu (vgl. 6,24.59). Von seinen Brüdern ist auch in 7,1-10 die Rede. Sie bleiben aber nur wenige Tage dort – weil Jesus sich dann zum Passafest nach Jerusalem begibt (2,13).
Zusammenfassung:
Jesus, der Sohn
Gottes, lässt sich nicht drängen; er handelt souverän. Im Wunder von Kana
offenbart er sein göttliches Wesen, gibt Menschen Anteil an seiner Fülle und
führt sie zum Glauben an ihn.
3.2 Die
Vertreibung der Händler aus dem Tempel und der Anspruch Jesu (2,13-22)
Auch bei der Vertreibung der Händler aus dem Tempel geht es – wie beim Wunder von Kana (2,1-12) – nicht nur darum, was Jesus tut, sondern vor allem darum, welche Bedeutung es hat.
Der Abschnitt besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird der Vorfall im Tempel geschildert (2,13-17); anschließend folgt eine kurze Diskussion mit den „Juden“ über Jesu Legitimation, bei der Jesus geheimnisvoll vom Abbrechen und Aufrichten des Temples spricht (2,18-22).
Zu beiden Teilen gibt es Parallelen in den anderen Evangelien:
Die
Vertreibung der Händler |
Joh
2,13-17 |
Mt
21,12-13; Mk 11,15-19; Lk 19,45-48 |
Die
Diskussion über Jesu Legitimation |
Joh
2,18-22 |
Mt
21,23-27; Mk 11,27-33; Luk 20,1-8 |
Vom
Abbrechen und Aufrichten des Tempels |
Joh
2,19-22 |
Mt
26,61; Mk 14,58 |
Der Vergleich zeigt: Auch in den anderen Evangelien gehören die Berichte über die Vertreibung der Händler und die Diskussion über Jesu Legitimation zusammen. Lediglich das Wort über das Abbrechen und Aufrichten des Tempels findet sich an anderer Stelle – und ist dort kein Jesu-Wort, sondern eine Aussage falscher Zeugen über ein angebliches Jesus-Wort. Es handelt sich offenbar um Berichte über dasselbe Ereignis. Der entscheidende Unterschied aber ist: Während diese Berichte in anderen Evangelien zu den Ereignissen kurz vor Jesu Tod gehören, stehen sie im Johannesevangelium am Anfang seines Wirkens. Die Frage, was den Verfasser dazu bewogen hat, kann erst auf der Grundlage der Auslegung des Abschnitts beantwortet werden (s.u.).
(13) Und
das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. (14) Und er fand im Tempel die
Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da
saßen. (15) Und
er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt
den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die
Tische um (16) und
sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht
meines Vaters Haus zum Kaufhaus! (17) Seine Jünger aber dachten
daran, dass geschrieben steht (Psalm 69,10): »Der Eifer um dein Haus wird mich
fressen.«
(13) Von Kapernaum (2,12) begibt sich Jesus „hinauf nach Jerusalem“, weil das „Passahfest der Juden“ bevorsteht. Wie andere fromme Juden kommt er seiner Pilgerpflicht nach. Die Formulierung „Passahfest der Juden“ lässt aber eine gewisse Distanz erkennen und spiegelt vermutlich das Verhältnis zwischen den johannäischen Gemeinden und der Synagoge zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums.
Das
Johannesevangelium erwähnt noch zwei weitere Passahfeste und ein nicht näher
bestimmtes „Fest der Juden“.
5,1 |
Danach war ein
Fest der Juden, und Jesus zog hinaus nach Jerusalem. |
6,4 |
Es war aber kurz vor dem Passa,
dem Fest der Juden. |
11,55 |
Es war aber
nahe das Passafest der Juden; und viele aus der Gegend gingen hinauf nach
Jerusalem vor dem Fest, dass sie sich reinigten. |
„Diese
Beziehung zwischen dem Wirken Jesu und der Feier des Passah ist hermeneutisch bedeutsam:
Der Autor verbindet die großen Momente des Wirkens Jesu mit diesem Fest und
nimmt so dessen Bedeutungspotential auf, um es christologisch zu besetzen. An
diesem ersten Passah liefert der Tempel selber den metaphorischen Kult zur
Deutung der Rolle Jesu.“ (Zumstein, 125).
(14-16a) Im Jerusalemer Tempel beobachtet Jesus einen lebhaften Handel und schreitet ein.
Diese Szene wird im Markusevangelium ganz ähnlich geschildert:
Joh
2,14-15 |
Mk
11,15-16 |
(14) Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und
Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen. (15) Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum
Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das
Geld aus und stieß die Tische um (16a) und sprach zu denen, die die
Tauben verkauften: Tragt das weg …! |
(15) Und sie kamen nach Jerusalem. Und Jesus ging in den Tempel und
fing an, hinauszutreiben die Verkäufer und Käufer im Tempel; und die Tische
der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler stieß er um (16) und ließ nicht zu, dass jemand etwas durch den Tempel
trüge. |
Das Johannesevangelium geht aber an einigen Stellen über den Bericht der anderen Evangelien hinaus. Es berichtet …
· … von Rindern und Schafen im Tempel.
· … vom Ausschütten des Geldes der Wechsler (zusätzlich zum Umstoßen der Tische).
· … vom Austreiben der Händler.
· … vom Gebrauch einer „Geißel aus Stricken“.
Es schildert sowohl die Missstände im Tempel, als auch die Aktion Jesu noch radikaler, als dies die anderen Evangelien tun.
Die
Historizität der Austreibung aus dem Tempel wird von vielen Bibelauslegern
aufgrund von folgenden Überlegungen in Frage gestellt (vgl. z.B. Becker, 123;
Wengst, 96f.):
·
Der Verkauf von Vieh – insbesondere von Großvieh (Rinder und Schafe) –
im Tempel werde in außerbiblischen Quellen nicht bezeugt und die Existenz von
Geldwechslern im Tempel sei nicht gesichert.
·
An den Wallfahrtfesten seien die Römer besonders wachsam gewesen und
hätten bei einem Tumult sicher eingegriffen.
·
Eine einzelne Person sei nicht in der Lage, sich gegen die Händler und
die Tempelwache durchzusetzen.
Andere
Ausleger halten zumindest die Anwesenheit von Tierhändlern und Geldwechslern
durchaus für plausibel:
„Auf
dem Vorplatz der Heiden und unter den angrenzenden Säulengängen fand ein lebhafter
Handel statt. Die Anwesenheit von Tauben-, Schaf- und Ochsenhändlern ist leicht
verständlich, da die Pilger die für das Opfer nötigen Tiere nicht selbst
mitbringen konnten. Dasselbe gilt für die Wechsler, da die Pilger ihre Einkäufe
nicht in der in Judäa unter römischer Währung gängigen Währung tätigen konnten,
sondern auf eine phönizische Silberwährung, den weit verbreiteten Schekel aus
Tyros, zurückgreifen mussten.“ (Zumstein, 126)
„Römische
und syrische Münzen waren durch das Gesetz verboten, da sie menschliche
Insignien trugen (im Besonderen jene des Kaisers, vgl. Mk 12,15-16). Zur Zeit
Herodes gab es in Palästina lokale Bronze- bzw. Kupfermünzen, bei deren Prägung
das Bildverbot beachtet wurde. Hingegen waren die Silbermünzen, die verwendet wurden,
Fremdwährungen, die häufig Götter- und Herrscherbilder aufwiesen. Der weit
verbreitete Schekel des Tyros, der als Standardwährung für die Errichtung der
Tempelsteuer (…) und die Bezahlung der Opfer benutzt wurde, zeigte auf der
Vorderseite den Schutzgott von Tyros, Melkart. Das widersprach natürlich dem
Bildverbot; man hatte sich aber zur Zeit Jesu an diesen Übelstand längst
gewöhnt (…).“ (Zumstein, 126).
(16b) Jesus begründet sein Einschreiten gegenüber
den Taubenhändlern mit den Worten: „… und
macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!“
Erneut lohnt sich ein Vergleich mit dem Bericht des Markusevangeliums:
Joh
2,16: und sprach zu denen, die die
Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum
Kaufhaus! |
Mk
14, 17: Und
er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein
Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker«? Ihr aber habt eine Räuberhöhle
daraus gemacht. |
Jesus kritisiert, dass der Gottesdienst im Tempel „zum Vorwand lukrativer Unternehmungen“ (Zumstein, 127) geworden ist. Darin stimmen der Bericht des Johannes- und des Markusevangeliums überein.
Im Bericht des Johannesevangeliums geht es aber möglicherweise nicht nur um eine Kritik am ökonomischen Missbrauch des Tempeldienstes, sondern um einen Hinweis darauf, dass mit Jesus etwas Neues beginnt. Dass der Tempel kein „Kaufhaus“ sein soll und Jesus den Tempel in diesem Sinne „reinigt“ kann als Erfüllung der endzeitlichen Prophezeiung von Sach 14,21 verstanden werden: „Und es werden alle Kessel in Jerusalem und Juda dem HERRN Zebaoth heilig sein, sodass alle, die da opfern wollen, kommen werden und sie nehmen und darin kochen werden. Und es wird keinen Händler mehr geben im Hause des HERRN Zebaoth an jenem Tage.“ Gemeint wäre dann: „Was hier verheißen wird, stellt Jesus jetzt schon her. So ist diese Darstellung zugleich ein Hinweis darauf, dass mit ihm die erwartete Heilszeit bereits angebrochen ist.“ (Wengst, 99).
Wichtigste Neuerung des Johannesevangeliums ist, dass Jesus hier vom Tempel als dem Haus seines „Vaters“ spricht. „Diese Neuformulierung zeigt, dass Joh einen anderen Akzent setzt: Der joh Jesus greift als Gesandter des Vaters ein, der ohne Vermittlungsinstanz im Namen dieses Vaters handelt und spricht. Dieses Wort ist zwar auch eine Verurteilung einer religiösen Perversion, aber vor allem anderen offenbart sie eine Person – den joh Jesus, der vom Vater Zeugnis ablegt.“ (Zumstein, 127).
(17) Es folgt eine Interpretation der Jünger Jesu. Vermutlich ist nicht – wie in 2,22 – eine nachösterliche Deutung (so aber Bultmann, 87; Schnelle, 96; Zumstein, 127), sondern eine spontane Interpretation (so Becker, 124; Schnackenburg I, 362; Schneider, 86; Wengst, 99) gemeint.
Die Jünger erinnern sich an ein Psalmwort. Es wird, wie der folgende Vergleich zeigt, an entscheidender Stelle leicht verändert, so dass jetzt ein zukünftiges Ereignis gemeint ist.
Ps
69,10a (LB) |
Ps
68,10a (LXX-D) |
Ps
69,10a in Joh 2,17 |
denn
der Eifer um dein Haus hat mich gefressen … |
denn
der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt … |
Der
Eifer um dein Haus wird mich fressen … |
Um welches zukünftige Ereignis geht es? Um den Tod Jesu. Die Jünger denken, dass „dieses leidenschaftliche Engagement für die Sache Gottes ihn verzehren (…), das heißt, ihn zum Tod führen wird.“ (Zumstein, 127).
„Im Gegensatz zu den Jüngern verstehen die Juden Jesus nicht. Deshalb folgt auf die Zeichenhandlung Jesu ihre Zeichenforderung.“ (Schnelle, 96). Jesus antwortet darauf mit einem Rätselwort, das auch seine Jünger erst nach Ostern verstehen.
(18) Da
antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein
Zeichen, dass du dies tun darfst? (19) Jesus antwortete und
sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn
aufrichten. (20) Da
sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden,
und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? (21) Er aber redete von dem
Tempel seines Leibes. (22) Als er nun auferstanden
war von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und
glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.
(18) Jesus wird aufgefordert, seine Legitimation für sein Handeln (und den damit verbundenen Anspruch, die Erfüllung von Sach 14,21 einzuleiten?) durch ein „Zeichen“ unter Beweis zu stellen.
Das ähnelt den Berichten der anderen Evangelien:
Joh
2,18 |
Mk
11,28 |
Da antworteten nun die
Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies
tun darfst? |
und sprachen zu ihm: Aus
welcher Vollmacht tust du das? Oder wer hat dir diese Macht gegeben, dass du
das tust? |
Bei Johannes wird aber ausdrücklich ein „Zeichen“ – also ein Wunder – verlangt.
Von Beglaubigungszeichen bzw. der Forderung eines solchen Zeichens ist auch an anderen Stellen des Johannesevangeliums die Rede – und auch in den anderen Evangelien:
Joh 4,48 |
Da sprach Jesus zu ihm:
Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. |
Joh 6,30 |
Da sprachen sie zu ihm: Was
tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk
tust du? |
Joh 9,16 |
Da sprachen einige der
Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.
Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es
entstand Zwietracht unter ihnen. |
Joh 11,47 |
Da versammelten die
Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir?
Dieser Mensch tut viele Zeichen. |
Joh 12,37 |
Und obwohl er solche
Zeichen vor ihren Augen tat, glaubten sie doch nicht an ihn, |
Mk 8,10-13 |
(10) Und alsbald stieg er
in das Boot mit seinen Jüngern und kam in die Gegend von Dalmanuta. (11) Und
die Pharisäer kamen heraus und fingen an, mit ihm zu streiten, versuchten ihn
und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel. (12) Und er seufzte in seinem
Geist und sprach: Was fordert doch dieses Geschlecht ein Zeichen? Wahrlich,
ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben werden! 13 Und
er verließ sie und stieg wieder in das Boot und fuhr hinüber. |
(19) Während Jesus die Forderung eines Zeichens an anderer Stelle ausdrücklich ablehnt (s.o.), geht er hier insofern darauf ein, dass er ihnen „für die Zukunft ein Wunder in Aussicht“ stellt, „für das sie selbst die Voraussetzung schaffen müssen. Gehen sie auf seine Forderung, den Tempel abzubrechen, ein, dann wird er ihn in drei Tagen wieder aufbauen.“ (Schneider, 87).
Das Jesus-Wort findet sich in den anderen Evangelien nicht in direkter Verbindung mit der Tempelreinigung und auch in ganz anderer Form – als Aussage falscher Zeugen über ein angebliches Jesus-Wort, in dem Jesus ankündigt, dass er selbst den Tempel zerstören will:
Joh
2,19 |
Mk
14,55-58 |
Jesus antwortete und sprach
zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn
aufrichten. |
(55) Aber die Hohenpriester und der ganze Hohe Rat suchten Zeugnis
gegen Jesus, auf dass sie ihn zu Tode brächten, und fanden nichts.(56) Denn viele gaben falsches Zeugnis gegen ihn; aber ihr Zeugnis
stimmte nicht überein. (57) Und einige standen auf und gaben falsches Zeugnis gegen ihn
und sprachen: (58) Wir haben gehört, dass er gesagt hat: Ich will diesen Tempel,
der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen andern bauen,
der nicht mit Händen gemacht ist. |
Die jüdischen Gesprächspartner Jesu haben diese Aufforderung vielleicht als einen „ironischen Imperativ“ (Becker, 124) verstanden. Möglicherweise haben sie das Jesus-Wort aber auch auf dem Hintergrund der Erwartung verstanden, dass der Messias den Tempel der Heilszeit errichten wird.
Von
der Aufrichtung eines ganz neuen und herrlicheren Tempels ist z.B. im
apokryphen Buch Tobias die Rede: „Denn Jerusalem wird erbaut werden, ja, Gottes
Haus in alle Ewigkeit! Selig werde ich sein, wenn meine Nachkommen deine
Herrlichkeit sehen und dem König des Himmels danken! Deine Tore, Jerusalem, werden
von Saphir und von Smaragd erbaut werden und von Edelsteinen all deine Mauern.
Die Türme Jerusalems werden mit Gold erbaut werden, ja, ihre Zinnen mit reinem
Gold!“ (Tob 1,16).
Die
zeitgenössische Erwartung kann folgendermaßen zusammengefasst werden: „Solange
das Heiligtum stand …hat man wohl allgemein erwartet, dass die messian.
Heilszeit die Herrlichkeit des Tempels ebenso mehren werde wie die Schönheit u.
Pracht Jerusalems … Seit dem Jahre 70 wandelte sich diese Erwartung dann zu der
Hoffnung, dass in den Tagen des Messias der Tempel in unbeschreiblicher
Herrlichkeit neu erstehen werden, um nie mehr zu vergehen. Meist wird dabei
Gott, seltener der Messias als der Erbauer des neuen Tempels verherrlicht.“
(StrBill I, 1003f.)
(20) Fest steht, dass „die Juden“ die Aussage Jesu im buchstäblichen Sinne verstehen – als Aussage über die Zerstörung des herodianischen Tempels, für dessen Erbauung man bis zum jetzigen Zeitpunkt 46 Jahre benötigt hat (Baubeginn im 18. Jahr der Herrschaft Herodes, 20/19 v. Chr.; vgl. Josephus, Ant. XV, 380). „Aus dieser Perspektive ist ihr Einwand gerechtfertigt. Wie könnte ein Mensch in drei Tagen ein Gebäude wieder aufbauen, in dem man sein 46 Jahren arbeitet.“ (Zumstein, 129).
(21) Den Lesern teilt der Verfasser des Johannesevangeliums mit: „Er aber redete von dem Tempel seines Leibes.“ Jesu Aufforderung, den Tempel zu zerstören, erscheint damit als „versteckte Anspielung auf das Kreuz“ (Zumstein, 128) und sein Hinweis auf seine Aufrichtung des Tempels „in drei Tagen“ dementsprechend als Ankündigung seiner Auferstehung.
Möglicherweise wird damit zugleich gesagt, dass Jesus der wahre Tempel ist und daher mit ihm die Zeit anbricht, wo man Gott weder auf dem Berg Garizim, noch im Jerusalemer Tempel, sondern „im Geist und in der Wahrheit anbeten“ wird (4,20-24; vgl. Schnackenburg I, 367).
(22) Die Jünger aber verstehen das genauso wenig wie „die Juden“. Erst nach Jesu Auferstehung „dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte“ (vgl. 12,16: „Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte.“).
„Das Ostergeschehen hat ihnen das volle Verständnis für die Ereignisse im Leben Jesu erschlossen, deren Tragweite sie zunächst nicht erkennen konnten. Da wurde ihnen klar, dass Jesus nicht, wie die apokalyptische Zukunftshoffnung des Spätjudentums es von dem Messias erwartete, an Stelle des alten, entweihten Tempels ein neues, wahrhaft heiliges, in gewaltiger Pracht und Herrlichkeit erstrahlendes irdisches Heiligtum aufrichten wird. Jesus hatte die Frage, welcherart der von ihm in Aussicht gestellte neue Tempel sein werde, offengelassen. Die Worte ‚in drei Tagen‘ erhielten zwar eine geheimnisvolle Andeutung, aber sie wurden weder von den ‚Juden‘ noch von seinen Jüngern damals verstanden. Erst nach seiner Auferstehung kam ihnen zu Bewusstsein, dass er nicht von dem Jerusalemer Heiligtum, sondern von dem Tempel seines Leibes gesprochen hatte. Die Weissagung seines Todes und seiner Auferstehung war der dunklen Rede verborgener Sinn. Jesus hat damit zum Ausdruck gebracht, dass in der messianischen Heilszeit nicht ein Ort, sondern eine Person der Tempel Gottes sein wird. Er reinigt zwar noch den alten bestehenden Tempel; das ist er seinem Vater schuldig. Aber der neue Tempel ist schon da. Die Stätte der Offenbarung und Gegenwart Gottes ist zunächst der irdische Leib des Sohnes Gottes; dann aber in letzter Vollendung der verklärte Leib des auferstandenen und erhöhten Christus.“ (Schneider, 87f.).
Erst nach Ostern glauben die Jünger „der Schrift“ und „dem Wort, das Jesus gesagt hatte“. Mit „der Schrift“ ist vermutlich das in Vers 17 zitierte Wort aus Ps 69,10 gemeint, mit „dem Wort, dass Jesus gesagt hatte“ sein Satz: „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten“ (2,19).
Was also hat Johannes bewogen, die Begebenheit der Tempelreinigung an den Anfang seines Evangeliums vorzuziehen? „Mit der exponierten Stellung der Tempelreinigung zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu verbindet Johannes zwei zentrale theologische Aussagen: 1) Er stellt Jesu Wirken von Anfang an unter die Perspektive von Kreuz und Auferstehung. Der Erzählfaden von Joh. 1,29.36; 2,1a.4c wird aufgenommen und verstärkt. Wenn Johannes gerade mit der Tempelreinigung sein hermeneutisches Konzept des nachösterlichen Rückblicks einführt, dann gibt er damit seiner Hörer-/Lesergemeinde ein deutliches Signal: Bei der Tempelreinigung handelt es sich nicht um eine beliebige Episode aus dem Leben Jesu, sondern bereits hier geht es um das Verstehen der gesamten Sendung Jesu. Damit gewinnt die Tempelreinigung den Charakter einer Grundsatzerklärung! 2) Für Johannes ist Jesus selber der Ort der bleibenden Gegenwart Gottes (vgl. Joh 10,38; 14,6.9f.) und damit der wahre Tempel. Mit dieser kult- und tempelkritischen Haltung knüpft der Evangelist an Joh 2,6 an und bereitet zugleich die grundlegende Aussage über die Verehrung Gotts an heiligen Orten in Joh 4,20-24 vor. Nicht mehr im Tempel aus Stein, sondern in Jesus Christus treffen Himmel und Erde aufeinander (Joh 1,51), eröffnet sich der Zugang zum Vater.“ (Schnelle, 97f.).
Zusammenfassung:
Jesus kann nicht
dulden, dass das Haus seines „Vaters“
durch Händler und Geldwechsler zum „Kaufhaus“
wird. Seine Unduldsamkeit wird ihm aber schließlich das Leben kosten. Sein Tod
und seine Auferstehung sind wiederum das „Zeichen“
dafür, dass mit ihm etwas ganz Neues in der Beziehung zwischen Gott und den
Menschen beginnt. Weil die Erzählung von der Tempelreinigung auf Tod und
Auferstehung Jesu – das alles entscheidende Ereignis, auf das sich der
christliche Glaube bezieht – hinweist und deutlich macht, dass Jesus Christus
der neue Ort der Gegenwart Gottes ist, steht sie zu Recht am Anfang des
Johannesevangeliums – um von vornherein deutlich zu machen, worum es geht.
3.3 Jesus und
Nikodemus (2,23-3,21)
Der Abschnitt 2,23-3,21 lässt sich – ähnlich wie der anschließende (3,22-36) – in drei Unterabschnitte gliedern:
· Einleitung in Form einer Hinführung zum anschließenden Dialog (2,23-25; vgl. 3,22-24)
· Dialog (3,1-12; vgl. 3,25-30)
· Monolog bzw. Offenbarungsrede (3,13-21; vgl. 3,31-36)
„Die zwei Teile sind in ihrer Aussage eindeutig miteinander verschränkt: Das Gespräch mit Nikodemus ist die erste große Darlegung der Offenbarung des joh Jesus und das Auftreten des Johannes – des ersten Zeugen – formuliert die Antwort des Glaubens auf diese Offenbarung.“ (Zumstein, 131).
Die Verse 2,23-25 leiten zum Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus hin. „Indem der defizitäre Glaube derer in Szene gesetzt wird, die sich von den Wundern Jesu in Bann schlagen lassen, wird das Auftreten des Nikodemus vorbereitet, der dieselbe Überzeugung hat …“ (Zumstein, 133).
(23) Als
er aber in Jerusalem war beim Passafest, glaubten viele an seinen Namen, da sie
die Zeichen sahen, die er tat. (24) Aber Jesus vertraute sich
ihnen nicht an; denn er kannte sie alle (25) und bedurfte nicht, dass
jemand Zeugnis gäbe vom Menschen; denn er wusste, was im Menschen war.
(23) Wie bereits in 2,13 berichtet, befindet sich Jesus anlässlich des Passafestes in Jerusalem. Neben der Tempelreinigung vollbringt er dort weitere „Zeichen“. Gemeint sind Wundertaten (vgl. 4,48; zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Zeichen“ im Johannesevangelium vgl. die Ausführungen zu 2,11). Aufgrund seiner Wunder glauben „viele an seinen Namen“.
Davon, dass Menschen „an seinen Namen glauben“, ist auch in 1,12; 3,18 die Rede (vgl. 1 Joh 3,23; 5,13). Inhaltlich ist diese Formel ein Synonym für „an Jesus glauben“. Sie unterstreicht aber, dass sich der Glaube der Christen auf eine konkrete Person bezieht, die mit Namen zu nennen ist. Vor allem im Zusammenhang mit einem Bekenntnis des Glaubens (Apg 4,12: „… auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.“) und der Taufe (Mt 28,19; „Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes …“, vgl. Apg 10,48; 1 Kor 1,15) ist vom „Namen“ die Rede.
Davon, dass Menschen aufgrund seiner Wundertaten an Jesus
glauben, ist im Johannesevangelium immer wieder die Rede (4,45; 7,31; 10,41;
11,45). Allerdings erscheint ein Glaube, der sich auf Wunder stützt, als
defizitär. So wirft Jesus dem königlichen Beamten, der ihn um ein Wunder
bittet, vor: „Wenn ihr nicht Zeichen und
Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ (4,48; vgl. die Aufforderung an Thomas
in 20,29: „Selig sind, die nicht sehen
und doch glauben!“)
(24-25) Auch hier reagiert Jesus zurückhaltend auf die Menschen, die aufgrund seiner Wunder an ihn glauben. Als Grund für seine Zurückhaltung wird seine Menschenkenntnis genannt, die nicht auf Aussagen anderer Menschen angewiesen ist (vgl. 1,47-50).
Besteht seine Menschenkenntnis darin, dass er „mühelos den zweifelhaften und unvollständigen Charakter des angeblichen Glaubens seiner Bewunderer“ erkennt (Zumstein, 137)? Oder ist sein Wissen um die menschliche Begrenztheit gemeint, auf die er im anschließenden Gespräch mit Nikodemus (3,1-12) zu sprechen kommt?
Eindeutig ist, welche Schlussfolgerung Jesu aus seiner Menschenkenntnis zieht: er vertraut sich denen, die aufgrund seiner Wunder an ihn glauben, nicht an, d.h. er offenbart ihnen nicht, was es mit ihm auf sich hat. Davon ist in 3,13-21 und 3,31-36 die Rede. Offenbar ist er überzeugt, dass Menschen, deren Glaube auf Wundern aufbaut, zu dieser Erkenntnis keinen Zugang haben.
Das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus durchläuft drei Phasen (erste Phase: 3,1-3; zweite Phase: 3,4-8; dritte Phase: 3,9-12). Die Aussagen Jesu beginnen jeweils mit den Worten „wahrlich, wahrlich, ich sage dir“ (3,3.5.11).
(1) Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus,
ein Oberster der Juden. (2) Der kam zu Jesus bei Nacht
und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott
gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit
ihm. (3) Jesus
antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand
nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
(4) Nikodemus
spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er
denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (5) Jesus antwortete:
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und
Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. (6) Was aus dem Fleisch
geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist
Geist. (7) Wundere
dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren
werden. (8) Der
Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht,
woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren
ist.
(9) Nikodemus
antwortete und sprach zu ihm: Wie mag das zugehen? (10 Jesus antwortete und sprach
zu ihm: Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht? (11) Wahrlich, wahrlich, ich
sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und
ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. (12) Glaubt ihr nicht, wenn ich
euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von
himmlischen Dingen sage?
Die erste Phase des Gesprächs:
(1-2a) Einleitend wird der Gesprächspartner Jesu vorgestellt und der Gesprächsrahmen geschildert. „Unter den Pharisäern“, den geistlichen Führern des Judentums (vgl. zu 2,24) ist auch „ein Mensch mit Namen Nikodemus“. Er ist „ein Oberster den Juden“, womit vermutlich gemeint ist, dass er Mitglied des Hohen Rates ist (zu den „Obersten“ als Mitglieder des Hohen Rates vgl. Apg 4,5.15). Jedenfalls hält gehört er zu den „Hohepriestern und Pharisäern“, die in 7,45-52 als maßgebende Autoritäten genannt werden – er ist „einer von ihnen“ (7,50). Innerhalb dieser Führungsschicht tritt er als Fürsprecher Jesu auf (7,51). Auch in der Passionsgeschichte ist von ihm die Rede. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist, bringt er anlässlich seiner Grablegung „Myrrhe gemischt mit Aloe“ (19,39).
Nikodemus kommt zu Jesus „bei Nacht“. Warum? Aus „Furcht vor den Juden“ (vgl. 19,38: „Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe …“)? Oder weil die Nacht als die geeignete Zeit für das Studium und schriftgelehrte Diskussionen gilt (vgl. StrBill II, 419f.)?
(2b) Die einleitenden Worte des Nikodemus sind mehr als eine freundliche Gesprächseröffnung, sondern zeigen, wie er zu Jesus steht. Er – und andere Pharisäer (vgl. 9,16) – sind überzeugt, dass es sich bei Jesus um einen „Lehrer“ handelt, der „von Gott gekommen“ ist. Deshalb spricht er ihn auch als „Rabbi“ an. Zur Begründung verweist er auf Jesu „Zeichen“ – und steht damit auf einer Stufe mit denen, die aufgrund der Wundertaten Jesu, der er anlässlich des Passafestes vollbracht hat, an ihn glauben (2,23).
Nikodemus ist also so etwas wie ein heimlicher Sympathisant Jesu. Problematisch ist allerdings, dass – wie sich im Verlauf des Gesprächs zeigen wird – Jesus von ihm „nach der Analogie einer schon bekannten Erscheinung verstanden und so in den Rahmen des Menschenmöglichen eingeordnet wird.“ (Hofius, zit. in Zumstein, 138).
Die Gesprächseröffnung lässt gleichzeitig erkennen, „dass
Nikodemus ein theologisches Gespräch mit Jesus führen möchte, allerdings ohne
eine direkte und klare Frage zu stellen.“ (Zumstein, 138).
(3) Aber Jesus lässt sich nicht auf eine Diskussion unter Gelehrten ein. Stattdessen betont er die Notwendigkeit einer Neugeburt.
Er leitet seine Antwort mit der Formel „wahrlich, wahrlich, ich sage dir“ ein, die sich an 25 Stellen des Johannesevangeliums findet und eine göttliche Offenbarung ankündigt (z.B. 1,51: „… Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf– und herabfahren über dem Menschensohn.“).
Die Übersetzung von 3b ist unklar. Während die LB mit „wenn jemand nicht von Neuem geboren wird …“ übersetzt, gibt die ZB den Satz mit „wer nicht von oben geboren wird“ wieder. Das fragliche Wort – das Adverb ἄνωθεν – kann sowohl „von neuem“ also auch „von oben“ bedeuten. Im Johannesevangelium findet es sich noch an folgenden Stellen:
Joh
3,31 |
Der von oben
her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und
redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen. |
Joh
8,23 |
Und er sprach zu ihnen: Ihr
seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin
nicht von dieser Welt. |
Joh
19,11 |
Jesus antwortete: Du
hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. Darum
hat, der mich dir überantwortet hat, größere
Sünde. |
Joh
19,23 |
Die Soldaten aber, da sie Jesus
gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden
Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an
gewebt in einem Stück. |
Daher hat die Übersetzung „von oben“ die Mehrheit klar auf ihrer Seite. Hinzu kommt die Aussage von 1,13, in der von Menschen die Rede ist, die „von Gott geboren sind“. Gemeint ist also, dass der Mensch aus den Kräften der himmlisch, göttlichen Welt erneuert werden muss (Schnackenburg I, 382).
Möglicherweise ist die Formulierung bewusst doppeldeutig. Vers 4 zeigt jedenfalls, dass Nikodemuns die Aussage Jesu im Sinne von „von Neuem geboren“ versteht bzw. missversteht.
Ohne die (neue) Geburt „von oben“ kann der Mensch „das Reich Gottes nicht sehen“. „Sehen“ bedeutet hier so viel wie „erleben“ oder „teilhaben“ (vgl. Lk 9,27: „… Einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes sehen.“; vgl. Mk 9,1; Mt 16,28). Dementsprechend heißt es in Vers 5: „… so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (zum Kommen bzw. Eingehen ins Reich Gottes vgl. Mk 9,47; 10,23-25).
Der springende Punkt ist: Jesus erklärt Nikodemus, der in eine theologische Diskussion mit ihm eintreten will, die Begrenztheit des Menschen. Ohne dass Gott dem Menschen eine neue Existenz schenkt, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
Die
Aussage Jesu erinnert an das Jesus-Wort aus Mk 10,15: „Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein
Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Dort geht es aber um eine Haltung, die
der Mensch einnehmen soll, während es Im Johannesevangelium um etwas geht, was
Gott tut. „Statt vom Werden wie die Kinder ist ohne Vergleichspartikel von
einem Geborenwerden die Rede. Es geht also nicht nur um ein Werden wie die Kinder, sondern radikaler um das
Werden eines neuen Menschen, der durch seine Geburt eine neue Herkunft erhält.“
(Wengst, 108).
Die zweite Phase des Gesprächs:
(4) Nikodemus „stichelt ironisch über diese absurde Aussage Jesu“ (Zumstein, 139) und fragt, wie es möglich sein soll, dass „ein Mensch geboren“ wird, „wenn er alt ist“.
Hat Nikodemus Jesus missverstanden? Etwa in dem Sinn, dass Jesus von einem „innerweltlichen, von Menschen zu bewerkstelligenden Vorgang“ spricht (Bultmann, 96f.), der jedoch völlig ausgeschlossen ist und widersinnig ist: „Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“
Dafür spricht, dass an vielen Stellen des Johannesevangeliums Missverständnisse berichtet werden. „In den joh Dialogen begegnen häufig Missverständnisse, die nach einem bestimmten Schema funktionieren. Dabei hat ein Wort zwei Bedeutungen. Das Missverständnis basiert auf einem irdischen Sinn, während die göttliche Bedeutung den eigentlichen Sinn erschließt. Das Missverständnis geht also nicht von einer falschen Wortbedeutung aus, sondern wähnt nur, diese eine irdischen Bedeutung sei gemeint. Die göttliche Bedeutung wird gar nicht erst in den Verstehenshorizont aufgenommen (…) … Nur im Glauben ist der himmlische Sinn erschlossen.“ (Becker, 136).
Joh 2,19-22 |
(19) Jesus antwortete und
sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn
aufrichten. (20) Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig
Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? (21) Er
aber redete von dem Tempel seines Leibes. (22) Als er nun auferstanden war
von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und
glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte. |
Joh
4,10-11 |
(10) Jesus antwortete und
sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir
sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn und er gäbe dir lebendiges Wasser. (11)
Spricht zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen
könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? |
Joh
4,31-34 |
(31) Unterdessen mahnten
ihn die Jünger und sprachen: Rabbi, iss! (32) Er aber sprach zu ihnen: Ich
habe eine Speise zu essen, von der ihr nicht wisst. (33) Da sprachen die
Jünger untereinander: Hat ihm jemand zu essen gebracht? (34) Jesus spricht zu
ihnen: Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt
hat, und vollende sein Werk. |
Joh
6,41-42 |
(41) Da murrten die Juden
über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, (42)
und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter
wir kennen? Wieso spricht er dann: Ich bin vom Himmel gekommen? |
Joh
6,51-52 |
(51) Ich bin das lebendige
Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in
Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben
der Welt. (52) Da stritten die Juden untereinander und sagten: Wie kann der
uns sein Fleisch zu essen geben? |
Joh
7,33-36 |
(33) Da sprach Jesus: Ich
bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich
gesandt hat. (34) Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin,
könnt ihr nicht hinkommen. (35) Da sprachen die Juden untereinander: Wo will
dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden könnten? Will er zu denen gehen,
die in der Zerstreuung unter den Griechen wohnen, und die Griechen lehren? (36)
Was ist das für ein Wort, dass er sagt: Ihr werdet mich suchen und nicht
finden; und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen? |
Joh
8,21-22 |
(21) Da sprach Jesus
abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg und ihr werdet mich suchen und in eurer
Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. (22) Da sprachen
die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da
könnt ihr nicht hinkommen? |
Joh
8,31-33 |
(31) Da sprach nun Jesus zu
den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so
seid ihr wahrhaftig meine Jünger (32) und werdet die Wahrheit erkennen, und
die Wahrheit wird euch frei machen. (33) Da antworteten sie ihm: Wir sind
Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du
dann: Ihr sollt frei werden? |
Joh
8,51-53 |
(51) Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit. (52)
Da sprachen die Juden zu ihm: Nun erkennen wir, dass du von einem Dämon
besessen bist. Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sprichst: Wer
mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken in Ewigkeit. (53) Bist du
mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Und die Propheten sind
gestorben. Was machst du aus dir selbst? |
Joh
8,56-58 |
(56) Abraham, euer Vater,
wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. (57)
Da sprachen die Juden zu ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast
Abraham gesehen? (58) Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Ehe Abraham wurde, bin ich. |
Joh
11,11-13 |
(11) Das sagte er, und
danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe
hin, dass ich ihn aufwecke. (12) Da sprachen die Jünger zu ihm: Herr, wenn er
schläft, wird's besser mit ihm. (13) Jesus aber sprach von seinem Tode; sie
meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs. |
In rhetorischer Sicht sind die Missverständnisse ein „Stilmittel, um die Gedankenführung voranzutreiben“ (Schneider, 92).
Die Bemerkung des Nikodemus, kann aber „auch anders gelesen werden – nämlich so, dass Nikodemus durchaus verstanden hat, aber im Entscheidenden nicht verstehen will. Er hat begriffen, dass Jesu Aussage einen in seiner Radikalität nicht mehr zu überbietenden Neuanfang meint. Aber er schiebt solchen Neuanfang ins Illusionäre … In Nikodemus spricht also auch der nüchterne Realist. Er zieht die äußerste Konsequenz aus dem, was Jesus gesagt hat. Er zieht sie bis ins Absurde. Das tut er nicht, um selbst etwas Absurdes zu sagen, sondern um die Absurdität der Aussage Jesu zu erweisen, um diese Aussage gegenüber den bestehenden harten Realitäten als Illusion bloßzustellen.“ (Wengst, 109).
(5) Jesus antwortet mit einer Präzisierung und erklärt Nikodemus, dass es bei der Geburt „von oben“ um eine Geburt „aus Wasser und Geist“ handelt.
Nach Tit.3,5 ist die Taufe „das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist“. In Joh 3 liegt der Akzent jedoch weniger auf dem (Wasser)Bad, als auf der Geburt aus dem „Geist“. Schließlich heißt es gleich anschließend: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.“ (3,6). Außerdem ist nach dem Johannesevangelium die Jesus-Taufe „mit dem Heiligen Geist“ (1,33) der Johannes-Taufe „mit Wasser“ (1,26.33) weit überlegen. Was also soll der Hinweis auf das Wasser?
Weil von einer anderen Taufe bisher nicht die Rede gewesen ist, liegt es nahe, an die Johannestaufe zu denken. Aufgrund der Fortsetzung, bei der nur noch vom „Geist“ die Rede ist, und nach den vorangegangenen Aussagen bzgl. der Überlegenheit der Jesus-Taufe „mit dem Heiligen Geist“ (1,33), liegt es nahe, dass „Wasser und Geist“ nicht zwei gleichermaßen wichtige Aspekte sind, sondern die Taufe „mit Wasser“ durch das „und Geist“ indirekt als defizitär bezeichnet wird. „Es würde dann … eine indirekte Polemik gegen die Johannestaufe vorliegen; denn in der Verkündigung des Täufers war die Taufe das Heilssakrament, das den bußfertigen Menschen die Vergebung der Sünden schenkte und sie dadurch für die Teilnahme an dem kommenden Reich Gottes zurüstete. Für Jesus dagegen war die Wassertaufe allein ein nicht zureichendes Heilsmittel. Wer in der Reich Gottes eingehen wollte, bedurfte der radikalen Erneuerung, der neuen Geburt, die durch den Geist bewirkt wird.“ (Schneider, 93).
Und was ist die Geburt aus dem „Geist“? Nach Vers 3 ist klar, dass es sich um eine Geburt „von oben“, d.h. von Gott handelt. Dazu passt, dass es in 4,24 heißt: „Gott ist Geist.“ Aus dem Geist „geboren“ zu werden heißt also, von Gott mit einem neuen Sein beschenkt zu werden.
(6) Nachdem Jesus die Geburt „von oben“ präzisierend als Geburt „aus Wasser und Geist“ bezeichnet hat, erklärt er, warum sie für den Eintritt in die himmlische Welt unverzichtbar ist. Das Sein des Menschen wird nämlich durch seine Herkunft bestimmt.
Der
Gedanke, dass der Ursprung das Sein bestimmt, findet sich an vielen Stellen des
Johannesevangeliums:
Joh 3,31 |
Der von oben her kommt, ist
über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der
Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen |
Joh 8,23 |
Und er sprach zu ihnen: Ihr
seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin
nicht von dieser Welt. |
Joh 8,44 |
Ihr habt den Teufel zum
Vater, und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von
Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in
ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus dem Eigenen; denn er ist ein
Lügner und der Vater der Lüge. |
Joh 8,47 |
Wer von Gott ist, der hört
Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid. |
Joh 15,19 |
Wäret ihr von der Welt, so
hätte die Welt das Ihre lieb. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern
ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt. |
Joh 17,14 |
Ich habe ihnen dein Wort
gegeben und die Welt hasst sie; denn sie sind nicht von der Welt, wie auch
ich nicht von der Welt bin. |
Joh 17,16 |
Sie sind nicht von der
Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. |
Joh 18,37 |
Da sprach Pilatus zu ihm:
So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und
in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit
ist, der hört meine Stimme. |
„Das
ist … ein Grundgedanke der joh. Anthropologie – 1,13 schon angedeutet – , dass
der Mensch durch sein Woher bestimmt ist, und zwar so bestimmt, dass er sich,
wie er im Jetzt ist, nicht in der Hand hat, dass er sich nicht sein Heil
besorgen kann, so wie er Dinge des irdischen Lebens besorgt. Sein Wohin
korrespondiert seinem Woher; und soll sein Weg zum Heil führen, so muss das
Woher seines Weges ein anderes werden als es ist, so muss er seinen Ursprung
rückgängig machen können, den alten Ursprung mit einem Neuen vertauschen; er
muss ‚wiedergeboren‘ werden.“ (Bultmann, 97f.).
„Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch …“ In den Schriften des Apostels Paulus kann der Begriff „Fleisch“ in einem engen Zusammenhang mit einem „sündigen Lebenswandel“ stehen (z.B. Gal.5,19: „Offenkundig sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Unzucht, Unreinheit …“). Hier aber bezeichnet der Begriff „Fleisch“ einfach den Menschen „mit seinen innerweltlichen Möglichkeiten“ (Zumstein, 140; nach 1,12f. sind alle Menschen, die nicht an Jesus Christus glauben, „aus menschlichem Geblüt“ bzw. „aus dem Willen des Fleisches“ bzw. „aus dem Willen eines Mannes“ geboren). Ist also der Ursprung des Menschen rein innerweltlich, bleibt er diesem Bereich verhaftet – und kann dementsprechend nicht „in das Reich Gottes kommen“.
Umgekehrt gilt: „… und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.“ Wer seinen Ursprung bei Gott hat (vgl. 4,24: „Gott ist Geist …“), hat Anteil an der „jenseits-göttlichen Seinsweise“ (Bultmann, 100).
Daraus folgt: „Für den sarkischen [fleischlichen] Menschen gibt es keinen Zugang zum Reich Gottes, sondern nur durch einen von Gott gewährten Ursprung kann er Einlass in den Herrschaftsbereich Gottes erlangen.“ (Schnelle, 104)
(7-8) Nachdem Jesus seine Aussage über die Geburt „von oben“ (V. 3) präzisiert (V. 5) und begründet hat (V. 6), fordert er Nikodemus auf, seine Verwunderung (V. 4) zu überwinden (vgl. 5,28: „Wundert euch darüber nicht …“) – indem er akzeptiert, dass das Wirken des Geistes für den Menschen notwendigerweise unverständlich bleiben muss.
Jesus verdeutlicht das am Beispiel des Windes. Dieses Beispiel ist auch deshalb naheliegend, weil das Wort πνεῦμα sowohl mit „Geist“, als auch mit „Wind“ übersetzt werden kann.
„Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.“ Er „ist mit den Sinnen wahrnehmbar, aber (…) sein Entstehungsort und sein Ziel sind nicht ergründbar.“ (Becker, 164).
„So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“ „Der Wind weht in eigener Mächtigkeit, nach eigenem Gesetz. So verhält es sich auch mit dem Geistgezeugten: Herkunft und Ziel der ihm verliehenen Gotteskräfte, Wesen und Art des Vorgangs sind göttlich-geheimnisvoll; aber diese Kräfte sind da, der göttliche Geist wirkt in ihm.“ (Schnackenburg I, 387).
Phase 3:
(9) Aber trotz der Präzisierung und Erklärung und ungeachtet der Aufforderung Jesu, seine Verwunderung zu überwinden, bleibt Nikodemus unverständig. Er fragt: „Wie mag das zugehen?“ Er will verstehen, wie die Geburt „von oben“ bzw. „aus dem Geist“ „funktioniert“ – geht also immer noch davon aus, dass es sich um ein für den Menschen verstehbares und nachvollziehbares Geschehen handelt. Die Frage „ist im Grunde eine Wiederholung der Fragen von V. 4. Dort hatte er die Konsequenz aus der These Jesu bis ins Absurde gezogen; er hält auch weiter an ihrer Unmöglichkeit fest. Aber die Formulierung der Frage hält doch zumindest die Möglichkeit einer positiven Beantwortung offen, auch wenn Nikodemus sie sich nicht vorstellen kann.“ (Wengst, 113).
(10) Nun „wundert“ sich auch Jesus – und zwar über die Ahnungslosigkeit des Nikodemus. Obwohl er Pharisäer ist und sich als „Israels Lehrer“ betätigt, weiß er nicht, was Sache ist.
Die Antwort Jesu hat einen leicht ironischen Klang. Sie „will nicht etwa sagen, dass der Schriftgelehrte von sich aus eigentlich die Antwort müsste geben können, sodass man nach Schriftstellen suchen müsste, die nach Meinung des Evangelisten die Lehre von der Wiedergeburt schon enthalten. Vielmehr macht Jesu Antwort deutlich, dass das Lehrertum Israels keine Antwort geben kann. Es versagt notwendig vor der entscheidenden Frage.“ (Bultmann, 102f.).
(11) Der Unwissenheit des Nikodemus stellt Jesus das Wissen der Offenbarungsempfänger gegenüber: „Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben …“
Dass Jesus hier in der ersten Person Plural redet, überrascht. Die Aussage erinnert an 1 Joh 1,1-3: „(1) Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – (2) und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –, (3) was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch …“ Dort sprechen der Verfasser des ersten Johannesbriefes und sein Unterstützerkreis. Das spricht dafür, dass ähnliches auch für Vers 11 gilt. Hier spricht der Evangelist selbst und „verbindet sich … mit allen Christusgläubigen zum gemeinsamen Zeugnis.“ (Schneider, 96).
Aber das Wissen – bzw. das „Zeugnis“ der Offenbarungsempfänger von diesem Wissen – , wird von Nikodemus und seinen Mitstreitern abgewiesen.
(12) Aus dieser Ablehnung ergibt sich die Frage, was werden soll, wenn Jesus beginnt, „von den himmlischen Dingen“ zu sprechen. Hier handelt es sich um eine Argumentation a minore ad maius, den Schluss vom Kleineren auf das Größere.
Bisher hat Jesus nur „von
irdischen Dingen“ gesprochen. Damit können nur seine Aussagen über die Neugeburt
„von oben“ bzw. „aus dem Geist“ gemeint sein (VV 3-8). Bei den „irdischen Dingen“ geht es dann um die „anthropologische
Problematik des Heils“ (Zumstein, 142) oder „das auf Erden wahrnehmbare und
erfahrbare Wirken des Geistes“ (Schneider, 97).
Was aber ist mit den „himmlischen Dingen“ gemeint? Aus dem Zusammenhang des Textabschnitts, wie er in hier vorliegt (zu Versuchen, den Textabschnitt umzustellen, s.u.), können nur die Aussagen der Verse 13-21 gemeint sein. Dann handelt es sich bei den „himmlischen Dingen“ um die „christologische Offenbarung“ (Zumstein, 142) bzw. den „göttlichen Heilswillen und Heilsplan“ (Schneider, 97), durch den die „irdischen Dinge“, der „Eintritt des Menschen in die Heilsphäre“ (Schnelle, 105), überhaupt erst ermöglicht werden.
„Die
Verbalformen stützen dieses Verständnis: Währen das Sagen des ‚Irdischen‘ schon
geschehen ist (εἶπον im Aor.) und sich die Frage des
Glaubens in der Gegenwart stellt
(πιστεύετε), steht die Ankündigung
des ‚Himmlischen‘ (ἐὰν εἴπω) und die Frage
des Glaubens daran noch aus
(πιστεύσετε im Fut.).“
(Zumstein, 142f.).
Nach Vers 12 wird aus dem Dialog ein Monolog. Die Worte „ich“ und „ihr“ tauchen nicht mehr auf; Jesus spricht in der 3. Person Singular von sich selbst.
In diesem Monolog geht es um die „himmlischen Dinge“. Die Form des Monologs ist von theologischer Bedeutung: „Das christologische Ereignis, das dabei offenbart wird, kann nicht Gegenstand einer Diskussion sein; es kann daher nur als Offenbarungsrede formuliert werden.“ (Zumstein, 134).
Einige
Ausleger stellen die Abschnitte 3,13-21 und 3,31-36 um:
·
Schnackenburg lässt auf 3,1-12 die Verse 3,31-36 folgen und setzt dann
mit 3,13-21 fort (Schnackenburg I, 393f.).
·
Bultmann lässt zwar 3,13-21 direkt auf 3,1-12 folgen, setzt dann aber
mit 3,31-36 fort (Bultmann, 116).
(13) Und
niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist,
nämlich der Menschensohn. (14) Und wie Mose in der Wüste
die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, (15) auf dass alle, die an ihn
glauben, das ewige Leben haben. (16) Denn also hat Gott die
Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn
glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (17) Denn Gott hat seinen Sohn
nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch
ihn gerettet werde. (18) Wer
an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon
gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes
Gottes. (19) Das
ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen
liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. (20) Wer Böses tut, der hasst
das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt
werden. (21) Wer
aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine
Werke in Gott getan sind.
(13) Vers 13 nimmt Vers 12 auf, wo von den „himmlischen Dingen“ die Rede war und bringt sie in Beziehung zum „Menschensohn“ – weil niemand „gen Himmel aufgefahren“ ist „außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn“.
Die Aussage „und niemand ist gen Himmel aufgefahren“ erinnert an 1,18: „Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.“ (vgl. 5,37: „Und der Vater, der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben. Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen.“; 6,46: „Nicht dass jemand den Vater gesehen hätte; nur der, der von Gott ist, der hat den Vater gesehen.“). Gemeint ist: „Kein Mensch hat Zugang zu den Dingen des Himmels.“ (Zumstein, 144). Dabei geht es auch um „eine Infragestellung all derjenigen, die behaupten, durch eine Vision, eine Ekstase oder eine Enthebung Zugang zu den göttlichen Geheimnissen erlangt zu haben. Hier ist zu denken an Hellseher, an Propheten oder Apokalyptiker, die sich göttlicher Visionen rühmen.“ (Zumstein, 144).
Es gibt nur eine Ausnahme: der, „der vom Himmel herabgekommen ist“. „Allein derjenige, der seinen Ursprung in Gott hat, kann von Gott reden.“ (Zumstein, 144).
Wer ist derjenige, der „vom Himmel herabgekommen ist“? Es ist „der Menschensohn“.
Vom Menschensohn ist im Johannesevangelium an folgenden Stellen die Rede:
Joh 1,51 |
Und er spricht zu ihm:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die
Engel Gottes hinauf– und herabfahren über dem Menschensohn. |
Joh 3,13-14 |
(13) Und niemand ist gen
Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der
Menschensohn. (14) Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss
der Menschensohn erhöht werden, |
Joh 5,27 |
und er hat ihm Vollmacht
gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. |
Joh 6,27.51-53.58 |
(27) Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist, sondern um
Speise, die da bleibt zum ewigen Leben. Dies wird euch der Menschensohn
geben; denn auf ihm ist das Siegel Gottes des Vaters … (51) Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer
von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben
werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt. (52) Da stritten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann
dieser uns sein Fleisch zu essen geben? (53) Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn
ihr nicht esst das Fleisch des Menschensohns und trinkt sein Blut, so habt
ihr kein Leben in euch … (58) Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht
wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot
isst, der wird leben in Ewigkeit. |
Joh 6,62 |
Wie, wenn ihr nun sehen
werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war? |
Joh 8,28 |
Da sprach Jesus zu ihnen:
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich
es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt
hat, so rede ich. |
Joh 9,35-37 |
(35) Jesus hörte, dass sie
ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den
Menschensohn? (36) Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s?, dass ich an
ihn glaube. (37) Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir
redet, der ist’s. |
Joh 12,23 |
Jesus aber antwortete ihnen
und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht
werde. |
Joh 12,34 |
Da antwortete ihm das Volk:
Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso
sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser
Menschensohn? |
Joh 13,31-32 |
(31) Als Judas nun
hinausgegangen war, spricht Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht,
und Gott ist verherrlicht in ihm. (32) Ist Gott verherrlicht in ihm, so wird
Gott ihn auch verherrlichen in sich und wird ihn bald verherrlichen. |
Klar ist: wenn Jesus in der dritten Person vom „Menschensohn“ spricht, meint er sich selbst. Außerdem wird deutlich: Wenn im Johannesevangelium vom „Menschensohn“ die Rede ist, wird einerseits von seinem Hinaufsteigen (3,13; 6,62) bzw. seiner Erhöhung (3,14; 12,34) und Verherrlichung (12,23; 13,31) und andererseits von seinem Herabkommen (3,13; 6,27.51-53.58) gesprochen.
Dass er „vom Himmel herabgekommen ist“ bezieht sich auf seine Menschwerdung:
Joh 6,33 |
Denn dies ist das Brot
Gottes Brot, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. |
Joh 6,41-42 |
(41) Da murrten die Juden
über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, (42)
und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter
wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel gekommen? |
Joh 6,51 |
Ich bin das lebendige Brot,
das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in
Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben
der Welt. |
Joh 6,58 |
Dies ist das Brot, das vom
Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und
gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. |
Nun ist aber auch bzw. zunächst davon die Rede, dass der, „der vom Himmel herabgekommen ist“, „gen Himmel aufgefahren“ ist. Mit der Auffahrt zum Himmel ist im Johannesevangelium die Himmelfahrt Jesu nach Ostern gemeint:
Joh 6,62 |
Wie, wenn ihr nun sehen
werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war? |
Joh 20,17 |
Spricht Jesus zu ihr: Rühre
mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu
meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem
Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. |
„So spricht Jesus, der hier noch am Anfang seiner Wirksamkeit steht, von seinem am Ende des Evangeliums liegenden ‚Aufstieg‘ als einem Ereignis der Vergangenheit. Der Evangelist schreibt im Rückblick auf den ganzen Weg Jesu und lässt ihn schon am Anfang sagen, was sich erst vom Ende her ergibt.“ (Wengst, 115).
Die Pointe des Verses lautet, dass nur Jesus Christus, der „vom Himmel herabgekommen ist“ und auch wieder dahin zurückkehren wird, etwas „von himmlischen Dingen“ (3,12) sagen kann.
(14-15) „Der ‚Aufstieg‘ des Menschensohnes in den Himmel, die Rückkehr des Sohnes zum Vater (…) beginnt mit seiner ‚Erhöhung‘ am Kreuz …“ (Schnackenburg I, 407). Diese Erhöhung geschieht, damit „alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“.
Die Rückkehr Jesu zu seinem Vater ist untrennbar mit seinem Tod am Kreuz verbunden:
13,1 |
Vor dem Passafest aber
erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt ginge
zum Vater. |
16,28 |
Ich bin vom Vater
ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe
zum Vater. |
20,17 |
Spricht Jesus zu ihr: Rühre
mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu
meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater,
zu meinem Gott und eurem Gott. |
Wenn im Johannesevangelium von der „Erhöhung“ Jesu die Rede ist, ist sein Kreuzestod gemeint:
Joh 8,28 |
Da sprach Jesus zu ihnen:
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich
es bin und nichts von mir aus tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat,
so rede ich. |
Joh 12,32-34 |
(32) Und ich, wenn ich
erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (33) Das sagte er
aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. (34) Da antwortete ihm
das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit
bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist
dieser Menschensohn? |
Dieser Sprachgebrauch ist innerhalb des NT einzigartig. Üblicherweise „folgt dem Tiefpunkt der Kreuzigung erst nachträglich die ‚Erhöhung‘, die zur Herrschaftseinsetzung zur Rechten Gottes führt (vgl. Apg 2,33-36; 5,30f.; Phil 2,8-11); Joh aber begreift bereits das Kreuz als ‚Erhöhung‘, als Beginn der Heilsherrschaft Christi (…), als ‚Verherrlichung‘ durch den Vater, die sich in der Macht zur Lebensspendung an alle ihm Gehörigen manifestiert (vgl. 17,1f.) … Von einem in Leiden und Tod gehenden (und damit ‚erniedrigten‘) ‚Menschensohn‘ wie die Syn spricht er [der Evangelist] nicht mehr; für ihn ist das paulinische ‚Ärgernis‘ des Kreuzes nicht erst durch die folgende Auferstehung, sondern schon durch die Hoheit und Heilsmacht des Kreuzes selbst überwunden.“ (Schnackenburg I, 409). „Kreuzigung und Erhöhung sind nicht zwei getrennte Akte des Heilsgeschehens (vgl. Phil 2,8-11), vielmehr ist das Kreuz als Ort der Erhöhung und Verherrlichung das Heilsereignis. Hier zeigt sich eine christologische Konzentration …“ (Schnelle, 107).
Jesus vergleicht die Erhöhung am Kreuz mit der „Schlange“, die „Mose in der Wüste … erhöht hat“, damit alle, die zu ihr aufsehen,
am Leben bleiben (4 Mos 21,8-9). Dementsprechend empfangen alle, die an den am
Kreuz Erhöhten glauben, das „ewige Leben“.
(16) Warum empfangen alle, die an den am Kreuz Erhöhten glauben, das „ewige Leben“? Der Grund dafür ist die Liebe Gottes zu seiner Welt. Sie hat ihn dazu bewogen, seinen „eingeborenen Sohn“ (genauer: den einziggeborenen Sohn; vgl. zu 1,14) für uns hinzugeben, damit „alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“.
Ganz
ähnlich heißt es in 1 Joh 4,9-10: „(9)
Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen
Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. (10) Darin
besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns
geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.“
(17) Der anschließende Vers unterstreicht, dass die „Sendung des Gottessohnes in die Welt ausschließlich der Rettung galt.“ (Schnackenburg I, 425). Gott hat seinen Sohn nicht zum Gericht in die Welt gesandte, sondern einzig und allein damit „die Welt durch ihn gerettet werde“.
„Das traditionellerweise an die Vorstellung des Menschensohnes gebundene Thema des Gerichtes wird grundlegend neu interpretiert. Im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung vom letzten Gericht wird die Dominanz des Heils in den Vordergrund gestellt.“ (Zumstein, 148).
Zur
Zeit Jesus dachte man beim „Menschensohn“
an eine göttliche Gestalt, die das Gericht vollzieht. So hieß es im
äthiopischen Buch Henoch: „Und es herrschte unter ihnen [den Frommen] eine
große Freude, und sie priesen, rühmten und erhoben darum, dass ihnen der Name
des Menschensohnes offenbart worden war. Und er setzte sich auf den Thron
seiner Herrschaft und die Summe des Gerichts ward ihm, dem Menschensohn
übergeben, und er lässt verschwinden und vertilgt die Sünde vom Antlitz der
Erde, und die, welche die Welt verführt haben.“ (äthHen 69,26-27).
(18) Die Aussage, dass Gott seinen Sohn nicht zum Gericht in die Welt gekommen ist, provoziert die Frage, wie das mit dem Gericht ist.
Nach den Aussagen in den Versen 16-17 steht fest: „Wer an ihn [den Sohn] glaubt, der wird nicht gerichtet.“ Was aber ist mit den anderen? Wird über sie Gericht gehalten? Nein! Warum nicht? Weil diejenigen, die nicht an ihn glauben, „schon gerichtet sind“. Das Gericht ist also erstens kein zukünftiges, sondern ein je gegenwärtiges Ereignis – weil sich alles am Glauben oder Unglauben des Menschen gegenüber den Sohn Gottes entscheidet. Zweitens handelt es sich beim Gericht nicht um ein Handeln Gottes, sondern um ein Selbstgericht des Menschen.
(19) Deshalb hat sich das Gericht bereits dadurch ereignet, „dass das Licht in die Welt gekommen ist“ und die Menschen „die Finsternis“ mehr geliebt haben, „als das Licht“ (zu den Begriffen „Licht“ und „Finsternis“ vgl. den Prolog des Johannesevangeliums, 1,5.9-11).
„Der Evangelist ist sich der Neuheit seines Gedankens bewusst; und so definiert er V. 19 ausdrücklich mit unausgesprochener, aber unüberhörbarer Polemik gegen die traditionelle Eschatologie, was das Gericht sei: es ist nichts anderes als die Tatsache, dass das ‚Licht‘, der Offenbarer, in die Welt gekommen ist. Dies Heilsgeschehen ist aber deshalb das Gericht, weil sich die Menschen … dem ‚Licht‘ verschlossen haben“ (Bultmann, 113).
Warum aber haben die Menschen die Finsternis mehr geliebt als das Licht? Jesus sagt: „… denn ihre Werke waren böse.“
Was aber soll das heißen? Handelt es sich um eine „moralische Erklärung des Unglaubens“? (Schnackenburg I, 429). Ist vielleicht sogar gemeint, dass derjenige, der böse Werke tut, die Finsternis geradezu lieben muss und er gar keine andere Möglichkeit mehr hat, als die Finsternis mehr zu lieben als das Licht? (Schneider, 102). Oder wird lediglich gesagt, dass sich die Liebe zur Finsternis in den bösen Werken offenbart? (Schnelle, 111; Zumstein, 150; Wengst, 123). Die beiden abschließenden Verse zeigen, dass die positive oder negative Reaktion auf das Licht die logische Folge dessen ist, dass jemand „Böses tut“ bzw. „die Wahrheit tut“.
(20-21) Aus der Erfahrung lässt sich über die Folgen der bösen Werke folgendes sagen: „Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden“ – und liebt deshalb die „Finsternis mehr als das Licht“.
Es gibt aber auch ganz andere Menschen. Sie tun nicht „Böses“, sondern die „Wahrheit“. „Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar
wird, dass seine Werke in Gott getan sind.“
Was heißt, die „Wahrheit“ tun? Ähnlich formuliert Johannes im ersten Johannesbrief: „Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ (1 Joh 1,6). Dort ist klar, was gemeint ist. Denn der Vers vorher zeigt, was hier unter „Wahrheit“ zu verstehen ist: „Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ (1 Joh 1,5). Die „Wahrheit“ zu tun heißt also, dem Licht, das von Gott in diese Welt gekommen ist, entsprechend zu leben.
Warum tun diese Menschen nicht „Böses“, sondern die „Wahrheit“? Sie tun es nicht aus sich selbst heraus, sondern „in Gott“ – also weil sie „aus Gott geboren sind“ (1,13), weil sie „von oben geboren“ (3,3) sind.
Deshalb stellen sie ihre Werke auch nicht als ihre eigene Leistung heraus. Indem sie die Wahrheit tun, wird „offenbar“, dass ihre Werke „in Gott getan sind“. Sie offenbaren sich als Werke, die zwar vom gläubigen Menschen getan werden, die aber ihren eigentlichen Ursprung in Gott haben. „Wenn die Werke (…) dessen, der ‚die Wahrheit tut‘ ans helle Licht kommen, lassen sie sich als Werke Gottes selbst erkennen (…). Die Werke dessen, ‚der zum Licht kommt‘, offenbaren sich als Werke, die ihren Ursprung in Gott haben und die nur von denjenigen vollbracht werden können, die das Geschenk der ‚neuen Geburt‘ empfangen haben.“ (Zumstein, 151).
Zusammenfassung:
Wohin jemand geht,
hängt von seiner Herkunft ab. In das Reich Gottes kommt nur, wer von Gott
geboren ist. Dieses Handeln Gottes kann kein Mensch ergründen; er kann es nur
geschehen lassen. Es wurzelt in der Liebe Gottes zur Welt, aus der heraus er
seinen Sohn zur Rettung der Menschen hingegeben hat. An der Haltung ihm
gegenüber fällt die Entscheidung über Leben und Tod: Wer an ihn glaubt, hat das
Leben; wer ihn zurückweist, bleibt verloren und hat sich damit selbst das
Urteil gesprochen.
3.4 Das letzte
Zeugnis des Täufers von Jesus (3,22 36)
Die Gliederung des Abschnitts entspricht der von 2,23-3,21:
· Einleitung in Form einer Hinführung zum anschließenden Dialog (3,22-24; vgl. 2,23-25)
· Dialog (3,25-30; vgl. 3,1-12)
· Monolog bzw. Offenbarungsrede (3,31-36; vgl. 3,13-21)
Die einleitende Hinführung berichtet von der Taufpraxis Jesu und Johannes des Täufers.
(22) Danach
kam Jesus mit seinen Jüngern in das Land Judäa und blieb dort eine Weile mit
ihnen und taufte. (23) Aber
auch Johannes taufte in Änon, nahe bei Salim, denn es war da viel Wasser; und
sie kamen und ließen sich taufen. (24) Johannes war ja noch nicht
ins Gefängnis geworfen.
(22) Jesus verlässt Jerusalem (2,13.23) und begibt sich „mit seinen Jüngern in das Land Judäa“. Mit dem „Land Judäa“ ist evtl. die Jordansenke gemeint (Zumstein, 155). Dort bleibt er eine Zeit lang und beginnt, Menschen zu taufen (anders 4,1-3: „(1) Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war, dass er mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes (2) – obwohl Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, (3) verließ er Judäa und ging wieder nach Galiläa.“).
(23) Trotz seines Zeugnisses für Jesus (1,19-34)
führt Johannes der Täufer auch weiterhin Taufen durch – nun nicht mehr in „Betanien jenseits des Jordans“ (1,28),
sondern „in Änon, nahe bei Salim“.
„Die genaue Ortsangabe Aenon bei Salim führt ziemlich sicher
in das Gebiet des nördlichen Samaria südlich von Bethsan. Der Name Ainon (…)
deutet auf ein Quellgebiet; das passt auch zu der Erläuterung ‚weil dort viele
Wasser(läufe) waren“. Tatsächlich gibt es etwas 12 Km südlich von Bethsan
(Skythopolis) fünf Quellen … Das für die Tauftätigkeit geeignete Gebiet
befindet sich etwa dort, wo sich die Straße von Jerusalem über Samaria nach
Bethsan zum Jordantal hinabsenkt.“ (Schnackenburg I, 450f.).
Dort ist „viel Wasser“ – was wahrscheinlich der Grund für den Ortswechsel gewesen ist. Nach wie vor kommen die Leute zu ihm und lassen sich taufen.
(24) „Der Kommentar in V. 24 betont, dass der Täufer zu dieser Zeit noch frei war und verstärkt dadurch den Gedanken einer eventuellen Konkurrenz.“ (Zumstein, 156; nach den anderen Evangelien beginnt Jesu wirken jedoch erst nach der Gefangennahme des Täufers; vgl. Mk 1,14).
Nachdem die einleitende Hinführung über das getrennte Wirken von Jesu und Johannes informiert hat, kommt es zu einem Dialog zwischen Johannes und seinen Jüngern über sein Verhältnis zu Jesus.
(25) Da
erhob sich ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über
die Reinigung. (26) Und
sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Rabbi, der bei dir war jenseits des
Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen zu
ihm. (27) Johannes
antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom
Himmel gegeben ist. 28 Ihr
selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus,
sondern ich bin vor ihm her gesandt. (29) Wer die Braut hat, der ist
der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört,
freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun
erfüllt. (30) Er
muss wachsen, ich aber muss abnehmen.
(25) Auslöser des Dialogs zwischen Johannes und seinen Jüngern ist ein Streitgespräch, „zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über die Reinigung“. Das ist „kaum anders zu verstehen, als dass ein Jude, der vielleicht aus dem judäischen Gebiet kam, wo Jesus taufte (V 22), mit den Täuferschülern in Streit darüber geriet, welche Taufe, die Jesu oder die des Johannes, den höheren Wert besitze. Denn im Anschluss an diese Auseinandersetzung (…) halten sich die Gefährten des großen Täufers darüber auf, dass Jesus den größeren Zulauf habe; sie haben also sicherlich durch den Mann Kunde davon bekommen.“ (Schnackenburg I, 451).
Da
sich der Streit um die „Reinigung“
dreht, geht es vielleicht auch um das Taufverständnis (Taufe als Reinigung)
oder um weitere Reinigungsriten, die möglicherweise mit der Taufe des Johannes
verbunden sind.
„Wenn
der Evangelist in dieser Weise darstellt, dürfte ihn dazu ein Problem der
eigenen Zeit veranlassen, nämlich die Konkurrenz zwischen seiner Gemeinde und
der weiter bestehenden Anhängerschaft Johannes des Täufers. Auf diesem
Hintergrund stellt er Jesus und Johannes zunächst nebeneinander dar, um dann
für seine Leser- und Hörerschaft das Verhältnis zwischen beiden von Johannes
selbst klären zu lassen, dass sie auf völlig unterschiedlichen Ebenen stehen
und folglich eine Konkurrenz überhaupt nicht statthaben kann.“ (Wengst, 126).
(26) Der Streit mit „einem Juden über die Reinigung“ führt dazu, dass die Jünger des Johannes ihren Meister über die erfolgreiche (erfolgreichere?) Tauftätigkeit Jesu informieren – und ihn damit unausgesprochen nach seiner Meinung über diese Konkurrenzsituation fragen.
Dabei erwähnen sie, dass Jesus bei ihm „jenseits des Jordans“ (1,28) war und er dort von ihm „Zeugnis gegeben“ hat (1,19-34.35-37) und stellen fest, dass er jetzt „tauft“ und „alle“ zu ihm kommen.
(27) Die Antwort des Täufers besteht aus drei Argumenten und einer Schlussfolgerung.
Das erste Argument: „Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist.“ Gemeint ist: „Jesus könnte nicht die vielen Menschen an sich ziehen, wenn ihm nicht Gott die Macht dazu verliehen hätte. Was er sich ‚genommen‘ hat, dazu hat ihm Gott verholfen.“ (Schnackenburg I, 453).
Davon,
dass die Menschen, die zu Jesus kommen bzw. seine Jünger sind, ihm von Gott
gegeben wurden, ist auch an anderen Stellen des Johannesevangeliums die Rede:
Joh
17,9 |
Ich bitte für sie und bitte
nicht für die Welt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind
dein. |
Joh
17,24 |
Vater, ich will, dass, wo
ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine
Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die
Welt gegründet war. |
(28) Das zweite Argument: „Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt.“ Die Jünger des Johannes hatten sich selbst auf das Zeugnis ihres Meisters bezogen (3,26). Er muss sie also nur noch an den Inhalt seines Zeugnisses erinnern (zum Inhalt des Zeugnisses vgl. vor allem 1,20.23.30).
„Die in V. 26 beschriebene Situation stellt also sein Zeugnis nicht in Frage, sondern beglaubigt es. Das Wort des Johannes wird nicht abgeschwächt, sondern … bestätigt.“ (Zumstein, 157).
(29) Das dritte Argument: „Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt.“ Gemeint ist: es kommt auf den Bräutigam an, mit dem natürlich Jesus gemeint ist. Johannes selbst sieht sich als „Freund des Bräutigams“.
Der „Freund des Bräutigams“ hat „dem Bräutigam als Werber und Vermittler zu dienen und ihm am Hochzeitstag die Braut zuzuführen“ (Schneider, 104). Er überwacht aber auch „den ersten ehelichen Verkehr zwischen dem jungen Paar …, steht vor der Tür des Brautgemachs und hört den Bräutigam jubeln, dass seine Braut noch Jungfrau war“ (Becker, 155) und freut sich mit ihm.
Nach diesem bildhaften Vergleich stellt Johannes fest, dass seine „Freude … nun erfüllt“ ist – seine Aufgabe als „Freund des Bräutigams“ also erledigt ist.
(30) Dazu passt die abschließende Schlussfolgerung: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“
Der Gegensatz zwischen „wachsen“ und „abnehmen“ „stammt wahrscheinlich aus der Sprache der Astronomie und beschreibt den Lauf eines Sternes (…) – seinen Aufgang und seinen Untergang.“ (Zumstein, 158). Inhaltlich bezieht sich dieses Bild wohl „nicht direkt auf die Anhängerschaft, sondern auf die Kraft und den Einfluss, der vom Wirkenden ausgeht.“ (Schnackenburg I, 454).
„Das Wort trifft die heilsgeschichtliche Situation: Johannes ist noch am Wirken, aber seine Zeit läuft ab; Jesus hat zwar noch nicht die volle Wirksamkeit entfaltet (…), steht aber im Begriffe dazu.“ (Schnackenburg I, 455). Innerhalb des Johannesevangeliums wird der Täufer nur noch in 5,33.36 und 10,40f. kurz erwähnt, tritt aber hier zum letzten Mal aktiv in Erscheinung. Der „‚Aufgang‘ Jesu … wird im weiteren Verlauf des Evangeliums erzählt.“ (Zumstein, 158).
Das Gespräch des Täufers mit seinen Jüngern mündet in einen Monolog über die herausragende Bedeutung Jesu.
(31) Der von oben her kommt,
ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der
Erde. Der vom Himmel kommt, ist über allen. (32) Was er gesehen und gehört
hat, das bezeugt er; und sein Zeugnis nimmt niemand an. (33) Wer aber sein Zeugnis
annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. (34) Denn der, den Gott gesandt
hat, redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist ohne Maß. (35) Der Vater hat den Sohn
lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben. (36) Wer an den Sohn glaubt,
der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das
Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
„Der
Leser nimmt schnell wahr, dass die V.31-36 eine Anzahl von Ausdrücken
enthalten, die schon im Gespräch Jesu mit Nikodemus begegnet sind:
V.
31 |
von
oben |
3,3c |
|
irdisch
reden |
3,12a |
|
der
aus dem Himmel Kommende |
3,13b |
V.
32 |
sehen
– bezeugen |
3,11c |
V.34a |
wen
nämlich Gott gesandt hat |
3,17a |
V.
35a |
der
Vater liebt den Sohn |
3,16
(Liebe Gottes) |
V.36a |
der
an den Sohn Glaubende hat ewiges Leben |
3,16.18a |
V.35ab |
Glauben
– ungehorsam sein |
3,18 |
V.36c |
Zorn
Gottes |
3,18-20
(richten/Gericht) |
Dieser
Abschnitt stellt also eine Aufnahme und Umformung von Motiven dar, die in
3,3-21 als Worte Jesu entfaltet wurden. Diese Tatsache hat zu verschiedenen
Erklärungsversuchen geführt. Manche sehen in der Ähnlichkeit der V. 3-21 und
der V. 31-36 einen Beweis dafür, dass er einzig mögliche Sprecher der V.31-36
Jesus sei. Andere berufen sich auf dieselbe Tatsache und folgern daraus, dass
der Abschnitt umgestellt wurde und er in seinen ursprünglichen Kontext im
Anschluss an V.21 oder an V.12 zurückzustellen sei. Wieder andere nehmen an,
dass es sich um einen theologischen Kommentar … zum Abschluss des Kapitels
handle.
Die
genaue Betrachtung des Textes lässt nun allerdings kein Anzeichen für einen
Wechsel der Erzählstimme erkennen. Dem direkten Kontext nach zu urteilen, ist
der einzig mögliche Sprecher Johannes. Diese Annahme wird durch die joh
Erzählung selbst gestützt. Zunächst wird Johannes als erster Zeuge vorgestellt
und als ‚Stimme‘ (1,23) dessen, der kommt. Er war sein erste Interpret
(1,19-34; 3,27-30). Als Zeuge gehört es zu ihm, sich angesichts dessen, für den
er Zeugnis ablegt, völlig zurückzunehmen und dass jede Anspielung auf seine
Person in diesem letzten Sprechakt verschwindet. Zum Zweiten hat es eine tiefe
Bedeutung, wenn Motive aus den Worten des joh Jesus im Mundes des Täufers
aufgenommen werden. Darin zeigt sich, dass die erste große Offenbarung des joh
Jesus (3,1-31) im Glauben empfangen wurde, dass sich der erste große Zeuge sie
zu eigen gemacht hat.“
Das
Vorgehen bei dieser Komposition der V.31-36 zeugt von einem Prozess der
Relecture. Dieser Abschnitt setzt in der Tat die Existenz eines Quellentextes
(…) voraus – hier 3,3-21 – , der das Material für die Redaktion eines
sekundären Textes (…) liefert. Dieser sekundäre Text erwähnt nacheinander die
göttliche Herkunft Jesu, seine Beziehung zum Vater, den Glauben und das ewige
Leben und stellt so ein kleines Kompendium der joh Theologie dar. Sein sekundärer
Charakter legt es nahe, anzunehmen, dass es sich dabei um das Produkt der
Endredaktion des Evangelisten handelt.“ (Zumstein, 154f.).
Zur Gliederung des Abschnitts: „Man kann … zwei Teile erkennen, die jeweils ein christologisches Element (V.31-32a und V. 34-35) enthalten, auf das seine anthropologische bzw. soteriologische Entsprechung folgt (V.32b-33 und V.36). Im Übrigen, während die V.31-32a Jesus als Offenbarer darstellen, vertiefen die V.34-35 die Rolle Jesu, indem sie die privilegierte Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn beschreiben.“ (Zumstein, 155).
In Anlehnung an Zumstein legt sich folgender Aufbau nahe:
Jesus
als Offenbarer himmlischer Dinge (31-33) |
Christologische
Aussage: Jesus kommt vom Himmel, verkündet himmlische Dinge und ist deshalb
allen überlegen. (31-32a). |
Anthropologische
Aussage: Annahme und Ablehnung der himmlischen Offenbarung. (32b-33) |
|
Durch
die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist die Offenbarung des Sohnes vertrauenswürdig
(34-36). |
Christologische
Aussage: Jesus redet Gottes Worte, weil Gott aufgrund seiner Liebe zum Sohn
ihm den Geist in Fülle gibt und ihn umfassende Vollmacht gegeben hat. (34-35) |
Anthropologische
bzw. soteriologische Aussage: An der Haltung gegenüber Jesus entscheidet sich
bereits jetzt alles. (36) |
(31-32a) Zunächst geht es also um Jesus als Offenbarer. Johannes erklärt, dass Jesus „als vom Himmel Gekommener … eine alles überragende Macht- und Herrscherstellung“ einnimmt (Schnelle, 116).
Demgegenüber ist derjenige, der „von der Erde ist,“ stammt nun einmal „von der Erde und redet von der Erde.“ Gemeint ist: „Der entscheidende Punkt ist der Ort von dem aus (…) eine Person spricht (…). Wer die ‚Erde‘ als einzigen Bezugspunkt und einzigen Horizont hat, kann nur im Modus der Immanenz sprechen – er hat keinen Zugang zur Welt Gottes.“ (Zumstein, 159).
Denkt Johannes der Täufer dabei an sich selbst? Oder an Nikodemus? Oder ist der Mensch an sich gemeint? Vermutlich ist letzteres der Fall. Dann wird hier „dem natürlichen Menschen das Recht bestritten, als Offenbarer aufzutreten und göttliche Offenbarungen zu verkündigen. Der Anspruch, Offenbarer zu sein, steht allein Jesus zu.“ (Schneider, 106).
Der einleitende Satz („Der von oben her kommt, ist über allen.“) wird – leicht verändert – noch einmal wiederholt („Der vom Himmel kommt, ist über allen.“). Anschließend geht es um damit verbundene die Authentizität der Offenbarungen Jesu: „Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er …“ Wer „vom Himmel kommt“ „ist mit einer Überlegenheit ausgestattet, die in der Tatsache besteht, dass er Zugang zur Welt Gottes hat … Jesus legt Zeugnis davon ab (…), was er beim Vater gesehen und gehört hat (…). Seine Worte gehören in den Bereich göttlicher Offenbarung.“ (Zumstein, 159).
Vom
„Sehen“ und „Hören“ der göttlichen Dinge ist im Johannesevangelium noch an
folgenden Stellen die Rede:
Joh 1,18 |
Niemand hat
Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist,
der hat ihn uns verkündigt. |
Joh 5,37 |
Und der Vater,
der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben. Ihr habt niemals seine
Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen |
Joh 6,46 |
Nicht dass
jemand den Vater gesehen hätte; nur der, der von Gott ist; der hat den Vater
gesehen. |
Joh 8,26 |
Ich habe viel
über euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig,
und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. |
Joh 8,40 |
Nun aber
sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt
hat, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. |
Joh 15,15 |
Ich nenne
euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut.
Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater
gehört habe, habe ich euch kundgetan. |
Daraus folgt: „… von der Erde her kann sich nie ein Wort erheben, das dem des gottgesandten Offenbarers vergleichbar wäre, das ‚Glauben‘ fordern könnte, dessen Annahme oder Verwerfung über Leben und Tod entschiede. Allein der vom Himmel Gekommene gibt authentisches Zeugnis; mit anderen Worten: das Wort Jesu begegnet als das von jenseits gesprochene, autoritative Wort.“ (Bultmann, 118).
(32b-33) Nach der christologischen Aussage über Jesus als Offenbarer geht es um die Reaktion des Menschen auf diese Offenbarung. Sie fällt zwiespältig aus.
Einerseits muss Johannes feststellen: „… und sein Zeugnis nimmt niemand an“ (vgl. 1,11: „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“; 3,11: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.“).
Ein Grund wird nicht genannt. Möglicherweise kann der Hinweis, dass der Mensch „von der Erde ist“ (3,32) als Erklärung herangezogen werden – weil er nicht nur von der Erde „redet“, sondern vielleicht alle Dinge aus „irdischem Blickwinkel“ betrachtet. Dann wäre gemeint: „Solange der Mensch von der ‚Erde‘ ist und sein einziger Bezugshorizont die Immanenz ist, kann er das Wort, das von Gott kommt, von sich aus nicht verstehen. Er bleibt der Botschaft vom transzendenten Gott verschlossen und weigert sich folglich, seinem Gesandten zuzuhören.“ (Zumstein, 159).
Andererseits: Auch wenn eben noch davon die Rede war, dass „niemand“ das Zeugnis des Offenbarers vom Himmel annimmt, heißt es jetzt: „Wer aber sein Zeugnis annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.“ Das ist aber kein Widerspruch, sondern eine bewusste Argumentationsweise, die sich im Johannesevangelium auch an anderer Stelle findet:
Joh
1,11-12 |
(11) Er kam in sein
Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. (12) Wie viele ihn aber
aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen
Namen glauben, |
Joh
3,19-21 |
(19) Das ist aber das
Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten
die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. (20) Wer Böses
tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke
nicht aufgedeckt werden. (21) Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem
Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. |
Es wird jeweils zunächst die allgemeine Ablehnung geschildert, um anschließend zu betonen, dass es Ausnahmen gibt – womit wahrscheinlich die kleine Schar der Gläubigen gemeint ist.
Nun ist aber nicht nur davon die Rede, dass es Ausnahmen von der allgemeinen Regel gibt. Es geht auch die Wirkung, die es hat, dass jemand das Zeugnis des himmlischen Offenbarers annimmt. „Er besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.“ Was ist gemeint? Im ersten Johannesbrief heißt es umgekehrt: „… Wer Gott nicht glaubt, der macht ihn zum Lügner; denn er glaubt nicht dem Zeugnis, das Gott gegeben hat von seinem Sohn.“ (1 Joh 5,10). Es geht also darum, dass der Mensch durch seine Reaktion auf die Offenbarung Gott in ein bestimmtes Licht stellt. Wenn er ihm nicht glaubt, erklärt er Gott zum Lügner; wenn er aber das Zeugnis Jesu annimmt, bestätigt er damit, „dass Gott wahrhaftig ist“, also treu und vertrauenswürdig.
(34-35) Im zweiten Teil des Abschnitts geht es also darum, warum das Zeugnis Jesu eine vollkommene Offenbarung ist.
Zunächst stellt Johannes fest: „Denn der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte; …“. Gemeint ist die naheliegende Erkenntnis, dass jemand, der von Gott gesandt wurde, nicht eigenen Worte, sondern Gottes Worte verkündigt.
Davon,
dass Jesus von Gott gesandt wurde, ist an vielen Stellen des
Johannesevangeliums die Rede:
Joh
3,17 |
Denn Gott hat seinen Sohn
nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt
durch ihn gerettet werde. |
Joh 5,36 |
Ich aber habe ein größeres
Zeugnis als das des Johannes; denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat,
damit ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, zeugen von mir, dass
mich der Vater gesandt hat. |
Joh 6,29 |
Jesus antwortete und sprach
zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. |
Joh 7,32 |
Die Pharisäer hörten, dass es
im Volk solches Gemurmel über ihn gab. Da sandten die Hohenpriester und
Pharisäer Knechte aus, dass sie ihn ergriffen. |
Joh 8,42 |
Jesus sprach zu ihnen: Wäre
Gott euer Vater, so liebtet ihr mich; denn ich bin von Gott ausgegangen und
komme von ihm; denn ich bin nicht von selbst gekommen, sondern er hat mich
gesandt. |
Joh 10,36 |
wie sagt ihr dann zu dem,
den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott –, weil
ich sage: Ich bin Gottes Sohn? |
Joh 11,42 |
Ich wusste, dass du mich
allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich’s, damit
sie glauben, dass du mich gesandt hast. |
Joh 17,3 |
Das ist aber das ewige
Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt
hast, Jesus Christus, erkennen. |
Joh 17,18 |
Wie du mich gesandt hast in
die Welt, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. |
Joh 17,21 |
damit sie alle eins seien.
Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein,
damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. |
Joh 17,23 |
ich in ihnen und du in mir,
auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt
hast und sie liebst, wie du mich liebst. |
Joh 17,25 |
Gerechter Vater, die Welt
kennt dich nicht; ich aber kenne dich und diese haben erkannt, dass du mich
gesandt hast. |
Joh 20,21 |
Da sprach Jesus abermals zu
ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich
euch. |
Der zweite Teil des Satzes begründet, warum der, der von
Gott gesandt wurde, Gottes Worte verkündigt: „denn Gott gibt den Geist ohne Maß.“ Gemeint ist: „Gott selbst macht die Worte
seines Gesandten durch die Fülle des diesem verliehenen Geistes zu
geisterfüllten, göttlichen Worten.“ (Schnackenburg I, 400). „Das bedeutet, dass die Offenbarung, die
Jesus bringt, vollständig, suffizient, ist und nicht der Ergänzung bedarf.“
(Bultmann,119).
Auch die Aussage, dass Gott seinem Sohn, der er gesandt hat, „den Geist ohne Maß“ gegeben hat, wird begründet: „Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.“ Der Grund für die einzigartige Qualität des Zeugnisses Jesu liegt „in der Liebesbeziehung Gottes zu Jesus“ (Zumstein, 160), durch die er von ihm eine unbegrenzte Vollmacht erhalten hat.
Von
der Liebe des Vaters zum Sohn ist im Johannesevangelium immer wieder die Rede:
Joh 5,20 |
Denn der Vater hat den Sohn
lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen,
sodass ihr euch verwundern werdet. |
Joh 10,17 |
Darum liebt
mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, dass ich’s wieder nehme. |
Joh 15,9 |
Wie mich mein
Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! |
Joh 17,23-24 |
(23) ich in ihnen und du in
mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich
gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. (24) Vater, ich will, dass,
wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine
Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die
Welt gegründet war. |
„Die Liebe des Vaters zum Sohn bedingte, dass dieser exklusiver Generalbevollmächtigter Gottes wurde.“ (Becker, 157). „Der Sohn ist von nun an der letztgültige und ausschließlich Repräsentant des Vaters: Nichts entzieht sich seiner Vollmacht und kein anderer hat ein solches Mandat.“ (Zumstein, 160).
Davon, dass der Vater seinem Sohn „alles in seine Hände gegeben“ hat, ist
auch an anderen Stellen des Johannesevangeliums die Rede:
Joh 13,3 |
Jesus aber wusste, dass ihm
der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen
war und zu Gott ging, |
Joh 17,2 |
so wie du ihm Macht gegeben
hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben
hast: das ewige Leben. |
Joh 17,23-26 |
(23) ich in ihnen und du in
mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich
gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. (24) Vater, ich will, dass,
wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine
Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe
die Welt gegründet war. (25) Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich
aber kenne dich und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. (26) Und
ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe,
mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen. |
(36) Zum Abschluss des zweiten Abschnitts geht es wieder um die Konsequenzen der christologischen Aussagen für den Menschen – hier der Aussage, dass Gott seinem Sohn „Generalvollmacht“ erteilt hat.
Die Konsequenzen sind natürlich davon abhängig, ob ein Mensch „an den Sohn glaubt“ oder nicht. „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben“ – und zwar schon jetzt (vgl. Joh 5,24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“).
Ganz anders sieht es für die aus, die nicht an ihn glauben. Interessanterweise wird hier aber nicht vom Glauben, sondern vom Gehorsam gesprochen: „Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist …“ Dadurch soll nicht etwa der Charakter des Glaubens als Willensentscheidung herausgestellt werden. Vielmehr wird der „Unglaube als Ungehorsam gegenüber dem Offenbarungsanspruch Jesu“ gekennzeichnet (Schnelle, 117).
Der Ungehorsam gegenüber dem Offenbarungsanspruch Jesu hat
ebenfalls Konsequenzen. Während der Gläubige schon jetzt das ewige Leben hat,
wird der Ungläubige auch in Zukunft in der Lage bleiben, in der er sich jetzt schon
befindet: „der Zorn Gottes bleibt über
ihm.“ Der „Zorn Gottes“, das Gericht (Röm 2,5: „… häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung
des gerechten Gerichtes Gottes,“), ist – wie beim Gläubigen das ewige Leben
– „eine die gelebte Gegenwart bestimmende Realität“ (Zumstein, 161). Die Folge ist: Er „wird das Leben nicht sehen“ (vgl. 3,3: „… das Reich Gottes nicht sehen …“)
Zusammenfassung:
Weil er vom Himmel
gekommen ist, weil er bezeugt, was er dort „gesehen und gehört hat“ und weil er
Gottes „Generalbevollmächtigter“ ist, ist Jesus einzigartig und das Heil
entscheidet sich bereits jetzt an ihm.
3.5 Jesus und
die Frau aus Samarien (4,1-42)
Der Abschnitt kann folgendermaßen gegliedert werden:
· Reisenotiz: Auf der Reise von Judäa nach Galiläa ruht Jesus sich am Jakobsbrunnen aus (4,1-6)
· Der Dialog mit einer Frau aus Samarien (4,7-29)
o Das Gespräch über „lebendiges Wasser“ (4,7-15)
o Das Gespräch über die Ehemänner (4,16-19)
o Das Gespräch über die wahre Anbetung (4,20-26)
· Rückkehr der Jünger und das Zeugnis der Frau in ihrer Stadt (4,27-30)
· Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern (4,31-38)
· Die Samariter kommen zum Glauben und wachsen in ihm (4,39-42)
(1) Als nun Jesus erfuhr, dass den
Pharisäern zu Ohren gekommen war, dass Jesus mehr zu Jüngern machte und taufte
als Johannes – (2) obwohl
Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, (3) verließ er Judäa und zog
wieder nach Galiläa.
(4) Er musste aber durch
Samarien reisen. (5) Da
kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob
seinem Sohn Josef gegeben hatte. (6) Es war aber dort Jakobs
Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich an den Brunnen;
es war um die sechste Stunde.
(1-3) Zunächst wird der Grund der Reise genannt. Jesus erfährt, dass die Pharisäer davon Wind bekommen haben, dass er noch erfolgreicher ist als Johannes der Täufer. Weil sie bereits bei Johannes dem Täufer eine „Delegation“ geschickt haben, um nach dem Rechten zu sehen, geht er davon aus, dass ihm nun zumindest ähnliche Probleme ins Haus stehen und verlässt den Ort seiner Tauftätigkeit in Judäa (3,22), um wieder nach Galiläa zu ziehen, wo er sich vor seiner Reise nach Jerusalem aufgehalten hatte (2,1). Auch in 7,1 und 10,40 wird berichtet, dass er durch Ortswechsel ausweicht.
Mitten in diesen Bericht hat der Evangelist eine kurze Notiz eingefügt, die darüber informiert, dass „Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger“. Das nicht nur in Spannung zu 4,1, sondern vor allem zu 3,22 („Danach kam Jesus mit seinen Jüngern in das Land Judäa und blieb dort eine Weile mit ihnen und taufte.“) und 3,26 („Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Rabbi, der bei dir war jenseits des Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm.“).
Was
ist der Grund für diese Notiz? Zumstein nennt folgende Möglichkeiten:
„a)
Der Erzähler verortet die mit der Taufe verbundene Geistausgießung in die Zeit
nach Ostern (vgl. 7,39) und teilt darin die urchristliche Überzeugung. Eine
vorösterliche Taufe durch Jesus würde sich also nicht von der des Täufers
unterscheiden und dies wäre unvereinbar mit dem Unterschied, den Joh in
Übereinstimmung mit der urchristlichen Tradition zwischen dem Täufer und Jesus
(vgl. 1,33) postulierte. b) Es ist historisch durchaus möglich, dass Jesus in
der Zeit vor seiner Trennung vom Täufer genauso die Bußtaufe praktiziert hat;
dagegen hätte er dann nach dem Bruch mit dem Täufer auf jegliche Tauftätigkeit
verzichtet. Wie auch immer, diese Bemerkung soll Jesus vor dem Verdacht
bewahren, dass er in irgendeiner Weise in Abhängigkeit vom Täufer gestanden
hätte. Sie versucht, die historische Wahrheit zu neutralisieren, die in 3,22.26
und 4,1 durchscheint.“ (Zumstein, 163).
(4) Der Weg von Judäa nach Galiäa führt – zumindest wenn man die schnellste Route wählt – durch Samarien. Das Verhältnis zwischen Juden und Samaritanern war seit langem angespannt. Juden, die durch Samarien zogen (z.B. als Pilger von und nach Jerusalem), mussten mit Anfeindungen rechnen.
Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius berichtet von einem Vorfall, der sich um 50 n. Chr. ereignet hat, und dessen Folgen (Jüdischer Krieg II, 232-246):
232 (3.) Einige
Zeit darauf kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Galiläern und Samaritern. Bei
dem Dorfe Gema, das in der großen Ebene liegt, aber noch zu Samaria gehört,
wurde ein Galiläer aus [166] der
Zahl der vielen jüdischen Festpilger, die nach Jerusalem hinaufzogen,
ermordet. 233 Auf die Kunde hievon rotteten sich alsbald viele Leute
aus Galiläa zusammen, um den Samaritern eine förmliche Schlacht zu liefern. Da
wandten sich die Häupter der letzteren an Cumanus und baten ihn fast auf den
Knieen, persönlich nach Galiläa herüberzukommen und die des Mordes schuldigen
Verbrecher zu bestrafen, bevor es zum Aeußersten käme, da nur durch dieses
Mittel allein noch die Menge zum Auseinandergehen bewogen werden, und ein
blutiger Kampf verhütet werden könnte. Das einzige, was sie nun erreichten,
war, dass sie Cumanus mit ihren Bitten wegen augenblicklicher Geschäfte auf
später verwies und sie für jetzt unverrichteter Dinge entließ.
234 (4.)
Inzwischen war aber die Unglücksbotschaft von diesem Morde auch nach Jerusalem
gedrungen, wo sie bei den Volksmassen eine allgemeine Bewegung verursachte. Man
ließ das Fest Fest sein und eilte zum Kampfe an die Grenze von Samaria, ohne
auch nur einen ordentlichen Führer zu haben. Vergebens waren alle Warnungen von
Seite der Häupter. 235 Unter diese Volksscharen mischte sich übrigens
auch das Raubgesindel und der eigentliche Rebellenhaufe, geführt von einem
gewissen Eleazar, dem Sohne des Dinäus, und von Alexander. Diese Banden fielen
nun über die an den Bezirk von Akrabatene angrenzenden Samariter her, hieben
ohne Unterschied des Alters schonungslos alles nieder und zündeten die Dörfer
an.
236 (5.)
Jetzt endlich stellte sich Cumanus an die Spitze eines Reitergeschwaders, der
sogenannten Sebastener, die in Cäsarea standen, und eilte den mit Vernichtung
Bedrohten zu Hilfe. Er machte unter den Leuten des Eleazar zahlreiche Gefangene
und brachte ihnen noch größere Verluste an Todten
bei. 237 Mittlerweile hatten sich aber die Häupter aus Jerusalem, mit
Trauersäcken angethan und den Scheitel mit Asche bestäubt, in aller Eile unter
das übrige Volk begeben, das da ausgezogen war, um gegen die Samariter loszuschlagen,
und hatten es dringend gebeten, einzuhalten und nicht durch die Befriedigung
der Rachegelüste an den Samaritern den Grimm der Römer über Jerusalem
heraufzubeschwören. „Habet doch Mitleid,“ sagte man ihnen, „mit eurer
Vaterstadt und dem Tempel, wie auch mit euren eigenen Kindern und Frauen; denn
ihr setzet euch der Gefahr aus, über der Rache für einen einzigen Galiläer dies
alles zu verlieren!“ 238 Das machte Eindruck, und die Juden
zerstreuten sich, aber viele von ihnen warfen sich jetzt auf den Straßenraub,
der ziemlich ungescheut getrieben werden konnte, und bald hörte man im ganzen
Lande von nichts als von Raubthaten, und wo es kühner hergieng, sogar von
Handstreichen [167] durch
Rebellen. 239 Jetzt erschienen die Großen Samariens vor dem
Statthalter von Syrien Ummidius Quadratus, der sich gerade in Tyrus aufhielt,
mit der Forderung, ihnen doch einige Genugthuung von Seite der Juden für die
Mordbrennereien in ihrem Lande zu verschaffen. 240 Es hatten sich
aber auch die angesehensten Juden mit dem Hohenpriester Jonathas, dem Sohne des
Ananus, hier eingefunden, welche die Samariter wegen des von ihnen verübten Mordes
als die ersten Anstifter der Unruhen bezeichneten, für die weitere Verwicklung
aber den Cumanus verantwortlich machten, weil er die Mörder des Unglücklichen
nicht habe züchtigen wollen.
241 (6.)
Vorderhand beschied Quadratus beide Parteien auf eine spätere Zeit, indem er
ihnen die Versicherung gab, persönlich an Ort und Stelle alle einzelnen
Vorgänge genau prüfen zu wollen. Als er dann später wirklich nach Cäsarea kam,
befahl er zunächst, alle von Cumanus gemachten Gefangenen ans Kreuz zu
schlagen, 242 und begab sich von da nach Lydda. Hier nahm er
neuerlich ein gründliches Verhör mit den Samaritern vor und ließ achtzehn
Juden, von denen er gehört hatte, dass sie am Kampfe betheiligt gewesen,
herbeiführen und mit dem Beile vom Leben zum Tode bringen. 243 Er
sandte ferner zwei andere Juden, die zu den einflussreichsten zählten, sowie
die Hohenpriester Jonathas und Ananias und den Sohn des letzteren, Ananus, mit
noch einigen anderen angesehenen Juden zum Kaiser, wohin auch die bekanntesten
Häupter der Samariter auf sein Geheiß abgehen mussten. 244 Selbst
Cumanus und der Tribun Celer erhielten von ihm die gemessene Weisung, nach Rom
zu segeln, um von den jüngsten Vorgängen dem Kaiser Claudius Rechenschaft abzulegen.
Nach diesen Maßregeln reiste er von Lydda nach Jerusalem hinauf, wo er das Volk
gerade bei der Feier der ungesäuerten Brote und in musterhafter Ruhe antraf. Er
kehrte darum alsbald wieder nach Antiochien zurück.
245 (7.)
In Rom nahm unterdessen der Kaiser den Cumanus und die Samariter ins Verhör,
bei dem auch Agrippa sich eingefunden hatte, um mit großem Eifer für die Juden
eine Lanze zu brechen, zumal sich auch für Cumanus viele römische Größen
eingesetzt hatten. Die Sache endete mit der Verurtheilung der Samariter, von
denen Claudius drei der einflussreichsten hinrichten ließ, während er den
Cumanus in die Verbannung schickte. 246 Der Tribun Celer musste sogar
auf kaiserlichen Befehl gefesselt nach Jerusalem geschafft werden, damit die
Juden zuerst an ihm ihr Müthchen kühlen könnten: dann sollte er noch in der
ganzen Stadt herumgeschleppt und schließlich enthauptet werden.
https://de.wikisource.org/wiki/Juedischer_Krieg/Buch_II_10-16
Umgekehrt ist von Rabbi Elieser der Satz überliefert: „Wer das Brot eines Samaritaners isst, ist wie einer, der Schweinefleisch isst.“ (StrBill I, 301).
Die spannungsreiche Geschichte zwischen Juden und Samaritaner begann eigentlich schon mit der Teilung Israels in das Südreich Juda und das Nordreich Israel nach dem Tode König Salomos (1 Kön 12). Sie verschärften sich nach dem Untergang des Nordreiches und der Neubesiedlung Samariens (2 Kön 17,24-41). Im zweiten Buch Könige wird über sie geurteilt: „So fürchteten diese Völker den HERRN und dienten zugleich ihren Götzen. Auch ihre Kinder und Kindeskinder tun, wie ihre Väter getan haben, bis auf diesen Tag.“ (2 Kön 17,41). Infolge des Untergangs des Südreiches Juda und dessen babylonischen Exil dehnten sie ihren Einfluss auch auf dieses Gebiet aus. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil boten die Samaritaner ihnen die Zusammenarbeit ab – vermutlich, um ihren Einfluss zu erhalten – , was von den Juden aber strikt abgelehnt wurde (Esr 4,1ff; Neh 2,19ff; 3,33ff.).
Das Buch Nehemia berichtet außerdem davon, dass Nehemia ein Sohn des Hohenpriesters davonjagte, weil er eine Tochter des persischen Statthalters Sanballat von Samaria geheiratet hatte (Neh 13,28-31). Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus verlegt diesen Konflikt in die hellenistische Zeit und berichtet, dass Sanballat daraufhin seinen Schwiegersohn zum Hohepriester und Präfekten ernannte und „auf dem Berge Garizim, dem höchsten in Samaria, einen Tempel erbauen“ ließ, „der dem zu Jerusalem gleich sein sollte“ (Jüdische Altertümer XI, 8, 2 [310]). Seitdem tobte auch ein Konflikt um den richtigen Ort der Anbetung. Er eskalierte mit der Zerstörung des Heiligtums auf dem Berg Garizim durch den jüdischen König Johannes Hyrkan aus der Dynastie der Hasmonäer (wahrscheinlich 129/128 v. Chr.). Zwischen 6-9 n. Chr. verübten umgekehrt samaritanische Pilger einen Anschlag auf den Tempel in Jerusalem, indem sie dort menschliche Knochen verstreuten und ihn so entheiligten.
Nichts desto trotz stimmten die Samaritaner in vielen theologischen Fragen mit den Juden überein. Sie verehrten Jahwe und betrachteten die fünf Bücher Mose (Pentateuch) als Offenbarungsurkunde, lehnten aber alle anderen Schriften des jüdischen Bibel ab (wie die Sadduzäer).
(5-6) Auf seiner Reise durch Samarien kommt er an einer Stadt mit Namen Sychar vorbei. Sie liegt „nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte“ (vgl. 1 Mos 33,19; 48,22; Jos 24,32). Dort befindet sich auch „Jakobs Brunnen“. Sychar liegt vermutlich „in der Talsohle zwischen Ebal und Garizim“ und ist „wahrscheinlich mit dem heutigen Askar idenisch, das ca. 1 km nordöstlich vom Jakobsbrunnen liegt.“ (Schnelle, 121). Der Jakobsbrunnen existiert noch heute. Er ist ca. 30 Meter tief und reicht bis zum Grundwasser hinab.
Um die „sechste Stunde“, also um die Mittagszeit, macht Jesus eine Pause und setzt sich an den Brunnen.
Dort kommt es zu einer Begegnung mit einer „Frau aus Samarien“. Ihr Dialog durchläuft verschiedene Phasen, bei denen jeweils ein Thema bzw. Stichwort im Mittelpunkt steht. Zunächst geht es – was ganz nahe liegt – um Wasser.
(7) Da kommt eine Frau aus
Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! (8) Denn seine Jünger waren in
die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen. 9 Da spricht die samaritische
Frau zu ihm: Wie, du, ein Jude, erbittest etwas zu trinken von mir, einer
samaritischen Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.
– 10 Jesus
antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der
ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir
lebendiges Wasser. 11 Spricht
zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der
Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? 12 Bist du etwa mehr als unser
Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken
und seine Söhne und sein Vieh. 13 Jesus antwortete und sprach
zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser
trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das
Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers
werden, das in das ewige Leben quillt. 15 Spricht die Frau zu ihm:
Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen
muss, um zu schöpfen!
(7-8) Während Jesus am Jakobsbrunnen pausiert und die Jünger in der naheliegenden Stadt etwas zu Essen kaufen, „kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen“. Diese Arbeit wurde in der Regel Frauen überlassen wurde, die diese aber meistens am Morgen oder Abend verrichteten. Jesus bittet sie, ihm etwas zu trinken zu geben.
(9) Die Frau äußert ihm ihr Erstaunen darüber, dass er als „ein Jude“, sich von ihr, „einer samaritischen Frau“ etwas zu trinken erbittet. Ihre Begründung ist nur zu verständlich: „…die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.“ (zum angespannten Verhältnis zwischen Juden und Samaritern vgl. zu 4,4).
(10) Aber Jesus geht nicht auf ihre erstaunte Frage ein. Stattdessen behauptet er: Wenn sie um „die Gabe Gottes“ und um das Geheimnis seiner Person wüsste, würden sie mit ihm die Rolle tauschen: Sie würde ihn bitten und er würde ihr „lebendiges Wasser“ geben. Bei der „Gabe Gottes“ handelt es sich also um „lebendiges Wasser“.
Mit dieser Antwort lädt Jesus die Samaritanerin ein, „die wortwörtliche Verständnisebene zu verlassen (das Wasser als materielles Gut; Jesus als Bittsteller), um auf eine zweite Ebene zu gelangen (Entdeckung des metaphorischen Sinns des Wassers und der wahren Identität Jesu)“ (Zumstein, 175).
(11-12) Die Frau macht ihn darauf aufmerksam, dass er doch über kein Schöpfgefäß verfügt und der Brunnen tief ist – und er sich deshalb fragen lassen muss, „woher“ er denn „lebendiges Wasser“ haben will.
Die
Frage „woher“ taucht im
Johannesevangelium häufiger auf – als Frage nach dem Ursprung Jesu-
Joh 2,9 |
Als aber der Speisemeister
den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wusste, woher er kam … |
Joh 3,8 |
Der Wind bläst, wo er will,
und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin
er fährt … |
Joh 3,27-28 |
(27) Doch wir wissen, woher
dieser ist; wenn aber der Christus kommt, so weiß niemand, woher er ist. (28)
Da rief Jesus im Tempel und lehrte: Ja, ihr kennt mich und wisst, woher ich
bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern von dem, der
wahrhaftig ist, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. |
Joh 8,14 |
Jesus antwortete und sprach
zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich
weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher
ich komme oder wohin ich gehe. |
Joh 9,29-30 |
(29) Wir wissen, dass Gott
mit Mose geredet hat; woher aber dieser ist, wissen wir nicht. (30) Der
Mensch antwortete und sprach zu ihnen: Das ist verwunderlich, dass ihr nicht
wisst, woher er ist; und er hat meine Augen aufgetan. |
Joh 19,9 |
und ging wieder hinein in
das Prätorium und spricht zu Jesus: Woher bist du? Aber Jesus gab ihm keine
Antwort. |
Möglicherweise schwingt dieser Aspekt auch hier mit.
Gleichzeitig stellt sie ihm die rhetorische Frage, ob er „etwa mehr“ ist, als Jakob, der ihnen „diesen Brunnen gegeben hat“, aus dem er zusammen mit seinen Söhnen und seinem Vieh getrunken hat, und den sie als Stammvater verehren.
Hat die Frau verstanden, dass Jesus die „wortwörtliche Verständnisebene“ verlassen hat? Dazu gibt es unter Bibelauslegern unterschiedliche Auffassungen. Wengst meint: „Die Frau hat richtig verstanden und versteht angemessen weiter zu fragen. Dementsprechend fragt sie Jesus anschießend eben nicht, wie der denn nun das Brunnenwasser schöpfen wolle. Ihre Frage lautet vielmehr: ‚Woher also hast du das lebendige Wasser?‘ – von dem du gesprochen hast und das mehr und etwas anderes sein will als das Wasser aus diesem Brunnen? Sie stellt damit keine dumme, sondern die richtige Frage. Nach der Verbindung, die Jesus zwischen sich, der Gabe Gottes und dem lebendigen Wasser hergestellt hat, ist das zugleich die Frage nach dem Woher Jesu, um die es im Evangelium immer wieder geht. Die weitere Frage der Frau bestätigt, dass sie aus Jesu Rede einen hohen Anspruch herausgehört hat. ‚Bist du etwa größer als unser Vater Jakob?‘“ (Wengst, 138). Die meisten Ausleger aber sind wie Zumstein der Meinung: „Ihre Antwort zeigt, dass sie die Tragweite der Einladung Jesu nicht erfasst hat. Das Wasser bleibt für sie ein materielles Element, das man aus einem tiefen Brunnen schöpft (…). Das Argument ist rational und sachgemäß, aber es bewegt sich lediglich auf der ersten Ebene – der Ebene der immanenten und unmittelbaren Realität.“ (Zumstein, 176).
Für die zweite Deutung spricht, dass an vielen Stellen des Johannesevangeliums Missverständnisse berichtet werden, bei denen die Gesprächspartner sich auf unterschiedlichen Verständnisebenen begegnen und Jesus sich offenbar bewusst missverständlich äußert, um das Gespräch auf eine tiefere Ebene zu bringen (vgl. die Ausführungen zu 3,4).
(13-14) Jesus knüpft an die Aussage der Frau über das Wasser aus dem Jakobsbrunnen an (4,12) und erklärt ihr den Unterschied zwischen diesem Wasser und dem „lebendigen Wasser“, das er gibt. Wer das Wasser aus dem Jakobsbrunnen trinkt, wird wieder Durst bekommen. Aber derjenige, der das Wasser trinkt, das er gibt, „wird in Ewigkeit nicht dürsten“. Dieses ganz andere Wasser „wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt“.
Was meint Jesus mit dem „lebendigen Wasser“? Im AT wird Gott „die Quelle lebendigen Wassers“ genannt (Jer 17,13). Der Prophet Hesekiel sieht sogar einen Wasserstrom aus dem neuen Tempel fließen, der zu einem Strom wird, der gesund macht und Fruchtbarkeit schenkt (Hes 47,1-12). Innerhalb des Johannesevangeliums ist noch in 7,37-39 vom „lebendigen Wasser“ die Rede: „(37) Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! (38) Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. (39) Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.“ (vgl. auch die andere Übersetzungsmöglichkeit, nach der das lebendige Wasser nicht aus dem Gläubigen, sondern aus Jesu Leib fließt: „(37) Am letzten Tag, dem großen Tag des Festes, stand Jesus auf und rief: ‚Wer durstig ist, der komme zu mir, und es trinke, (38) wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leib fließen.‘ (39) Dies sagte er aber von dem Geist, den die an ihn Glaubenden empfangen sollten. Denn der Geist war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.“
Vers 14 nennt drei Kennzeichen des „lebendigen Wassers“, dieser besonderen „Gabe Gottes“:
1. Dieses Wasser löscht den Durst für immer.
2. Dieses Wasser wird in dem, der dieses Wasser empfängt, zu einer „Quelle des Wassers“.
3. Dieses Wasser, dass in dem, der es empfangen hat, zu einer „Quelle des Wassers“ geworden ist, quillt „in das ewige Leben“.
Es handelt sich also um „ein göttliches Geschenk, das
Jesus aus der himmlischen Welt den Menschen bringt, um ihren tiefsten
‚Lebensdurst‘ vollkommen und für immer zu stillen; eine Gabe, die ganz in den
Menschen eingeht, ihn erfüllt, in ihm ihre bleibende Kraft entfaltet und ungeschwächt
bis ins ewige Leben fortwirkt.“ (Schnackenburg I, 467).
„Fragen wir abschießend, was Jesus konkret unter diesem Bilde meint, so macht keinen großen Unterschied aus, ob man an den Heiligen Geist (wie die meisten Väter und viel neuere Exegeten) oder an das göttliche Leben denkt; denn beides ist für Joh aufs engste verbunden. Der Geist ist ihm das lebenschaffende Prinzip (6,63a); darum wird Jesus, der das göttlich Leben weitergibt, als Geistträger (1,32f; 3,34), Geisttäufer (1,33), Quelle lebendiger Ströme (7,38) charakterisiert; aber auch die Gläubigen ‚empfangen‘ den Geist (7,39; vgl. 14,17; 20,22; 1 Joh 2,27; 3,24; 4,13). Die Heilsgabe schlechthin aber ist die durch das πνεῦμα [Geist] vermittelte ζωή [Leben], die eine lebendige dynamische Wirklichkeit im Menschen darstellt, so dass auch auf sie das Bild der sprudenden und unversieglichen Quelle zutrifft. Die Deutung auf die Offenbarung bzw. die Worte Jesu ist ebenfalls möglich, da durch die Worte des Offenbarers den Glaubenden Geist und Leben zukommen (5,24; 6,63.68; 8,51.“ (Schnackenburg I, 467).
(15) Nun bittet die Frau ihn, ihr „dieses Wasser“ zu geben - damit sie keinen Durst mehr hat und nicht mehr zum Brunnen kommen muss, um Wasser zu schöpfen.
„Eine Veränderung hat sich eingestellt: Die Frau sieht in Jesus nicht mehr den erschöpften Reisenden, der die Sitten überschreitet, sondern einen mächtigen Wundertäter im Besitz eines außergewöhnlichen Wassers. Doch zeigt der zweite Teil des Verses, dass sie noch immer nicht in der Lage ist, vom wörtlichen Sinn zum metaphorischen Sinn zu gelangen. Sie bleibt bei dem materiellen Verständnis des Wassers, das zu einer Art Wundertrank wird, der Erleichterung verspricht bei der täglichen Mühe, am Brunnen Wasser zu schöpfen und es zu transportieren. Sie tut nun zwar, wozu Jesus sie aufgefordert hat – ihn um Wasser zu bitten (V. 10) - , aber sie weiß nicht, was sie bittet und wen sie darum bittet.“ (Zumstein, 178).
„Um dem Scheitern des Kommunikationsprozesses abzuhelfen – die Offenbarung seiner Identität ist bisher gescheitert – , gibt … Jesus keine weiteren Erklärungen ab, sondern verschiebt das Gesprächsthema: Er verlässt das Thema des ‚lebendigen Wassers‘ und konzentriert sich auf das Leben seiner Gesprächspartnerin (…).“ (Zumstein, 178).
(16) Spricht er zu ihr: Geh
hin, ruf deinen Mann und komm wieder her! (17) Die Frau antwortete und
sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast richtig
gesagt: »Ich habe keinen Mann.« (18) Denn fünf Männer hast du
gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; das hast du recht
gesagt. (19) Die
Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.
(16-18) Jesus bittet seine Gesprächspartnerin, ihren Ehemann zu dem Gespräch hinzuzuziehen. Daraufhin erklärt sie ihm: „Ich habe keinen Mann“. Aber Jesus weiß, dass das nicht die ganze Wahrheit ist – dass sie bereits fünfmal verheiratet war und zur Zeit nur deshalb „keinen Mann“ hat, weil sie mit dem Mann, mit dem sie jetzt zusammen lebt, nicht rechtmäßig verheiratet ist. Das zeigt erneut Jesu Wissen über andere Menschen (vgl. 1,48; 2,25).
„Aus Sicht eines palästinischen Juden durfte eine Frau nicht mehr als drei Mal verheiratet sein (vgl. StrBill II, 437) und das Konkubinat wurde als Schande betrachtet.“ (Zumstein, 178).
Möglicherweise
sieht Jesus die Ursache für ihren „Männerverschleiß“ in dem Lebensdurst, für
den er ihr „lebendiges Wasser“ angeboten hat: „Der Lebenslauf der Frau zeigt,
dass sie auf der Suche ist, auf der Suche nach ‚lebendigem Wasser‘, nach der
Gabe des Lebens im Fülle. Indem Jesus vom ‚lebendigen Wasser‘ zum ehelichen
Leben seiner Gesprächspartnerin übergeht, versucht er ihr zu zeigen, dass es
bei seiner Einladung nicht um den materiellen Vorteil geht, den ein
Wunderwasser bringen würde, sondern um ihre Existenz in ihrem tiefsten
Trachten.“ (Zumstein, 178).
Wenig
überzeugend ist der Versuch, der Hinweis auf die fünf Männer auf die
Völkerschaften und ihre Götter zu beziehen, die nach der Eroberung Samarias
dort angesiegelt wurden – und den sechsten Mann auf Jahwe, mit die Samaritaner
ohne feste Bindung zusammenleben. Zwar werden in 2 Kön 17,29-31 fünf Völker
genannt (aber mit insgesamt 7 Göttern – wobei Josephus von „aus fünf
Völkerschaften, von denen jede ihren besonderen Gott verehrte“ spricht,
Jüdische Altertümer IX, 14, 3 [288]). Der Bericht des Johannesevangeliums gibt
aber keine Hinweis, die Männer der samaritanischen Frau symbolisch zu deuten.
(19) „Angesichts dieser Offenbarung über sich selbst, macht die Samariterin den nächsten Schritt in der stufenweisen Entdeckung der Identität Jesu: Vom Wundertäter wird er zum Propheten …“ (Zumstein, 179).
Unklar ist, ob sie dabei an eine bestimmte Figur denkt. Tatsächlich findet sich im samaritanischen Pentateuch die Erwartung eines zweiten Mose: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen aus ihren Brüdern erwecken und meine Worte in seinen Mund geben. Und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm befehlen werde. Und wer auf seine Worte nicht hören wird, die er in meinem Namen sprechen wird, von dem will ich Rechenschaft fordern.“ (Samaritanischer Pentateuch Ex. 20,21b; zit. in: Kippenberg/Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 100).
Auch im Johannesevangelium findet sich die Erwartung eines ganz bestimmten Propheten („der Prophet“):
Joh 1,21 |
Und sie fragten ihn: Was
dann? Bist du Elia? Er sprach: Ich bin’s nicht. Bist du der Prophet? Und er
antwortete: Nein. |
Joh 1,25 |
und sie fragten ihn und
sprachen zu ihm: Warum taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist noch
Elia noch der Prophet? |
Joh 6,14 |
Als nun die Menschen das
Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der
in die Welt kommen soll. |
Joh 7,40 |
Eitliche nun aus dem Volk,
die diese Worte hörten, sprachen: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. |
In 4,19 fehlt jedoch der Artikel. Die Frau hält Jesus also nicht für den Propheten, sondern für einen Propheten (vgl. 4,44: „Denn er selber, Jesus, bezeugte, dass ein Prophet daheim nichts gilt.“; 9,17: „Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet.“).
„Da sich Jesus als Prophet offenbart hat, ist er imstande, sich zu den wesentlichsten Fragen des Glaubens zu äußern. Somit ist es für die Frau opportun, den Streitpunkt zu erwähnen, der Juden und Samariter zu Gegnern macht: Ist Jerusalem oder der Garizim der Ort der wahren Anbetung (…)?“ (Zumstein, 180).
(20) Unsere Väter haben auf
diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man
anbeten soll. (21) Jesus
spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem
Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. (22) Ihr wisst nicht, was ihr
anbetet; wir aber wissen, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den
Juden. (23) Aber
es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater
anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche
Anbeter haben. (24) Gott
ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit
anbeten. (25) Spricht
die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn
dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. (26) Jesus spricht zu ihr: Ich
bin's, der mit dir redet.
(20) Der Streit zwischen Juden und Samaritanern um den Ort der wahren Anbetung hat sich auch in anderen Erzählungen niedergeschlagen: „Rabbi Jischmael … machte sich auf, um in Jerusalem anzubeten. Er kam an der Platane (am Berg Garisim) vorbei. Da sah ihn an Samariter. Er sprach zu ihm: ‚Wohin gehst du?‘ Er sprach zu ihm: ‚Ich mache mich auf, um dort in Jerusalem anzubeten.‘ Er sprach zu ihm: ‚Und wäre es nicht besser für dich, auf diesem gesegneten Berg anzubeten als auf jenem Misthausen (BerR 81,3).“ (zit. in Wengst, 141).
Auch wenn der Bau eines Tempels auf dem Berg Garizim die Folge langanhaltender Konflikte zwischen Juden und Samaritanern war (vgl. die Anmerkungen zu 4,4), konnten die Samaritaner darauf hinweisen, dass auch die „Väter … auf diesem Berg angebetet“ haben:
5
Mos 11,29 |
Wenn dich nun
der Herr, dein Gott, in das
Land bringt, in das du kommen sollst, es einzunehmen, so sollst du den Segen
sprechen lassen auf dem Berge Garizim und den Fluch auf dem Berge Ebal, |
5
Mos 27,11-12 |
(11) Und Mose gebot dem
Volk an diesem Tage und sprach: (12) Diese sollen stehen auf dem Berge
Garizim, um das Volk zu segnen, wenn ihr über den Jordan gegangen seid:
Simeon, Levi, Juda, Issachar, Josef und Benjamin. |
Selbstverständlich dominieren die Aussagen, in denen Jerusalem als Stätte der Anbetung herausgestellt wird (z.B. Ps 48; 122; Jes 2,1-5; 2 Chr.7,12).
Die samaritische Frau bringt die unvereinbaren Standpunkte kurz auf den Punkt – und bittet Jesus damit indirekt um ein klärendes Wort.
(21) In seiner Antwort weist Jesus auf die Zeit – wörtlich „die Stunde“ (ὥρα) – hin, in der sie Gott „weder auf diesem Berge noch in Jerusalem … anbeten“ werden.
Mit der „Stunde“ ist die eschatologische Vollendung gemeint:
Joh
5,25 |
Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören
werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden
leben. |
Joh
5,28 |
Wundert euch darüber nicht.
Es kommt die Stunde, in der alle, die
in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden. |
M.a.W.: „Um das Thema der wahren Anbetung angemessen anzugehen (…), ist es nicht von den Traditionen der Vergangenheit ausgehend zu betrachten, die die Gegenwart bestimmen würden, sondern von der Zukunft, von einer ‚Stunde, die kommt‘ (…). Diese ‚Stunde, die kommt‘, ist die der eschatologischen Vollendung und mit ihr wird der von der Samariterin erwähnte Zwist zwischen Juden und Samaritanern der Vergangenheit angehören. Diese Stunde der vollkommenen Offenbarung Gottes wird der Frage nach dem Ort jede Berechtigung entziehen, indem sie jeden Partikularismus und jedem Privilegienanspruch in Bezug auf den Zugang zu Gott ein Ende setzt.“ (Zumstein, 181).
(22) Auf dieser Grundlage kommentiert Jesu die gegenwärtige Anbetung von Samaritanern und Juden. Den Samaritern attestiert er: „Ihr wisst nicht, was ihr anbetet.“ Für die Juden, zu denen Jesus sich ganz selbstverständlich rechnet und zu denen er natürlich auch von seiner Gesprächspartnerin gezählt wird (4,9), aber stellt Jesus fest: „Wir aber wissen, was wir anbeten …“ Zur Begründung erklärt er: „… denn das Heil kommt von den Juden [EB genauer: … denn das Heil ist aus den Juden].“
Was heißt das: „… das Heil ist aus den Juden“? Hier werden unter Bibelauslegern vor allem folgende Deutungen vertreten: „Entweder wird die Geschichte des erwählten Volkes und die Erfüllung der Verheißungen als Quelle des Heils verstanden; in diesem Fall wäre Jesus in Kontinuität mit dieser Heilsgeschichte zu betrachten und als deren Erfüllung. Oder es wird der Aspekt betont, dass Israel Wahrer der Schrift ist; in diesem Fall ist es gerade diese – richtig verstandene – Schrift, die zum Messias Jesus führen würde. Beide Interpretationen sind allerdings nicht als sich ausschließende Alternativen zu betrachten.“ (Zumstein, 182f.).
Die Pointe lauten in beiden Fällen: Weil das „Heil … von den Juden“ kommt, wissen Juden, was sie „anbeten“ – während die Samaritaner quasi eine „blinde Anbetung“ (Zumstein, 182) praktizieren. Hier wird also eine „relative Überlegenheit des jüdischen Kultes gegenüber dem samaritanischen“ herausgestellt (Schnelle, 125).
(23a) Diese „relative Überlegenheit des jüdischen Kultes“ ist aber insofern bedeutungslos, als „die wahren Anbeter den Vater … im Geist und in der Wahrheit“ anbeten – und zwar nicht nur zukünftig (vgl. 4,21: „… es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.“), sondern „schon jetzt“.
Was aber heißt, „im Geist und in der Wahrheit“ anzubeten?
Wenn im Johannesevangelium vom „Geist“ die Rede ist, ist – abgesehen von 11,13; 13,21; 19,30 – der Geist Gottes bzw. der Heilige Geist gemeint (1,32.33; 3,5.6.8.34; 4,24; 6,63; 14,17.26; 15,26; 16,13; 20,22). Dass auch hier der Geist Gottes gemeint ist, zeigt auch die Fortsetzung in 4,24: „Gott ist Geist …“). Die Anbetung „im Geist“ ist deshalb zwar eine Tat des Menschen, aber es geht hier nicht etwa um eine bestimmte Form menschlicher „Spiritualität“. Die Anbetung „im Geist“ kommt nicht aus dem Inneren des Menschen, sondern ist von Gottes Geist bewirkt.
Der Begriff „Wahrheit“ ist im Johannesevangelium untrennbar mit Jesus Christus verbunden. Er ist „voller Gnade und Wahrheit“ (1,14.17) – ja, er ist die Wahrheit in Person (14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“). Die Wahrheit ist also „die göttliche, durch Jesus geoffenbarte Wirklichkeit, an der die Glaubenden Anteil gewinnen.“ (Schnackenburg I, 471).
Zusammengefasst bedeutet das: „Den Vater ‚im Geist und in der Wahrheit‘ anbeten bedeutet, also dank des Geistes und der Offenbarung einen Zugang zu ihm zu haben.“ (Zumstein, 184).
Entscheidend ist dabei: „Nicht erst in der Zukunft, nein, schon jetzt, in der durch den Christus bestimmten Heilsgegenwart, beten die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit an.“ (Schneider, 114; zu „schon jetzt“ vgl. 3,18: „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.“; 5,25: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören, die werden leben.“).
(23b-24) Warum beten die „wahren Anbeter … den Vater … im Geist und in der Wahrheit“ an? Weil Gott es so will: „… der Vater will solche Anbeter haben“.
Und warum will der Vater „solche Anbeter haben“? „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Gott will „im Geist“ angebetet werden, weil solche Anbetung ihm entspricht. „Ein Verhältnis des Menschen zu Gott, das nicht im Verhalten Gottes zum Menschen begründet ist, ist kein echtes Gottesverhältnis, sondern bleibt in der Sphäre menschlichen Unternehmens, in der Gott nicht erreichbar ist; denn Gott ist πνεῦμα [Geist].“ (Bultmann, 141).
Für die Diskussion über den Ort der Anbetung bedeutet das: „Der Mensch selbst muss (…) erst ein anderer, ein pneumatischer Mensch werden, um Gott den adäquaten Kult erweisen zu können. So ist das Entscheidende nicht der Ort der äußeren Gottesverehrung, sondern der Mensch in der Art wie er anbetet.“ (Schnackenburg I, 474).
(25) Die samaritanische Frau verbindet Jesu Erklärungen über die Anbetung mit ihrem Wissen über das Kommen des Messias.
„Die Messiaserwartung der Frau lässt sich mit dem, was wir aus samaritanischen Quellen wissen, in Einklang bringen. In ihnen heißt der Messias Ta’eb, d.h. der Wiederkehrende; er wird nach Dt 18,18 als der Prophet gesehen, der nach dem Urpropheten Moses am Ende auftreten soll. Die Wichtigkeit jener Stelle für die Heilserwartung der Samariter geht daraus hervor, dass sie in ihrem Pentateuch an das 10. Gebot des Dekalogs angefügt wurde. Der Ta’eb wurde vor allem als politischer Fürst, Wiederhersteller des Königtums Israel betrachtet, ähnlich dem davidischen Messias bei den Juden, doch wegen seiner Verbindung mit Moses aus dem Stamm Levi. So sollte er, selbst ein Priester, auch den wahren Kult wiederherstellen.“ (Schnackenburg I, 476). Zur Wiederherstellung des Kultortes gehörte natürlich auch der Kultort.
Die Antwort der Frau „ist richtig, sofern sie versteht, dass Jesus von einem eschatologischen Ereignis redet; aber das καὶ νῦν ἐστιν [und ist schon jetzt] hat sie nicht verstanden, und deshalb auch nicht, was ἐν πνεύματι καὶ ἀληθείᾳ [im Geist und in der Wahrheit] heißt.“ (Bultmann, 141).
(26) Obwohl seine Gesprächspartnerin ihn nur ansatzweise verstanden hat, offenbar Jesus ihr nun, was es mit ihm auf sich hat: „Ich bin's, der mit dir redet.“
„Ich-bin-Aussagen“
Jesu sind typisch für das Johannesevangelium:
6,20 |
Er aber sprach zu ihnen:
Ich bin’s; fürchtet euch nicht! |
8,24 |
Darum habe ich euch gesagt,
dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich
es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden. |
8,28 |
Da sprach Jesus zu ihnen:
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich
es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt
hat, so rede ich. |
8,58 |
Jesus sprach zu ihnen:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich. |
13,19 |
Jetzt sage ich’s euch, ehe
es geschieht, damit ihr, wenn es geschehen ist, glaubt, dass ich es bin. |
18,6 |
Als nun Jesus zu ihnen
sagte: Ich bin’s!, wichen sie zurück und fielen zu Boden. |
Hinzu
kommen die „Ich-bin-Aussagen“ mit einem weiteren Prädikat (6,35.41.48.51; 8,12;
10,7.9.11.14; 11,25; 14,6; 15,1.5).
„Das machtvolle Ego-eimi-Wort [ich bin’s] bildet den Höhepunkt der stufenweisen Selbstoffenbarung Jesu im Dialog mit der Samaritanerin. Nun ist endgültig deutlich, wer der ersehnte Messias der Juden und Samaritaner, der Messias aller Menschen ist: Jesus Christus.“ (US, 127)
„Wie auch in an anderen Gesprächen, die im Evangelium erzählt werden, enthüllt Jesus selbst seine Identität. Seine Gesprächspartner können zwar auf dem Weg des Glaubens vorankommen, doch sind sie nicht in der Lage, von sich aus zu entdecken, dass Jesus der Christus ist. Diese Offenbarung bleibt Gabe …“ (Zumstein, 185).
Die folgenden Verse „dienen als Überleitung vom Dialog mit der Samaritanerin (V.7-26) zum doppelten Gespräch, das darauf folgt, zuerst mit den Jüngern (V.31-38) und dann mit den Leuten aus der Stadt (V.39-42).“ (Zumstein, 186).
(27) Unterdessen kamen seine
Jünger, und sie wunderten sich, dass er mit einer Frau redete; doch sagte
niemand: Was willst du?, oder: Was redest du mit ihr? (28) Da ließ die Frau ihren
Krug stehen und ging hin in die Stadt und spricht zu den Leuten: (29) Kommt, seht einen
Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe, ob er nicht der
Christus sei! (30) Da
gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.
(27) Während Jesus noch mit der samaritanischen Frau spricht, kommen die Jünger von ihrem Einkauf zurück (4,8). Sie wundern sich, dass er mit einer Frau redet, sagen aber nichts (vgl. 16,17-18) – und reagieren damit ähnlich verwundert wie die Frau auf den Wunsch Jesu nach etwas zu trinken (4,9). Grund für die Verwunderung der Jünger ist vermutlich, dass man von den Rabbinern Zurückhaltung im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht erwartete (StrBill II, 438).
(28-30) Nach der Selbstoffenbarung Jesu (4,26) lässt die Frau ihren Krug am Brunnen stehen und begibt sich in die Stadt, um ihre Erfahrung mit ihren Leuten zu teilen. Sie bittet sie, mit ihr zu kommen und sich eine Meinung darüber zu bilden, ob der Mann, mit dem sie gesprochen hat nicht „der Christus“ ist. Ihr Argument: Er hat „mir alles gesagt …, was ich getan habe“ (vgl. 4,16-18).
„Die Formulierung (…) lässt zwar eine noch zögernde Überzeugung erkennen, doch nötigt diese Unbestimmtheit sowohl die Samaritaner als auch den Leser, sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Gegensatz zu anderen Gestalten der joh Erzählung (…), hat sich diese Frau durch die christologische Offenbarung in Frage stellen lassen; sie hat sich nicht hinter erworbenen Gewissheiten versteckt, sondern hat sich in Bewegung gesetzt.“ (Zumstein, 187).
Und tatsächlich: Die Bewohner der Stadt lassen sich von ihr dazu bewegen, aus der Stadt herauszukommen und zu Jesus zu gehen.
Inzwischen kommt es zu einem Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern. Er verläuft ähnlich wie der zwischen Jesus und der Samaritanerin: Er „wird durch ein Gespräch eröffnet, das ein Missverständnis klären soll, das die ‚Speise‘ betrifft, die Jesus zu sich nimmt (V.31-34; vgl. V.10-15); danach folgt eine Unterweisung, die das Bild der ‚Ernte‘ entwickelt (V.35-38; vgl. V.21-24).“ (Zumstein, 188).
(31) Unterdessen mahnten ihn
die Jünger und sprachen: Rabbi, iss! (32) Er aber sprach zu ihnen:
Ich habe eine Speise zu essen, von der ihr nicht wisst. (33) Da sprachen die Jünger
untereinander: Hat ihm jemand zu essen gebracht? (34) Jesus spricht zu ihnen:
Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und
vollende sein Werk.
„Die V.31-34 sind als Gegenstück zu den V.7-15 zu verstehen. In beiden Fällen wird dankt eines Missverständnisses aufgezeigt, was einer der Protagonisten zum Leben braucht. Während in den V.7-15 durch die Metapher des Wassers nach gelegt werden kann, was der Mensch empfangen muss, um leben zu können, enthüllt die Metapher der Nahrung in den V. 31-34, was Jesus braucht.“ (Zumstein, 188).
(31-32) Die Jüngern, die in der nahegelegenen Stadt Proviant besorgt haben (4,8), fordern Jesus auf, etwas zu essen. Aber Jesus erklärt ihnen: „Ich habe eine Speise zu essen, von der ihr nicht wisst.“ Damit provoziert Jesus erneut ein Missverständnis (vgl. 4,10-12 und die Ausführungen zu 3,4).
(33-34) Tatsächlich bleiben die Jünger dem unmittelbaren Sinn der Aussage Jesu verhaftet und denken an materielle Nahrung – konkret daran, dass ihm während ihrer Abwesenheit jemand anders was zu essen gegeben hat.
Aber dieses Missverständnis gibt Jesus die Gelegenheit, sein Offenbarungswort von 4,32 zu verdeutlichen: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“ „Die Nahrung Jesu – das, was seinem Leben unentbehrlich ist – besteht in der Erfüllung des ihm von Gott anvertrauten Auftrags." (Zumstein, 188).
Was meint Jesus mit dem Willen dessen, der ihn gesandt hat?
Jesus ist der Gesandte seines Vaters im Himmel (5,23.30; 6,38-39). Er lebt also
davon, dass er den Willen seines Vaters tut. Und was ist der Wille seines
himmlischen Vaters? Dass er alle Menschen, die er ihm anvertraut hat, zum Heil bzw.
ins ewige Leben führt. Joh 6,38-40: „(38)
Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern
den Willen dessen, der mich gesandt hat. (39 Das ist aber der Wille dessen, der
mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat,
sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage. (40) Denn das ist der Wille
meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben
habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“
Und wodurch vollendet Jesus das ihm von seinem Vater aufgetragene Werk? Durch die Verherrlichung Gottes. Joh 17,1-4: „(1) Solches redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; (2) so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. (3) Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. (4) Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue.“
Was ist mit der „Verherrlichung“ gemeint, durch die Jesus das Werk Gott „vollendet“? Sein Tod am Kreuz. Joh 12,23-28: „(23) Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. (24) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (25) Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's bewahren zum ewigen Leben. (26) Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. (27) Jetzt ist meine Seele voll Unruhe. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. (28) Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.“
Anknüpfend an die Aussage von der Vollendung seines Werkes, spricht Jesus davon, dass die Felder schon reif zur Ernte sind und was das bedeutet.
(35) Sagt ihr nicht selber: Es
sind noch vier Monate, dann kommt die Ernte? Siehe, ich sage euch: Hebt eure
Augen auf und seht auf die Felder: sie sind schon reif zur Ernte. (36) Wer erntet, empfängt Lohn
und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf dass sich miteinander freuen, der da
sät und der da erntet. (37) Denn hier ist der Spruch
wahr: Der eine sät, der andere erntet. (38) Ich habe euch gesandt zu
ernten, wo ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr seid in
ihre Arbeit eingetreten.
(35-37) Zunächst zitiert Jesus eine offenbar verbreitete Redewendung: „Es sind noch vier Monate, dann kommt die Ernte.“ Ihre Pointe lautet: „Jeder weiß, dass zwischen Säen und Ernten eine Zeit des Wartens liegt, das heißt mit anderen Worten: ‚Wir haben Zeit‘.“ (Zumstein, 189).
Dann aber stellt er eine Gegenbehauptung auf: „Siehe, ich sage euch: Hebt eure Augen auf und seht auf die Felder: sie sind schon reif zur Ernte.“ Das erinnert an 4,23, wo Jesus davon gesprochen hat, dass „schon jetzt … die wahren Anbeter den Vater anbeten … im Geist und in der Wahrheit“. Hier bezieht sich das „Schon“ möglicherweise konkret auf die Bewohner Sychars, die sich nach dem Zeugnis der Frau auf dem Weg zu Jesus befinden (4,30).
Was meint Jesus mit „Ernte“? Derjenige, der erntet, „empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben“. Die Ernte ist also der Akt, indem alles zum Ziel gebracht wird und das ewige Leben anbricht.
Und wer erntet hier und jetzt? Jesus selbst. Schließlich lebt er davon, dass er das Werk Gottes vollendet (4,34).
Als derjenige, der erntet, „empfängt“ Jesus „Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben“. Was ist gemeint? „Das ‚Lohn-Empfangen‘ bezieht sich hier schwerlich auf das Bild von der Lohnauszahlung (vgl. Mt 20,8ff); vielmehr dürfte der ‚Lohn‘ eben im ‚Frucht-Einsammeln‘ bestehen, das καὶ [und] also die nähere Erläuterung bringen. Sonst wäre auch die Aufeinanderfolge merkwürdig: Der Lohn wird erst nach vollbrachter Arbeit gezahlt. Für Jesus liegt der ‚Lohn‘ nur in der Erntefreude (36c); er lebt so in seinem Werk (V 34), dass es nichts anderes begehrt, als die ‚Frucht‘ zu sehen.“ (Schnackenburg I, 483).
Diese Frucht ist alle Beteiligten ein Grund zur Freude – für den, „der da sät“ und für den, „der da erntet“.
Wenn Jesus hier und jetzt erntet – wer ist dann derjenige, „der da sät“? Es kann nur Gott gemeint sein. Die Aussage des letzten Teils von Vers 36 lautet dann: „Der gelungene Abschluss dieser Unternehmung wäre – in Übereinstimmung mit V.34 – Anlass zur Freude sowohl für Gott, den Initiator, als auch für Jesus, den Ausführenden.“ (Zumstein, 191).
Einige
Bibelausleger sind der Auffassung, dass hier die Ernte der Jünger gemeint ist
(i.S.v. Missionserfolgen) und Jesus hier derjenige ist, der säht (z.B.
Schnelle, 129). Tatsächlich erscheinen die Jünger in 4,38 als diejenigen, die
ernten. Wenn man den Abschnitt 4,35-38 aber nicht von hinten, sondern von vorne
liest – und das ist doch wohl die übliche Leseweise, an der sich auch der
Verfasser des Johannesevangeliums orientiert haben wird – muss man in Jesus denjenigen
sehen, der erntet (Becker, 180)
(38) Hier geht es um die Jünger, die Jesus zur Ernte ausgesandt hat. Dabei werden sie „ernten“, wo sie „nicht gearbeitet“ haben. Vielmehr haben „andere“ bereits „gearbeitet“ und sie sind einfach „in ihre Arbeit eingetreten“ und haben geerntet.
Von einer Aussendung der Jünger ist im Johannesevangelium erst nachösterlich die Rede (Joh 20,21). Die Aussage Jesu hat aber möglicherweise deshalb einen Bezug den Ereignissen in Samarien, als Missionserfolge der Apostel im Hintergrund stehen (Schnackenburg I, 487). So berichtet die Apostelgeschichte, dass Philippus dort das Evangelium verkündigt hat und anschließend auch die Apostel dort aktiv werden und das Werk vollenden (Apg 8,4-17). Jedenfalls ist das ein Beispiel dafür, dass andere gearbeitet haben und die Apostel in ihre Arbeit eingetreten sind.
Die Erzählung gipfelt in dem Bericht über die Aufnahme Jesu und seiner Botschaft in Sychar.
(39) Es glaubten aber an ihn
viele der Samariter aus dieser Stadt um des Wortes der Frau willen, die
bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. (40) Als nun die Samariter zu
ihm kamen, baten sie ihn, dass er bei ihnen bleibe; und er blieb dort zwei
Tage. (41) Und
noch viel mehr glaubten um seines Wortes willen. (42) Und sie sprachen zu der
Frau: Nun glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber
gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.
(39-41) Bereits in 4,28-30 war vom Inhalt und Erfolg des Zeugnisses der samaritanischen Frau die Bei Jesus am Jakobsbrunnen angekommen, bitten sie ihn, bei ihnen zu bleiben. Jesus geht auf diese Bitte ein und bleibt zwei Tage dort. Sein Aufenthalt in Sychar hat zur Folge, dass „um seines Wortes willen“ noch viel mehr Menschen zum Glauben an ihn kommen.
(42) Die Erzählung endet mit einem Wort der Bewohner Sychars. Es ist an die samaritanische Frau gerichtet, ist aber zugleich ein abschließendes Wort, das Grundlage und Inhalt des christlichen Glaubens auf den Punkt bringt.
Die Bewohner Sychars erklären ihr: „Nun glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt …“. „Damit ist gesagt: der Glaube darf nicht auf die Autorität Anderer hin glauben, sondern muss selbst seinen Gegenstand finden; er muss durch das verkündigte Wort hindurch das Wort des Offenbarers selbst vernehmen.“ (Bultmann, 149).
Was haben die Bewohner Sychars erkannt? „Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.“
Der Begriff „Heiland“ (σωτήρ, auch „Retter“) findet sich im NT noch an folgenden Stellen:
Lk
1,47 |
und mein Geist freuet sich
Gottes, meines Heilandes; |
Lk
2,11 |
denn euch ist heute der
Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. |
Apg
5,31 |
Den hat Gott durch seine
rechte Hand erhöht zum Fürsten und Heiland, um Israel Buße und Vergebung der
Sünden zu geben. |
Apg
13,23 |
Aus dessen Geschlecht hat
Gott, wie er verheißen hat, Jesus kommen lassen als Heiland für das Volk
Israel, |
Eph
5,23 |
Denn der Mann ist das Haupt
der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist - er hat sie als seinen
Leib gerettet. |
Phil
3,20 |
Wir aber sind Bürger im
Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus |
1
Tim 1,1 |
Paulus, Apostel Christi
Jesu nach dem Befehl Gottes, unseres Heilands, und Christi Jesu, der unsere
Hoffnung ist, |
1
Tim 2,3 |
Dies ist gut und
wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, |
1
Tim 4,10 |
Denn dafür arbeiten und
kämpfen wir, weil wir unsre Hoffnung auf den lebendigen Gott gesetzt haben,
welcher ist der Heiland aller Menschen, besonders der Gläubigen. |
2
Tim 1,10 |
jetzt aber offenbart ist
durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht
genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat
durch das Evangelium, |
Tit
1,4 |
an Titus, mein rechtes Kind
nach unserm gemeinsamen Glauben: Gnade und Friede von Gott,
dem Vater, und Christus Jesus, unserm Heiland! |
Tit
2,10 |
nichts veruntreuen, sondern
sich stets als gut und treu erweisen, damit sie in allem die Lehre Gottes,
unseres Heilands, schmücken. |
Tit
2,13 |
und warten auf die selige
Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres
Heilands, Jesus Christus, |
Tit
3,4 |
Als aber erschien die
Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, |
Tit
3,6 |
den er über uns reichlich
ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, |
2
Pt 1,1 |
Simon Petrus, Knecht und
Apostel Jesu Christi, an alle, die mit uns denselben kostbaren Glauben empfangen
haben durch die Gerechtigkeit unseres Gottes und Heilands Jesus Christus: |
2
Pt 1,11 |
und so wird euch reichlich
gewährt werden der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilands
Jesus Christus. |
2
Pt 2,20 |
Denn wenn sie durch die
Erkenntnis des Herrn und Heilands Jesus Christus entflohen sind dem Schmutz
der Welt, werden aber wiederum in diesen verstrickt und von ihm überwunden,
dann ist's mit ihnen am Ende ärger geworden als am Anfang. |
2
Pt 3,2 |
dass ihr gedenkt an die
Worte, die zuvor gesagt sind von den heiligen Propheten, und an das Gebot des
Herrn und Heilands, das verkündet ist durch eure Apostel. |
2
Pt 3,18 |
Wachset aber in der Gnade
und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus. Ihm sei Ehre jetzt
und für ewige Zeiten! Amen. |
1
Joh 4,14 |
Und wir haben gesehen und
bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt. |
Jud
1,25 |
dem alleinigen Gott, unserm
Heiland durch unsern Herrn Jesus Christus, sei Ehre und Majestät und Gewalt
und Macht vor aller Zeit, jetzt und in alle Ewigkeit! Amen. |
Wenn dieser Begriff auf Jesus bezogen wird, bedeutet er: „Jesus kam, sprach und wirkte als der Erretter und also als der Bringer der großen Freude, indem er der unmittelbarer und schlechthin vollmächtige Zeuge des rettenden Erbarmens Gottes selber war.“ (Karl Barth, KD IV.2, 204).
Der
Begriff „Heiland“ war auch in der Antike in Gebrauch: „Antike Kosmologie nannte
der höchsten Gott ‚Erzeuger‘ und ‚Retter von allem‘ … Das stellte ihn vor alle
irdischen Herrscher und Wohltäter. Philo übertrug es juüdisch auf den einen
Gott, den ‚Erzeuger, Vater und rettenden Erhalter (…) der Welt‘ (…). Allmählich
hob dann der Kaiserkult im 1. Jh. den Unterschied der Herrscher zum höchsten
Gott auf. Einzelne und Städte erachteten die Wohltaten der Kaiser so hoch, dass
sie in ‚Retter der Welt‘ zu nennen begannen.“ (Karrer, Jesus Christus im Neuen
Testament, 52f.).
Im Zusammenhang der Erzählung von der Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau zeigt das Bekenntnis zu Jesus Christus als der „Welt Heiland“: „Jesus wird nicht mehr allein als Messias einer bestimmten Gruppierung gesehen (V.25.29), sondern zum Retter der Welt (…) erklärt. Die ethnischen, nationalen und religiösen Grenzen sind überschritten; die Mission in Samarien begründet die Universalität des christologischen Glaubens. In diesem Sinn verwirklicht sich die eschatologische Vollendung, die im Zentrum dieses Abschnittes steht: Sowohl Jerusalem also auch der Garizim sind nicht mehr die die Anbetung geweihten Orte.“ (Zumstein, 194).
Zusammenfassung:
Die Erkenntnis Jesu
Christi ergibt sich nicht von selbst, sondern wird durch Missverständnisse
vorbereitet und erst durch seine Selbstoffenbarung erreicht, in der er sich als
Retter der ganzen Welt zu erkennen gibt und schon jetzt eine neue Anbetung
Gottes eröffnet, bei der alle bisherigen Grenzen überwunden werden, und das
Werk Gottes vollendet.
3.6 Das zweite
Zeichen in Kana: Die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten (4,43-54)
Die Verse 43-45 leiten von der Offenbarung in Sychar zum zweiten Zeichen Jesu in Kana hin.
(43) Aber nach den zwei Tagen
zog er von dort nach Galiläa. (44) Denn er selber, Jesus,
bezeugte, dass ein Prophet in seiner Vaterstadt nichts gilt. (45) Als er nun nach Galiläa kam,
nahmen ihn die Galiläer auf, die alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf
dem Fest getan hatte; denn sie waren auch zum Fest gekommen.
(43) Nach zweitägigem Aufenthalt in Sychar (4,40) setzt Jesus seine Reise nach Galiläa fort (4,3-4).
(44) Der Evangelist begründet sie damit, dass Jesus selbst bezeugt hat, „dass ein Prophet in seiner Vaterstadt nichts gilt“. Diese Aussage findet sich auch in den synoptischen Evangelien und bezieht sich dort auf die Ablehnung seiner Botschaft in Nazareth (Mk 6,4; vgl. Mt 13,58; Lk 4,24). Weil sie hier seine Reise nach Galiläa begründet, ist diese Aussage auch auf Jerusalem bezogen worden. Dazu würde auch die Fortsetzung passen, in der davon die Rede ist, dass die Galiläer ihn freundlich aufnehmen. Dagegen spricht jedoch, dass auch das Johannesevangelium von der Herkunft Jesu aus Nazareth weiß (1,45-46; 7,41; 18,4-7; 19,19).
Interessant
ist auch die Deutung von Wengst, die das Wort auf Nazareth bezieht und sie mit
der Fortsetzung in V. 45 zu harmonisieren versucht: „Demnach hat Jesus die
Erwartung, in Galiläa nicht weiter beachtet zu werden und also hier kein
Aufsehen zu erregen und damit auch vor möglichen Nachstellungen sicher zu sein.
Als er aber das Ziel der Reise erreicht, zeigt es sich, dass er in seiner Erwartung
enttäuscht wird: ‚Die Galiläer nahmen ihn auf.‘“ (Wengst, 153f.).
(45) Jesus wird in Galiläa freundlich aufgenommen – und zwar von denen, „die alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte“ . Das erinnert an 2,23 („Als er aber in Jerusalem war beim Passafest, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat.“) und damit auch daran, dass der Glaube aufgrund von „Zeichen“ dort als unzureichend bewertet wird (2,24: „Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle …“).
Der Hinweis auf die galiläischen Augenzeugen und Sympathisanten Jesu macht das Verhalten des königlichen Beamten verständlich und bereitet zugleich die Kritik Jesu vor, dass man ihm nur aufgrund seiner „Zeichen und Wunder“ glaubt (4,48)
(46) Und Jesus kam abermals
nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war ein
Mann im Dienst des Königs; dessen Sohn lag krank in Kapernaum. (47) Dieser hörte, dass Jesus
aus Judäa nach Galiläa gekommen war, und ging hin zu ihm und bat ihn,
herabzukommen und seinen Sohn zu heilen; denn der war todkrank. (48) Da sprach Jesus zu ihm:
Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. (49) Der königliche Beamte
sprach zu ihm: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt! (50) Jesus spricht zu ihm: Geh
hin, dein Sohn lebt! Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und
ging hin. (51) Und
während er noch hinabging, begegneten ihm seine Knechte und sagten: Dein Kind
lebt. (52) Da
fragte er sie nach der Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie
antworteten ihm: Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber. (53) Da merkte der Vater, dass
es zu der Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er
glaubte mit seinem ganzen Hause. (54) Das ist nun das zweite
Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.
Der Bericht ist ähnlich aufgebaut, wie der vom Weinwunder (2,1-12: „Das erste und das zweiten ‚Zeichen‘ von Kana stehen in einem expliziten intratextuellen Bezug (vgl. 4,46.54). Sie sind nach dem gleichen Muster aufgebaut. In beiden Abschnitten kommt Jesus nach Galiläa; jemand spricht ihn mit einem Bittgesuch an. Jesus scheint dem Gesuch nicht nachzukommen; der Bittsteller insistiert; daraufhin erhört Jesus die Bitte; das Wunder wird förmlich bestätigt, aber nicht beschrieben; dadurch kommt eine andere Gruppe Menschen zum Glauben (die Jünger/die Diener).“ (Zumstein, 199).
Interessant sind auch die Ähnlichkeiten mit dem Bericht über die Heilung des Knechts eines Hauptmanns von Kapernaum (Mt 8,5-13):
· Es wendet sich jeweils ein Beamter an Jesus.
· Der Kranke befindet sich in Kapernaum.
· Jesus vollzieht eine „Fernheilung“.
Diese Ähnlichkeiten haben zu der Vermutung geführt, dass es sich bei dem Abschnitt 4,46-54 um eine überarbeitete Fassung von Mt 8,5-13 handelt (Zumstein, 199f.). Ein genauer Vergleich zeigt allerdings, dass die beiden Berichte unterschiedliche Zielrichtungen verfolgen (nach Zumstein, 200):
Mt 8,5-13 |
Joh 4,46-54 |
Glaube
des Hauptmanns geht dem Wunder voraus |
Glaube
des königlichen Beamten folgt auf das Wunder |
Hauptmann
hält Ortsveränderung Jesu für überflüssig |
der
königliche Beamte bittet Jesus, zu seinem Sohn zu kommen |
Jesus
hebt den Glauben des Hauptmanns hervor |
Jesus
steht dem Glauben des königlichen Beamten kritisch gegenüber |
- |
das
Wunder führt zum Glauben des ganzes Hauses |
das
Interesse der Erzählung liegt auf dem Glauben des Hauptmanns |
das
Interesse der Erzählung liegt nicht auf dem Glauben des königlichen Beamten,
sondern auf dem Zeichen Jesu |
(46a) In Galiläa angekommen, begibt Jesus sich nach Kana, „wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte“ (2,1-11). „Dieser Verweis erlaubt die Abgrenzung einer Sequenz: Der mit 2,1 beginnende Erzählbogen endet mit dieser Episode.“ (Zumstein, 200).
(46b-47) Dort begegnet Jesus einem „Mann im Dienst des Königs“, also im Dienst des Tetrarchen von Galiläa, Herodes Antipas (4 v. Chr. – 39 n. Chr.), der vom Volk „König“ genannt wurde. Dabei kann es sich um einen Verwaltungsbeamten, aber auch um einen Soldaten handeln. Er ist von Kapernaum, einem am See Genezareth liegenden Grenzort, in das 25 km entfernte und 500 Meter höher gelegene Kana gekommen, um Jesus zu bitten, mit ihm nach Kapernaum „herabzukommen“, weil sein Sohn dort im Sterben liegt.
(48) Aber Jesus weist ihn zunächst ab (vgl. seine Reaktion auf die Bitte seiner Mutter in 2,4). Er stellt fest: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Mit „ihr“ sind offenbar seine galiläischen Sympathisanten gemeint (4,45), die zu denen gehören, die aufgrund der von ihm im Rahmen des Passahfestes vollbrachten „Zeichen“ an ihn glauben (2,23: „Als er aber in Jerusalem war beim Passafest, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat.“, zu „Zeichen“ vgl. die Ausführungen zu 2,11).
Was will Jesus mit diesem Satz sagen? Handelt es sich einfach um eine scharfsinnige Beobachtung über das Wesen des Menschen? Oder kritisiert Jesus ein falsches Glaubensverständnis, bei dem der Glaube auf Wundern beruht? Da auch in 2,24 davon die Rede ist, dass Jesus auf Menschen, die aufgrund seiner Wunder an ihn glauben, zurückhaltend reagiert (2,24: „Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle …“), ist letzteres wahrscheinlich. Hier soll also „ein Glaube gerügt werden, der sich nur an auffällige, äußerlich sichtbare Wunder hält (vgl. 2,23; 6,2.14).“ (Schnackenburg I, 498).
(49) Trotz dieser abweisenden Reaktion gibt der königliche Beamte nicht auf (ähnlich die Reaktion Marias, die den Dienern ungeachtet der Antwort Jesu befielt, Jesu Anweisungen zu folgen, 2,5). Vielmehr formuliert er seine Bitte nur noch dringlicher: „Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!“
(50) Daraufhin befielt Jesus ihm, nach Kapernaum zurückzukehren und begründet diese Anweisung mit dem Satz: „… dein Sohn lebt“ (vgl. 1 Kön 17,23: „Und Elia nahm das Kind und brachte es hinab vom Obergemach ins Haus und agab es seiner Mutter und sprach: Siehe, dein Sohn lebt!“).
„Die Heilung ist an keine klar identifizierbare wundertätige Handlung am Kind gebunden (trotz der Bitte des Vaters, geht Jesus nicht zum Kranken!). Es handelt sich um ein schlichtes, in Abwesenheit des Kindes ausgesprochenes Erhörungswort. Dadurch wird der Vater in radikaler Weise mit der in V.48 aufgeworfenen Glaubensfrage konfrontiert: Ohne irgendetwas von einem Wunder zu Gesicht zu bekommen, wird er von die Entscheidung gestellt. Wird er dem, den er als Herr angerufen hat, sein Vertrauen schenken oder wird er ein sichtbares Zeichen verlangen?“ (Zumstein, 202).
Und tatsächlich: „Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin.“ „Der königliche Beamte ist das Paradigma des Glaubens (Antithese zu V.48), da er glaubt, ohne zu sehen. Er glaubt, indem er sich allein auf das Wort Jesu verlässt (…). Dieses Vertrauen wird durch sein Verhalten bestätigt: Er gehorcht dem Befehl Jesu (…) und macht sich sogleich auf (…).“ (Zumstein, 202).
„Die Bedeutung der Erzählung liegt darin, dass sie Aufschluss über die rechte Art des Glaubens gibt. Dem durch Zeichen und Wunder erweckten und sich auf sie gründenden Glauben steht der Glaube gegenüber, der sich an das Wort Jesu hält. Das ist ein Glaube, der keines sichtbaren Anlasses bedarf und für den das Wunder höchsten die Bestätigung des im Gehorsam vollzogenen Glaubensaktes ist.“ (Scheider, 122; zum Glauben aufgrund des Wortes Jesu vgl. auch 4,41-42: „(41) Und noch viel mehr glaubten um seines Wortes willen. (42) Und sie sprachen zu der Frau: Nun glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.“).
(51-53) Die nun folgenden Ausführungen dienen vor allem der Feststellung des Wunders. Noch während der königliche Beamte auf der Rückreise ist, wird er von ihm entgegen reisenden Knechten über die Genesung seines Sohnes informiert. Da die Knechte nichts von der Begegnung ihres Herrn mit Jesus wissen, sind sie quasi neutrale Zeugen des Heilungswunders. Nachdem er sich auch noch nach der genauen Uhrzeit seiner Heilung erkundigt hat, ist jede andere Erklärungsmöglichkeit ausgeschlossen. Exakt in dem Augenblick, als Jesus die Worte „dein Sohn lebt“ gesprochen hat, ist sein Sohn gesund geworden.
Die zusammenfassende Schlussbemerkung des Wunderberichts stellt fest, dass der königliche Beamte „mit seinem ganzen Hause“ (vgl. Apg 10,2; 11,14; 16,31-34; 18,8) an Jesus glaubt.
(54) Es folgt ein Kommentar des Evangelisten: „Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.“ Hier ist in einem positiven Sinn von „Zeichen“ die Rede (vgl. zu 2,11). Das „erste Zeichen“ ist natürlich das Weinwunder in Kana (2,11: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.“).
Unklar ist, warum die Zählung der Zeichen hier endet – obwohl im weiteren Verlauf des Johannesevangeliums noch von weiteren „Zeichen“ die Rede ist. Am sinnvollsten erscheint die Erklärung, dass sich die Zählung nur auf die Wunder in Kana bzw. das erste öffentliche Auftreten Jesu bezieht:
„Die Zählung stammt vom Evangelisten Johannes. Er erzählt die beiden Wunder in Kana, um sie so als Anfangs- und Endpunkt des ersten öffentlichen Auftretens Jesu hervorzuheben … Zudem kann die Zählung der Kana-Wunder als kompositorisches Mittel … verstanden werden, um die beiden Wunder Jesu in Kana am Beginn und am Ende seines öffentlichen Auftretens herauszustellen.“ (Schnelle, 137).
„Dem Leser wird die thematische Nähe zwischen dem ersten und dem zweiten Zeichen von Kana nicht entgehen. In beiden Erzählungen steht im Mittelpunkt der Glaube; in beiden Fällen geht es darum, im Handeln des joh Jesus ein Zeichen zu erkennen, das auf das eigentliche Wunder der Offenbarung hinweist. Beim ersten Zeichen – Wein in Fülle – bestand die Pointe darin, im Kommen des joh Jesus die Offenbarung der ‚Herrlichkeit‘ zu erkennen. Bei der Heilung des Sohnes des königlichen Beamten konkretisiert sich diese Offenbarung der Herrlichkeit als Geschenk des Lebens.“ (Zumstein, 204).
Zusammenfassung:
Wahrer Glaube richtet sich nicht auf Spektakuläres und Sichtbares,
sondern auf das Wort Jesu Christi und vertraut ihm ohne Vorbehalte.