Einleitung in die Offenbarung des Johannes
1 Vorbemerkungen zu einem
besonderen Buch der Bibel
Die Offenbarung des Johannes ist vermutlich das umstrittenste Buch des Neuen Testaments.
Manche sind von ihren Bildern und Visionen geradezu fasziniert. Uriah Smith, der die adventistische Auslegung der Offenbarung des Johannes wie kein anderer geprägt hat, schrieb in seiner Einleitung:
„Kein anderes Buch führt uns so plötzlich und so
unwiderstehlich in eine andere Sphäre. Lang ausgedehnte Fernsichten eröffnen
sich den Augen; Gebilde, welche von keinen irdischen Gegenständen beschränkt
werden, sondern uns vorwärts in andere Welten führen. Und wenn je Dinge von
einem durchschauernden, eindrucksvollen Interesse, Bildwerke von großem und
erhabenem Charakter und der edelsten und prächtigsten Beschreibung, die
Aufmerksamkeit der Menschheit fesseln können, so thut
dies die Offenbarung …“ (Uriah Smith, Gedanken über Daniel und die Offenbarung,
Mountain View o.J., 338)
Für andere ist gerade diese Bilderflut der Hauptgrund, dieses Buch der Bibel kritisch zu sehen. So bemerkte Martin Luther in seiner „Vorrede zur Offenbarung des Johannes“ (1522):
„Mir mangelt an diesem Buch verschiedenes, so dass ichs weder für apostolisch noch für prophetisch halte: aufs
erste und allermeiste, dass die Apostel nicht mit Gesichten
umgehen, sondern mit klaren und dürren Worten weissagen, wie es Petrus, Paulus,
Christus im Evangelium auch tun. Denn es gebührt auch dem apostolischen Amt,
klar und verständlich und ohne Bild oder Gesicht von Christus und seinem Tun zu
reden. Auch gibt es keinen Propheten im Alten Testament, geschweige denn im
Neuen, der so ganz durch und durch mit Gesichten und
Bildern umgehe, dass ich (die Offenbarung Johannes) bei mir fast dem vierten
Buch Esra gleich achte und in allen Dingen nicht spüren kann, dass es von dem
heiligen Geist verfasst sei.“ (Luther Deutsch [LD] V, 65).
Johannes Calvin, der andere große Reformator, hat zu allen Büchern des Neuen Testaments einen Kommentar verfasst – nur nicht zur Offenbarung des Johannes. Demgegenüber hat man sich in Randgruppen des Christentums umso intensiver mit ihr beschäftigt. Neue Aufmerksamkeit erlangte die Offenbarung des Johannes ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, als im Zusammenhang mit der atomaren Hochrüstung und dem erwachenden ökologischen Bewusstsein plötzlich vom drohenden Weltuntergang die Rede war und das Wort „Apokalypse“ im alltäglichen Sprachgebrauch auftauchte.
Nun wird die Offenbarung des Johannes nicht nur unterschiedlich bewertet. Hinzu kommt, dass es wohl zu keinem Buch der Bibel so unterschiedliche Auslegungen gibt. Es ist nahezu unmöglich, den Überblick zu gewinnen. Trotzdem ist es sinnvoll, dass alle, die sich mit der Offenbarung des Johannes befassen, einen kurzen Blick auf die verschiedenen Auslegungen werfen – auch deshalb, weil das Wissen um die Vielfalt der Interpretationen dazu nötig, noch genauer auf den Bibeltext zu schauen und zu fragen, welche Auslegungen und Auslegungsmethoden ihm angemessen sind.
Die vorliegende Veröffentlichung weist bewusst auf verschiedene Deutungen und Deutungsmethoden hin – nicht um zu verwirren, sondern um dem Leser Material an die Hand zu geben, um zu einer eigenen begründeten Position zu finden. Deshalb informiert sie über die wichtigsten Deutungsversuche und Auslegungsmethoden. Dabei wird auf Ergebnisse der Bibelwissenschaft, auf „evangelikale“ Auslegungen und auf „klassische“ und „neuere“ adventistische Auslegungen hingewiesen – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit (vgl. „5 Literaturhinweise“ am Ende der Einleitung). Damit es dabei nicht zu unübersichtlich wird und der rote Faden sichtbar bleibt, geschieht dies zum großen Teil im „Kleingedruckten“.
2 Verfasser
und Abfassungsort
Die Offenbarung nennt Johannes als Verfasser und die Insel Patmos als den Ort der Abfassung (1,1.4.9; 22,8).
Welcher Johannes ist gemeint? Es scheint naheliegend, dabei an den Apostel Johannes zu denken. Diese Auffassung wird auch von einer Reihe außerbiblischer Quellen unterstützt:
„Ferner hat es einer, der in unserer Mitte war,
Johannes hieß und zu den Aposteln Christi gehörte, in einer Offenbarung
prophezeit: Die, welche an unseren Christus glauben, werden in Jerusalem
tausend Jahre verbringen, und dann wird für alle ohne Ausnahme die allgemeine,
die sogenannte ewige Auferstehung und das allgemeine, das sogenannte ewige
Gericht folgen.“ (Justin, Dialog mit Tryphon, 81).
Johannes, der Schüler des Herrn, schaut in der
Apokalypse die priesterliche und herrliche Ankunft seines Reiches. Er sagt:
„Ich wandte mich um, um die Stimme zu sehen, die mit mir sprach, und alsdann
sah ich sieben goldene Kandelaber und zwischen den Kandelabern einen, der
ähnlich war dem Menschensohne, angetan mit langem Gewande und umgürtet an den
Brüsten mit goldenem Gürtel.“ (Irenäus, Gegen die Häresien, IV, 20,11).
„Er [Domitian]
war … der zweite, welcher eine Verfolgung gegen uns angeordnet hatte …
Damals soll der Apostel und Evangelist Johannes noch am Leben gewesen und wegen
seines Eintretens für das göttliche Wort auf die Insel Patmos verbannt worden
sein …“ (Eusebius, Kirchengeschichte, III, 17f).
Eusebius (260/64-339/40) verweist in seiner Kirchengeschichte, der ersten zusammenhängenden Darstellung der Geschichte des Christentums von der Geburt Jesu bis zur Zeit Kaiser Konstantins, jedoch auf eine alte Quelle. Sie nennt nicht den Apostel Johannes, sondern einen Presbyter mit gleichem Namen als Verfasser der Offenbarung:
„Indes erklärt Papias selbst
in der Einleitung zu seiner Schrift, er habe die heiligen Apostel nicht gehört
und nicht gesehen. Er bemerkt, dass er
die Glaubenslehre von solchen empfangen habe, die den Aposteln nahegestanden
seien. Er sagt: „… Kam einer, der den Älteren gefolgt war, dann erkundigte ich
mich nach den Lehren der Älteren und fragte: ‚Was sagte Andreas, was Petrus,
was Philippus, was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder Matthäus oder
irgendein anderer von den Jüngern des Herrn, was dann ja auch Aristion und der Presbyter Johannes, ebenfalls Jünger des
Herrn sagen‘ …
An diesen Worten ist beachtenswert, dass Papias zweimal den Namen Johannes aufzählt. Das erste Mal
zählt er Johannes zu Petrus, Jakobus, Matthäus und den übrigen Aposteln; er
meint also offenbar den Evangelisten. Das zweite Mal, in einem neuen Satze,
rechnet er Johannes zu einer anderen Kategorie, welche von der der Apostel
verschieden ist; er stellt ihm den Aristion voran und
bezeichnet ihn ausdrücklich als Presbyter. Damit bewahrheitet sich also der
Bericht, dass in Asien zwei Jünger den gleichen Namen gehabt hätten, und dass
in Ephesus zwei Grabmäler errichtet worden wären, von denen noch jetzt jedes
den Namen Johannes trüge. Dies ist wohl zu beachten. Denn es ist
wahrscheinlich, dass, sofern man nicht an den ersteren Johannes denken will,
der zweite die unter dem Namen des Johannes gehende Offenbarung geschaut hat.“ (Eusebius,
Kirchengeschichte, III, 39, 2ff.).
Die Auffassung, dass der Apostel Johannes die Offenbarung geschrieben hat, wird heutzutage eigentlich nur noch von evangelikalen (Maier I, 18-25; Pohl, 29f.) oder adventistischen Bibelauslegern vertreten.
In der Bibelwissenschaft wird dagegen i.d.R. betont, dass wir „über die Herkunft und Geschichte unseres Verfasser … im Unklaren sind“ und er „mit einem sonst im Neuen Testament Genannten … kaum zu identifizieren“ ist (Holtz, 7). Es könnte lediglich gesagt werden, „dass der Verfasser der Apk [Apokalypse = Offenbarung des Johannes] ein den Gemeinden Kleinasiens wohlvertrauter Johannes ist, der sich seine Autorität nicht von irgendwoher leihen muss, sondern dem sie selbstverständlich entgegengebracht wird“ (Lichtenberger, 48).
3 Abfassungszeit und
zeitgeschichtlicher Kontext
Die meisten Bibelausleger gehen davon aus, dass die Offenbarung des Johannes während der Regierungszeit Domitians (81-96 n. Chr.) geschrieben wurde. Das wird durch Eusebius unterstützt (s.o.) und auch durch einen Hinweis von Irenäus:
„Doch wollen wir uns nicht in Gefahr
begeben und den Anschein erwecken, als ob wir über den Namen des Antichrists etwas Bestimmtes wüssten. Läge nämlich für die
Verkündigung desselben im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Notwendigkeit vor, dann
wäre er gewiss durch den gemeldet worden, der die Apokalypse geschaut hat. Das
ist aber vor gar nicht langer Zeit geschehen, sondern soeben erst am Ende der
Regierung des Domitian.“ (Irenäus, Gegen
die Häresien, V, 30, 3).
Die Situation der Christen unter Kaiser Domitian kann durch folgende Eckpunkte skizziert werden:
· Kaiser Domitian ließ sich wie kein Kaiser vor ihm als Gott verehren.
· Kleinasien war ein Zentrum des Kaiserkults. Es wurden Tempel errichtet, in denen der Kaiser angebetet wurde.
· Die Juden waren von der Teilnahme am Kaiserkult befreit. Solange die Christen als „jüdische Sekte“ angesehen wurden, konnten auch sie von dieser Regelung profitieren. Als sie jedoch als eigenständige Religion in Erscheinung traten, entfiel dieser Schutz. Daraufhin gerieten alle Christen, die nicht am Kaiserkult teilnahmen, in Schwierigkeiten.
Die „Wuppertaler Studienbibel“ bietet dazu eine gute Zusammenfassung:
„Domitian war …der
erste Kaiser, der seit 86 in aller Form und allgemein beanspruchte, was Gottes
ist (Mt 22,21), also die göttliche Verehrung seiner
Person. Damit aber wurde das Christentum wegen seiner strengen Bindung an das
erste Gebot zwangsläufig eine als staatsfeindlich verbotene Religion. Die
Voraussetzung für die großen Verfolgungen in den nächsten beiden Jahrhunderten
war damit gegeben …
Erschreckend ist … das Maß der
Vergottung, die der Kaiser für sich in Anspruch nahm. Im Jahre 86 n. Chr. ließ
er sich als erster römischer Kaiser
amtlich „Gott der Herr“ nennen. Sein Palast galt als Heiligtum, sein
Thron als Göttersitz. Während seiner Abwesenheit musste sogar seinem leeren
Thronsitz Reverenz erwiesen werden. Zu den kaiserlichen Festen hatte alles in
Weiß zu erscheinen. Wenn er auftrat, eine goldene Krone auf dem Haupt, tobten
die Massen und brachen in Kaiserakklamationen aus. Das Stimmengewirr ging in
rhythmische Sprechchöre über. Hofdichter sorgten für schmeichlerische Texte: ‚Siehe,
das ist Gott, da ist er, vom Vater im Himmel, eingesetzt mit der Vollmacht, auf
glücklicher Erde zu herrschen!‘ Selbst Tiere nahmen an
der Huldigung teil. Dressierte Papageien riefen: „Ave Caesar!“ Kaiserliche
Sendschreiben begannen: ‚Der Herr unser Gott befiehlt‘, und die Bluturteile:
‚Es hat dem Herrn unserem Gott in seiner Gnade gefallen …‘ (…).
Solange die Behörden die christlichen
Gemeinden … für eine jüdische Sekte hielten, fielen diese nicht unter das
allgemeine Verbot, neue Gemeinschaften im römischen Reich zu gründen. Denn den
jüdischen Synagogen war eine Ausnahme zugestanden. Bisher konnten sich überall
vom Staat unangefochten christliche Gemeinden sammeln; sobald aber die Christen
Streit mit den Juden bekamen, drohte Streit mit dem Staat. Diese Lage trat nun
immer deutlicher ein. Domitian begriff im Christentum eine eigene, das Judentum
an Bedeutung übertreffende weltweite Bewegung und hielt es für eine Bewegung
gegen die Staatsräson, nämlich gegen den Kaiserkult. So eröffnete er den förmlichen
Feldzug des römischen Staates gegen das Christentum …
Die Städte der Provinz [Asien]
wetteiferten, welche von ihnen mit gnädigster Erlaubnis des römischen Senats
einen Tempel zu Ehren Roms und des Kaisers errichten durfte. Pergamon erhielt
das Vorrecht schon unter Augustus (30 v. Chr.
– 14. n. Chr.), Smyrna unter Tiberius (14 – 37 n. Chr.), Ephesus unter
Claudius (41 – 54 n. Chr.). Mit dem neuen Kult waren regelmäßige, prunkvolle
Feierlichkeiten verbunden, die als wirtschaftlicher Faktor nicht zu unterschätzen
waren.
Dann kam Domitian (81-96 n. Chr.),
und Ephesus lief allen Städten den Rang ab. Bald trug es den Ehrennahmen
‚kaiserliche Stadt, kaiserliche Tempelhüterin‘ – Es bekam ein Kolossalbild des
Kaisers von vierfacher Lebensgröße. Dem ‚göttlichen Alleinherrscher und
erlauchten Kaiser Domitian‘ wurden Altäre errichtet.
Österreichische Forscher haben Teile
des zerschlagenen Gnadenbildes, des Tempels, des Hauptaltars und riesige
Kandelaber [Kerzenständer], die bei den Kultfesten ihr Licht spendeten, ausgegraben.
Mit der Eröffnung eines Kaisertempels in einer Stadt zog … auch eine
kaiserliche Priesterschaft ein. Ihr Hoherpriester war
zugleich der politische Vertrauensmann Roms in der Provinz und ein guter
Aufpasser, ob sich die Staatstreue der Untertanen auch in eifriger Teilnahme am
Kaiserkult beweise. Diese Priesterschaften taten sich nachweislich und
verständlicherweise bei den Christenverfolgungen besonders hervor.“ (Pohl, 22-27).
4 Grundsätzliche Überlegungen
zur Auslegung der Offenbarung
Grundproblem aller Bibelauslegung ist der „garstige Graben der Geschichte“ (Lessing). Die biblischen Schriften sind in einer bestimmen Situation entstanden, in die wir uns hineinversetzen müssen, wenn wir verstehen wollen, was sich der Autor und die ersten Leser gedacht haben. Und wir müssen darauf achten, dass wir unsere heutigen Fragen und Ideen nicht in den alten Text „hineinlesen“.
Das gilt in besonderer Weise bei der Offenbarung des Johannes. Unsere Väter und Mütter im Glauben haben dieses Buch ganz unterschiedlich verstanden – vor allem deshalb, weil sie es direkt auf ihre Zeit bezogen haben. Das ist verständlich. Gleichzeitig fragen wir uns, wie wir verhindern können, den bisherigen Auslegungen nur noch eine weitere Auslegung dieser Art hinzuzufügen, die sich dann über kurz oder lang auch als überholt herausstellt.
Der Neutestamentler Philipp Vielhauer hat die Auslegungsgeschichte der Johannesoffenbarung daher nicht ohne Grund folgendermaßen kommentiert:
„Als der aktuelle Anlass ihrer Entstehung vergangen
war, wurde auch die Absicht der Apk nicht mehr
verstanden. Aus der konkreten zeitgeschichtlichen Bezogenheit gelöst, wurde sie
selbst zu einem ‚Buch mit sieben Siegeln‘, das für die einen suspekt und verwerflich
war, für die anderen aber zu einem unerschöpflichen Arsenal apokalyptischer
Spekulationen wurde.“ (Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen
Literatur, Berlin 1981, 507).
Wie können wir verhindern, dass die Offenbarung des Johannes zu einem „unerschöpflichen Arsenal apokalyptischer Spekulationen“ wird? Was können wir tun, damit wir sie so verstehen, wie sie selbst verstanden werden möchte?
Zunächst kommt es, wie bei jedem
anderen Buch der Bibel, darauf an, die Aussagen der Johannesoffenbarung im
Zusammenhang dieses Buches zu verstehen. Anschließend sind Parallelen aus
anderen biblischen Schriften heranzuziehen. Schließlich lohnt sich auch der
Blick in die Umwelt des Neuen Testaments, um zu prüfen, ob andere Quellen etwas
zur Erhellung des biblischen Textes beitragen können (so auch Paulien,
Offenbarung verstehen, 139).
Darüber hinaus stellen sich bei der Auslegung der Offenbarung des Johannes zusätzliche methodische Probleme. Dazu gehört vor allem die Vielzahl von Symbolen und Bildern, die nicht unmittelbar verständlich sind. Wollen wir Spekulationen vermeiden, haben wir natürlich zu fragen, wie die ersten Leser sie verstanden haben, wie auch der adventistische Bibelausleger Ranko Stefanovic betont.
„Revelation 1:3 indicates that the symbolic language of Revelation was intended to be heard with understanding by the Christians of John’s day. It thus appears that the first-century Christians hat relatively little difficulty understanding the symbols of the book for it was the language of their time. In order to derive a meaningful interpretation from the book, it is necessary to determine, as much as we can, how the original recipients would have understood those symbols and images.” Stefanovic, 17)
Unter den Auslegern gibt es auch unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Aussagen nun wörtlich und welche in einem übertragenen Sinn zu verstehen sind. Als Beispiel mag das dritte Siegel (6,5-6) dienen, in dem eine Stimme verkündet: „Ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für einen Denar …!“ Geht es hier um Preise für Lebensmittel? Oder ist etwas ganz anderes gemeint? Bei solchen Stellen ist es sinnvoll, ohne eine Vorentscheidung an den Text herangehen – also etwa der Idee, dass die Texte vor allem in einem „übertragenen“ oder vor allem in einem „buchstäblichen“ Sinn zu verstehen sind. Besser ist es, bei der Auslegung eines Textes konkret zu fragen, ob an dieser Stelle ein wörtliches oder symbolisches Verständnis angemessen ist.
Anders E. Müller, 44: „Bei anderen biblischen Texten geht man von dem Prinzip aus, etwas so lange für wörtlich zu nehmen, wie es Sinn macht; erst wenn es sinnlos wird, müsse man an eine übertragene Bedeutung denken. Bei der Offenbarung ist offenbar das Umgekehrte der Fall: In der Apokalypse ist das symbolische Verständnis vorherrschend.“
Schließlich wird die Auslegung der Offenbarung dadurch erschwert, dass unter den Bibelauslegern keine Einigkeit darüber besteht, auf welche Zeit sich die Schilderungen der Offenbarung beziehen. Dabei kann zwischen vier verschiedenen Richtungen unterschieden werden, die Manfred Böttcher so skizziert hat:
„Da ist zunächst die zeitgeschichtliche Deutung. Man geht davon aus, dass dieses Buch
für das letzte Jahrzehnt des ersten christlichen Jahrhunderts geschrieben
wurde. Die Bilder und Symbole werden auf geschichtliche Ereignisse jener Zeit
gedeutet. So meint man zum Beispiel in dem Tier (Offb.13,1ff.)
Kaiser Nero zu erkennen …
Heute begegnet man häufig der endzeitlichen oder futuristischen Deutung. Der nachweislich erste
Vertreter dieser Auslegung war der spanische Jesuit Francisco Ribera (1537 -
1591). Nach seiner Auffassung bezieht sich die Offenbarung hauptsächlich auf
die allerletzte Zeit der Kirche und der Welt und hat deshalb in ihren
entscheidenden Aussagen bis heute noch keine Erfüllung gefunden.
Die traditions-
oder religionsgeschichtliche Deutung ist die jüngste Form der Auslegung.
Sie behauptet, dass die Visionen, Bilder, Gestalten und Geschehnisse der
Apokalypse auf mythologischen Vorlagen beruhen.
Schließlich gibt es noch die welt- und kirchengeschichtliche Deutung … Diese Auslegung besagt,
dass die Offenbarung wirkliche Ereignisse schildert, die in unsere Zeit
hineinreichen.“ (Manfred Böttcher, Schlüssel zur Bibel, Lüneburg 2002, 12-14.
Hervorhebungen von M. M.)
Diese durchaus richtige Übersicht erweckt den Eindruck, dass die Auslegung der Offenbarung des Johannes vor allem von einer Vorentscheidung abhängt. Sie möchte den Bibelausleger von vornherein für eine bestimmte Sicht gewinnen (hier: die welt- und kirchengeschichtliche Deutung) – also die traditionelle adventistische Deutung. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Bibeltext zu schnell in eine bestimmte Richtung interpretiert wird und selbst gar nicht mehr zu Wort kommt.
Neuere adventistische Auslegungen geben der
zeitgeschichtlichen Deutung allerdings selbst einen größeren Raum. Vgl. Paulien,
Offenbarung verstehen: „Die Referenzzeit für die Offenbarung ist ohne Zweifel
das Ende des ersten Jahrhunderts.“ (81). „Die Offenbarung wurde in Kleinasien
am Ende des ersten Jahrhunderts geschrieben und wird am besten verstanden, wenn
wir sie auch aus dieser Perspektive lesen und studieren.“ (123f.)
Um das zu verhindern hat Stefanovic Folgendes vorgeschlagen:
Ein guter Kommentar zur Offenbarung begünstigt keinen
bestimmten der traditionellen Ansätze [does not favor any particular
one of the
traditionel approaches] …
Dieser Kommentar empfiehlt stattdessen eine Vorgehensweise, die den Text die
Interpretation bestimmen lässt … Wenn die Botschaft des studierten Textes vor
allem für die Zeit des Johannes bestimmt ist, dann verlangt das nach dem präteristischen
[gemeint ist die zeitgeschichtliche Deutung] oder idealistischen Zugang. Andererseits: Wenn er die allerletzte Zeit
beschreibt, ruft seine Interpretation nach einem futuristischen Zugang. Wenn der studierte Text Ereignisse aus dem
Lauf der Geschichte schildert, verlangt eine gute Interpretation nach einem historistischen Zugang [gemeint ist die welt- und kirchengeschichtliche
Deutung]. Überzeugende Hinweise müssen aufzeigen, dass die Szenen und Symbole
im Text auf Ereignisse der ganzen Geschichte weisen, anstatt auf die Geschichte
in den Tagen des Johannes oder am Ende der Zeiten.“ (Stefanovic, 11f., Übersetzung
und Hervorhebungen von M.M.).
Ähnlich hat sich Paulien
geäußert:
„Meine Auffassung ist: Wir
sollten die Offenbarung unvoreingenommen lesen und keine Schablonen benutzen.
Am besten schauen wir uns Kapitel für Kapitel an und fragen uns: Welcher Ansatz
wird diesem Text am ehesten gerecht? Geht es um (für uns) Vergangenes,
Gegenwärtiges oder Zukünftiges? Wir müssen ein Gespür dafür entwickeln, was der
Text eigentlich sagen will; er enthält die nötigen Hinweise dafür. Nur der Text
der Offenbarung selbst sollte uns leiten. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht
unsere eigenen Vorstellungen in sie hineinlesen, sondern uns vom Text und
Kontext selbst zeigen lassen, wie wir ihn verstehen sollen.“ (Paulien, Offenbarung verstehen, 128f.)
So wichtig die Frage ist, auf welche geschichtlichen Ereignisse sich die Schilderungen der Offenbarung beziehen, so entscheidend ist andererseits die Frage, was die Offenbarung zu diesen Ereignissen zu sagen hat. Die Offenbarung ist kein Geschichtsbuch – auch nicht in dem Sinne, dass die zukünftige Geschichte einfach nur erzählt. Es geht um einen Kommentierung und Deutung der Geschichte aus „himmlischer Perspektive“. Deshalb hat Pöhler folgende Schritte der Auslegung vorgeschlagen:
„Daraus ergibt sich für die
Auslegung apokalyptischer Texte ein methodisches Vorgehen in drei Schritten:
Zunächst sind die Texte wie alle biblischen Bücher in ihrem historischen und
literarischen Kontext zu analysieren (historische Exegese). Anschließend ist
nach ihrem bleibenden Aussagegehalt der zeitübergreifenden Botschaft zu fragen
(theologische Interpretation). Schließlich kann nach historischen
Entsprechungen und situativen Anwendungen Ausschau gehalten werden, in denen
sich die apokalyptischen Bilder widerspiegeln (konkrete Applikation). Damit
wird ein willkürlicher und unkontrollierter Umgang mit dem Text vermieden, bei
dem die Visionen ohne vorherige exegetische und theologische Analyse assoziativ
auf geschichtliche Situationen und aktuelle Zeitereignisse angewandt und diese
als angebliche Erfüllung der Weissagungen verstanden werden.
Die nun folgende Auslegung will den Leser der Offenbarung einladen, sich intensiv dem biblischen Text selbst zuzuwenden – und ihn nicht durch die Brille von Vorurteilen wahrzunehmen. Im Mittelpunkt steht dabei die historische Exegese. Die Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Textabschnitte wollen – auf der Grundlage der historischen Exegese – den theologischen Gehalt herausarbeiten und geben so den „konkreten Applikationen“ die Richtung vor. Die „konkreten Applikationen“ selbst gehören m.E. in den Bereich der Predigt.
5 Literaturhinweise
Folgende Kommentare wurden bei der Erarbeitung bevorzugt herangezogen und werden im Rahmen der Auslegung häufiger zitiert:
5.1 Wissenschaftliche
Kommentare/Monographien
Behm, Johannes. Die Offenbarung des Johannes. Das Neue Testament Deutsch. Bd. 3. Göttingen, 1935. (zit. als Behm)
Berger, Klaus. Die Apokalypse des Johannes. 2 Bände. Freiburg, 2017. (zit. als Berger)
Ellul, Jacques. Apokalypse. Die Offenbarung des Johannes – Enthüllung der Wirklichkeit. Neukirchen-Vluyn, 1981 (zit. als Ellul)
Holtz, Traugott. Die Offenbarung des Johannes. Das Neue Testament Deutsch. Tb. 11. Göttingen, 2008. (zit. als Holtz)
Karrer, Martin. Johannesoffenbarung. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Ostfildern, Göttingen, 2017 (zit. als Karrer)
Lichtenberger, Hermann. Die Apokalypse. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Bd. 23. Stuttgart 2014. (zit. als Lichtenberger)
Müller, Ulrich B. Die Offenbarung des Johannes. Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament. Gütersloh, 1984. (zit. als U. Müller)
Roloff, Jürgen. Die Offenbarung des Johannes. Zürcher Bibelkommentare. NT 18. Zürich, 1984. (zit. als Roloff)
Satake, Akira. Die Offenbarung des Johannes. Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Bd. 16. Göttingen, 2008. (zit. als Satake)
Tóth, Franz. Der himmlische Kult. Leipzig, 2006. (zit. als Tóth, Kult)
Tóth, Franz. Das Tier, sein Bild und der falsche Prophet. Neukirchen-Vluyn, 2012. (zit. als Tóth, Tier)
Wengst, Klaus. „Wie lange noch?“. Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes. Stuttgart, 2010. (zit. als Wengst)
5.2 „Evangelikale“ Auslegungen
Maier, Gerhard. Die Offenbarung des Johannes. Historisch-theologische Auslegung. 2 Bände. Witten 2009 u. 2012. (zit. als Maier)
Pohl, Adolf. Die Offenbarung des Johannes. Wuppertaler Studienbibel. Wuppertal und Zürich, 1989. (zit. als Pohl)
5.3 Adventistische
„Klassiker“
Böttcher, Manfred. Weg und Ziel der Gemeinde Jesu. Hamburg, 1981. (zit. als Böttcher)
Nichol, Francis D. (Ed.). The Seventh-day Adventist Bible Commentary (ABC). Vol.7. Washington, Hagerstown, 1957. (zit. als ABC)
Smith, Uriah.
Gedanken über Daniel und die Offenbarung. Mountain View, o. J.
(zit. als Smith)
5.4 Neuere
Werke adventistischer Verfasser
Das Buch Offenbarung. Lüneburg, 2005. (Verfasser: Michael Makowski). (zit. als Makowski)
Internationales Bibelstudien-Institut (Hg.). Die Offenbarung Jesu Christi. Hamburg, o. J. (Verfasser: Siegfried Wittwer). (zit. als Wittwer)
Müller, Ekkehardt. Der Erste und der Letzte. Studien zum Buch der Offenbarung. St. Peter am Hart, 2011. (zit. als E. Müller)
Paulien, Jon. Der letzte Kampf. Offenbarung 12-14 erklärt. Lüneburg 2015 (zit. als Paulien, Kampf)
Paulien, Jon. Die Offenbarung verstehen. Leitlinie für die Auslegung. Lüneburg 2012 (zit. als Paulien, Offenbarung verstehen)
Stefanovic, Ranko. Revelation of Jesus Christ. Berrien Springs, 2002. (zit. als Stefanovic)
Tóth, Franz. Der himmlische Kult. Leipzig, 2006. (zit. als Tóth, Kult)
Tóth, Franz. Das Tier, sein Bild und der falsche Prophet. Neukirchen-Vluyn, 2012. (zit. als Tóth, Tier)
6 Bibelübersetzung
Bibeltexte werden i.d.R. nach der Elberfelder Bibel (EB) 2017 zitiert. Auf andere Übersetzungen wird ggf. ausdrücklich hingewiesen.
EÜ Einheitsübersetzung
LB Luther-Bibel (2017)
LXX-D Septuaginta Deutsch
NGÜ Neue Genfer Übersetzung
ZB Zürcher Bibel
SCHL Schlachter 2000