4 Die Sieben-Siegel-Visionen
(6,1-8,5)
In Kapitel 5 hat Gott „dem Lamm“ das Buch mit den „sieben Siegeln“ übergeben und den Gekreuzigten damit bevollmächtigt, seinen Gerichts- und Geschichtsplan in Gang zu setzen. Dementsprechend folgt nun die Öffnung der Siegel.
Kapitel 6 schildert die Öffnung der ersten sechs Siegel. Bevor in 8,1 das siebte Siegel geöffnet wird, geht es in einem Zwischenstück um das Schicksal der Gläubigen. Es besteht aus zwei Abschnitten: dem Bericht über die Versiegelung der 144.000 (7,1-8) und dem Bericht über die große Menge der Erlösten vor dem Thron Gottes (7,9-17).
4.1 Die
Öffnung der ersten sechs Siegel (6,1-17)
Innerhalb des Visionsberichts über die sechs Siegel kann noch einmal zwischen den ersten vier und den beiden folgenden Siegel unterschieden werden. Bei den ersten vier Siegeln wird Johannes jeweils von einer der „vier lebendigen Wesen“ (vgl. 4,6ff.) angesprochen. Außerdem taucht immer ein Pferd mit Reiter auf. Das Pferd hat jeweils eine andere Farbe.
In allen Siegeln finden wir Motive aus anderen biblischen Büchern. Parallelen zu den ersten vier Siegeln finden sich vor allem im Buch Sacharja, aber auch bei Hesekiel. Alle sechs Siegel zeigen Ähnlichkeiten zur Endzeitrede Jesu (Mk.13).
In Sach.1,8 ist von einem Reiter und vier Pferden die Rede: „Ich schaute des Nachts, und siehe, ein Mann, der auf einem roten Pferd ritt! Und er hielt zwischen den Myrten, die im Talgrund waren, und hinter ihm waren rote, hellrote und weiße Pferde.“ Sie sind von Gott ausgesandt, „auf Erden umherzuziehen“ und stellen fest: „Die ganze Erde sitzt still und verhält sich ruhig.“ Sach.6,1-8 spricht von vier Wagen mit roten, schwarzen, weißen und scheckigen Pferden. Es handelt sich dort wohl um Kriegswagen. In Hes.14,21 ist zwar nicht von Reitern und Pferden die Rede, aber es werden vier schwere Strafen angekündigt: „Denn so spricht der Herr, HERR: Ja, wenn ich nun meine vier bösen Gerichte, Schwert und Hunger und böse Tiere und die Pest, gegen Jerusalem entsende, um aus ihm Menschen und Vieh auszurotten!“
Die folgende Tabelle zeigt die Übereinstimmungen zwischen den sechs Siegeln und der Endzeitrede Jesu:
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Offenbarung 6 |
Markus 13 |
1 |
(2) Und ich sah: und siehe, ein weißes Pferd, und der darauf saß,
hatte einen Bogen; und ihm wurde ein Siegeskranz gegeben, und er zog aus,
siegend und um zu siegen. |
(7) Wenn ihr aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören werdet, so
erschreckt nicht! Es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. (8)
Denn es wird sich Nation gegen Nation und Königreich gegen Königreich erheben
… (10) und allen Nationen muss vorher das Evangelium gepredigt werden. |
2 |
(4) Und es zog aus ein anderes, ein feuerrotes Pferd; und dem, der
darauf saß, ihm wurde gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen und die
Menschen dahin zu bringen, dass sie einander schlachteten; und ihm wurde ein
großes Schwert gegeben. |
(7) Wenn ihr aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören werdet, so
erschreckt nicht! Es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende.(8) Denn
es wird sich Nation gegen Nation und Königreich gegen Königreich erheben … |
3 |
(6) Und ich hörte etwas wie eine Stimme inmitten der vier lebendigen
Wesen, die sagte: Ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für
einen Denar! Und dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu! |
(8) … es
werden Hungersnöte sein … |
4 |
(8) Und ich sah: und siehe, ein fahles Pferd, und der darauf saß,
dessen Name ist »Tod«; und der Hades folgte ihm. Und ihnen wurde Macht
gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit dem Schwert und mit
Hunger und mit Tod und durch die wilden Tiere der Erde. |
(8) … es
werden Hungersnöte sein … Lk.21,11: …
und an verschiedenen Orten Hungersnöte und Seuchen … |
5 |
(9) … sah ich unter dem Altar
die Seelen derer, die geschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und um
des Zeugnisses willen, das sie hatten. (10) Und sie riefen mit lauter Stimme
und sprachen: Bis wann, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest und
rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? (11) Und es
wurde ihnen einem jeden ein weißes Gewand gegeben; und es wurde ihnen gesagt,
dass sie noch eine kurze Zeit abwarten sollten, bis auch ihre Mitknechte und
ihre Brüder vollendet seien, die ebenso wie sie getötet werden sollten. |
(9) Ihr aber, seht auf euch selbst! Euch werden sie an Gerichte
überliefern, und in den Synagogen werdet ihr geschlagen werden, und ihr
werdet vor Statthalter und Könige gestellt werden um meinetwillen, ihnen zu
einem Zeugnis … (11) Und wenn sie euch hinführen, um euch zu überliefern, so
sorgt euch vorher nicht, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener
Stunde gegeben wird, das redet! Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der
Heilige Geist. (12) Und es wird der
Bruder den Bruder zum Tod überliefern und der Vater das Kind; und Kinder
werden sich gegen Eltern erheben und sie zu Tode bringen. (13) Und ihr werdet
von allen gehasst werden um meines Namens willen; wer aber ausharrt bis ans
Ende, der wird errettet werden. |
6 |
(12) … und es geschah ein großes Erdbeben; und die Sonne wurde
schwarz wie ein härener Sack , und der ganze Mond wurde wie Blut, (13) und
die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum, geschüttelt
von einem starken Wind, seine Feigen abwirft. (14) Und der Himmel schwand
dahin wie ein Buch, das zusammengerollt wird, und jeder Berg und jede Insel
wurden von ihren Stellen gerückt. (15) Und die Könige der Erde und die Großen
und die Obersten und die Reichen und die Mächtigen und jeder Sklave und Freie
verbargen sich in die Höhlen und in die Felsen der Berge; (16) und sie sagen
zu den Bergen und zu den Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem
Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! (17)
Denn gekommen ist der große Tag ihres Zorns. Und wer vermag zu bestehen? |
(24) Aber in jenen Tagen, nach jener Bedrängnis, wird die Sonne
verfinstert werden und der Mond seinen Schein nicht geben; (25) und die
Sterne werden vom Himmel herabfallen, und die Kräfte in den Himmeln werden
erschüttert werden.(26) Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen
sehen in Wolken mit großer Macht und Herrlichkeit.
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„Offensichtlich erinnern die sieben Siegel an diese
synoptische Apokalypse (…).“ (E. Müller, 173).
Nichts desto trotz haben adventistische Bibelausleger die Siegel traditionell auf bestimmte Abschnitte der Kirchengeschichte bezogen. Allerdings ist diese Auslegung nicht mehr selbstverständlich bzw. nicht mehr einheitlich.
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1. Siegel |
2. Siegel |
3. Siegel |
4. Siegel |
5. Siegel |
6. Siegel |
Smith |
Triumphe des Ev. im 1. Jh. (425) |
4. Jh.; Vereinigung von Kirche u. Staat, Abfall (426) |
4. Jh. – 538: geistige Finsternis und Verdorbenheit der Kirche (427) |
mittelalterliche Kirche, Verfolgung (430f.) |
Reformation (431ff.) |
Erdbeben v. Lissabon
1755; finsterer Tag 1780, Sternenfall
1833 (436ff.) |
Makowski |
Evangelisation (63) |
2.-4.. Jh.: Christenverfolgung (64) |
ab 4. Jh.: Staatskirche, Abfall (64f.) |
Kirche des Mittelalters (65f.) |
- |
Erdbeben
v. Lissabon 1755; finsterer Tag
1780, Sternenfall 1833, Tsunami
2004 (67f.) |
ABC |
Verkündigung des Ev. oder Krieg (776) |
Christenverfolgung vom 2.-4. Jh. oder Krieg (776) |
Staatskirche, Abfall ab 4. Jh. oder Hungersnot (777) |
Zusammenbruch der Zivilisation als Folge von 1-3,
evtl. Mittelalter (777) |
von Ref. - 1755: Ende der Verfolgung (778) |
Erdbeben v. Lissabon
1755; finsterer Tag 1780, Sternenfall
1833 (779) |
Böttcher |
Siegeszug des Ev. (112) |
Streit innerhalb der Christen, unduldsame Staatskirche
(115f.) |
mittelalterliche Kirche, geistliche Hungersnot
(117ff.) |
Verfolgung durch die Kirche des Mittelalters (119f.) |
Reformation (121ff.) |
Erdbeben v. Lissabon
1755; finsterer Tag 1780, Sternenfall
1833 (124ff.) |
Wittwer |
Siegeszug des Ev. (46) |
Christen im Streit, unduldsame Staatskirche, Völkerwanderung,
Kriege der Muslime (115f.) |
Mittelalter: Abfall und Unterdrückung der Bibel (48ff.) |
Kreuzzüge und Verfolgung durch die Kirche des Mittelalters (50f.) |
Verfolgung – auch in der Reformationszeit (52f.) |
Erdbeben v. Lissabon
1755; finsterer Tag 1780, Sternenfall
1833, eigentl. Erfüllung in Zukunft (53ff.) |
Stefanovic |
Verbreitung des Ev. (227) |
Verfolgung (229ff.) – keine Zeitangabe |
geistliche Hungersnot (231ff.) – keine Zeitangabe |
Gottes
Zorn über die ungehorsame Menschheit (235) |
Märtyrertum – keine Zeitangabe (239ff.) |
Zeichen der Wiederkunft - Lissabon etc. nur als trad. Auslegung erwähnt
(242ff.) |
E. Müller |
Jesus, Verkündigung des Ev. (151) |
Christenverfolgung
ab 2. Jh. (158) |
geistl. Hungersnot
in der Staatskirche (152, 158) |
geistliche Pest, Abfall im Mittelalter (157f.) |
Von Ref. bis franz. Rev. u. Gericht vor der Wiederkunft (166) |
Naturka- tastrophen, Lissabon + 2. Erdbeben (166) |
Diese Deutung hängt mit der Frage zusammen, ob die sieben Gemeinden für sieben Abschnitte der Kirchengeschichte stehen und die sieben Siegel zeitlich parallel zu ihnen zu verstehen sind (Wittwer, 46). Wer diese beiden Fragen vorab positiv beantwortet, wird bei der Interpretation der Siegel vor allem danach fragen, wie die Aussagen auf charakteristische Kennzeichen eines bestimmten Zeitalters bezogen werden können. In diesem Zusammenhang spielt zugleich die Frage eine Rolle, ob die Aussagen buchstäblich oder symbolisch zu verstehen sind (E. Müller, 148). Schließlich eröffnet eine symbolische Deutung „mehr Spielraum“, um Bezüge zu historischen Ereignissen zu finden.
Auch hier ist es wichtig, dass Bibelausleger dem Text „ergebnisoffen“ begegnen – anstatt vorab zu entscheiden, in welchen Zeitraum sie bestimmte Aussagen einordnen wollen und ob diese symbolisch oder buchstäblich zu verstehen sind. Entscheidend müssen Hinweise aus dem jeweiligen Text sein.
Neben der Frage, was die einzelnen Siegel bedeuten, ist die Frage entscheidend, wie man es verstehen soll, dass diese Ereignisse in Verbindung mit der Öffnung der Siegel durch das „Lamm“ stehen. Bringt also das Lamm all dieses Unglück über die Welt?
Eine mögliche Klärung dieser Frage sind die folgenden Überlegungen von Jacques Ellul:
„Letztlich wird … dadurch bekräftigt, dass hinter allem Vordergründigen Jesus Christus selber der Herr über all diesen Ausbrüchen ist. Nicht allerdings der triumphierende, richtende Christus: vielmehr das gekreuzigte Lamm, der selber das volle Gericht vom jagenden Galopp der Pferde getragen hat, das zum Opfer der Gerechtigkeit und der Gier des Menschen wurde, und zugleich zum Opfer der geschichtlichen, militärischen und wirtschaftlichen Expansion einer der größten Kulturen. Dieses Lamm ist genaugenommen derjenige, der diese ganzen Plagen nicht ins Leben ruft, sondern sie enthüllt. In der Tat: Es war genau der Augenblick der Kreuzigung, in dem enthüllt wurde, was Macht, Gerechtigkeit, Herrschaft der Menschen heißt! Das die Siegel erbrechende Lamm vollzieht, indem es dies tut, nicht etwa den Schöpfungsakt, der die Pferde hervorbringt. Er eröffnet noch nicht einmal ihren Ritt über die Welt, es ermöglicht nicht ihr Handeln … Nein. Wir sagen ja, dass die Eröffnung der Siegel die Möglichkeit erschlossen hat, das Innere des Buches zu lesen, also den inneren Sinn der Geschichte zu erkennen. Das Lamm enthüllt, es offenbart, was es mit unserer Geschichte auf sich hat, welches ihre bestimmenden Kräfte sind – und diese Offenbarung hat sich in seinem eigenen Leben und Sterben vollzogen.“ (Ellul, 149).
Das erste Siegel
(1)
Und ich sah, als das Lamm eines von den sieben Siegeln öffnete, und hörte eines
von den vier lebendigen Wesen wie mit einer Donnerstimme sagen: Komm! (2) Und
ich sah: Und siehe, ein weißes Pferd, und der darauf saß, hatte einen Bogen;
und ihm wurde ein Siegeskranz gegeben, und er zog aus, siegend und um zu
siegen.
(1f.) Die erste Gestalt spricht Johannes mit einer „Donnerstimme“ an (vgl. 14,2; 19,6). Anschließend wird ihm ein weißes Pferd gezeigt, auf dem ein Reiter mit einem „Bogen“ sitzt. Ihm wird ein „Siegeskranz“ gegeben. Außerdem wird berichtet, dass er „siegend“ auszog „und um zu siegen“.
Das erste Siegel wird entweder auf Christus, auf die Verkündigung des Evangeliums oder auf kriegerische Eroberungen gedeutet. Will man eine willkürliche Bibelauslegung vermeiden, ist zuerst danach zu fragen, in welche Richtung die einzelnen Angaben deuten.
In 19,11-16 wird Johannes gezeigt, dass Christus bei seiner Wiederkunft auf einem weißen Pferd sitzt. Handelt es sich daher bei dem im ersten Siegel geschilderten Reiter auf dem weißen Pferd ebenfalls um Jesus? Das ist möglich. Denkbar ist aber auch, dass die Figur aus 6,2 eine Gegenfigur zu 19,11 ist. Außerdem müssen die anderen Elemente der Beschreibung ebenfalls auf Christus passen.
Zur Ausstattung des Reiters gehört ein Bogen. Nach Hes.39,3 gehört der Bogen zur Ausrüstung einer gottfeindlichen Macht, die gegen das Volk Israel kämpft (Hes.38,1). Andererseits ist in Hab.3,8f. davon die Rede, dass Gott auf seinen Rossen reitet und seinen Bogen hervorzieht (vgl. Jes.41,2).
Auch das Symbol des Siegeskranzes ist nicht eindeutig. In 14,14 trägt Jesus einen Siegeskranz. Aber nach 9,7 gilt das ebenso für die in der fünften Plage auftretenden Heuschrecken. Und in 2,10 und 3,11 tragen die Nachfolger Jesu einen Siegeskranz.
Dann wird vom Sieg des Reiters gesprochen. Die Bemerkung, dass er „siegend“ auszog, kann sich auf sein „Selbstbewusstsein“ und seine ersten Erfolge beziehen (Maier I, 322). Die Fortsetzung, in der davon die Rede ist, dass er auszog „um zu siegen“ kann seine „künftige siegreiche Ausdehnung“ meinen (Maier I, 322).
Wer aber wird hier als Sieger vorgestellt? Nach 5,5 und 17,14 hat Christus „überwunden“ (wörtl.: gesiegt). Gleiches aber wird auch von den Christen gesagt (12,11; 15,2; 21,7, vgl. auch die Überwindersprüche der Sendschreiben) und vom gottfeindlichen Tier (11,7; 13,7).
Die Schilderungen selbst lassen also nicht eindeutig erkennen, wer oder was gemeint ist. Sie können auf eine Macht gedeutet werden, die eine positive Wirkung hat: auf den siegenden Christus oder sieghafte Christen. Wenn es sich um sieghafte Christen handeln sollte, bliebe unklar, inwiefern sie das sind. Jedenfalls gibt es keine Hinweise, dass hier die Verkündigung des Evangeliums gemeint ist. Am ehesten wäre daran zu denken, dass die Christen in Verfolgung sieghaft sind (Satake, 218).
Die Schilderungen können aber auch auf eine Macht bezogen werden, von der eine negative Wirkung ausgeht – z.B. auf eine militärische Macht, die Krieg führt. Viele Ausleger deuten das erste Siegel konkret auf die Parther, die immer wieder die römische Macht herausforderten und weisen darauf hin, dass der Bogen die typische Bewaffnung der parthischen Reiterheere war (Wengst, 177; U. Müller, 167).
Da durch die Schilderungen selbst keine Eindeutigkeit zu gewinnen ist, lohnt sich ein Blick auf die anderen Siegel. In ihnen werden ausschließlich negative Kräfte geschildert. Das würde bedeuten: „Die Interpretation des ersten Reiters auf Christus oder den siegreichen Gang des Evangeliums scheitert … daran, dass sie die offensichtliche Verwandtschaft bzw. Parallelität zwischen den Reitern ignoriert. Die drei anderen Reiter bringen jeweils Unheil; folglich muss auch der ihnen vorangestellte Reiter in irgendeinem Sinne als Unheilsträger verstanden werden.“ (U. Müller, 164).
Das zweite Siegel
(3) Und als es das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite lebendige Wesen sagen: Komm! (4) Und es zog aus ein anderes, ein feuerrotes Pferd; und dem, der darauf saß, ihm wurde gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen und die Menschen dahin zu bringen, dass sie einander schlachteten; und ihm wurde ein großes Schwert gegeben.
(3f.) Im Unterschied zum ersten Siegel ist das zweite gut verständlich – sofern man bei einer buchstäblichen Deutung bleibt. Diesmal geht es um einen Reiter, der auf einem feuerroten Pferd sitzt. Ein ähnliches Bild findet sich im Buch Sacharja (Sach.1,8; 6,2).
Was es mit diesem Reiter auf sich hat, wird in einfachen und verständlichen Worten erklärt: Ihm „wurde gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen und die Menschen dahin zu bringen, dass sie einander schlachteten; und ihm wurde ein großes Schwert gegeben.“ Die ,,Pax Romana“, der von Rom garantierte Friede, war eines der zentralen politischen Schlagworte, mit denen die Römer ihre Herrschaft legitimierten. Aber dieser Friede wird aufgehoben. Stattdessen kommt Krieg (für eine Begrenzung auf Bürgerkrieg, wie Roloff, 81, meint, gibt es keine Hinweise). Dies entspricht dem Zeichen in der Endzeitrede Jesu (Mk.13,7f.).
Das Schwert gehört schon im AT
zusammen mit Hunger (3. Siegel) und Pest zur „Trias des Verderbens“ (Maier
I, 323; vgl. Hes.5,12.17; 14,21; 33,27; Jer.14,12; 21,7; 24,10; 27,8.13;
29,17f.; 32,24.36; 34,17; 38,2; 42,17.22; 44,12ff.; vgl. Off.6,8). Das Schwert
steht dabei eindeutig für Krieg.
Allerdings gibt es auch
Versuche, das zweite Siegel nicht auf Kriegshandlungen zu beziehen, sondern
darin ein Hinweis auf die Christenverfolgung und sogar eine bestimmte
Zeitspanne angedeutet zu sehen (vgl. die Übersicht oben). Hier ist die
kritische Frage erlaubt, welchen Anhalt eine solche Deutung am Text hat.
Das dritte Siegel
(5)
Und als es das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte lebendige Wesen
sagen: Komm! Und ich sah: Und siehe, ein schwarzes Pferd, und der darauf saß,
hatte eine Waage in seiner Hand. (6) Und ich hörte etwas wie eine Stimme
inmitten der vier lebendigen Wesen, die sagte: Ein Maß Weizen für einen Denar
und drei Maß Gerste für einen Denar! Und dem Öl und dem Wein füge keinen
Schaden zu!
(5f.) Als das dritte Siegel geöffnet wird, erscheint ein schwarzes Pferd (vgl. Sach.6,2), dessen Reiter eine Waage in der Hand hält. Das Symbol der Waage ist mehrdeutig. Grundsätzlich dient sie natürlich vor allem zum Abwiegen von Lebensmitteln, insbesondere von Getreide. Das passt zu den Aussagen von 6,6 und entspricht den Schilderungen der Tora und des Hesekielbuchs, in denen das Abwiegen von Brot im Zusammenhang mit einer von Gott verhängten Hungersnot steht (3.Mos.26,26: „Wenn ich euch den Stab des Brotes zerbreche, werden zehn Frauen euer Brot in einem Ofen backen, und sie werden euch das Brot zurückgeben nach dem Gewicht; und ihr werdet essen und nicht satt werden.“; Hes.4,16-17: „(16) Und er sprach zu mir: Menschensohn, siehe, ich zerbreche den Stab des Brotes in Jerusalem – und sie werden Brot essen nach genau abgemessenem Gewicht und in Angst und Wasser trinken nach genau abgemessenem Maß und in Entsetzen –, (17) damit sie an Brot und Wasser Mangel haben und miteinander verschmachten und in ihrer Schuld dahinschwinden.“).
Beim dritten Siegel hört Johannes auch eine Stimme. Sie kommt aus der Mitte der vier Gestalten. Da die vier Gestalten um den Thron Gottes stehen, kann die Stimme Gottes gemeint sein (4,6). Aber auch das Lamm steht „inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten“ (5,6), so dass es sich auch um eine Anweisung Jesu handelt kann.
Darin geht es zunächst um den Getreidepreis. Ein „Maß“ (wörtl. „Chönix“) Getreide umfasst ca. 1 Liter (Getreide wurde damals nicht nach Gewicht, sondern nach Volumen gemessen). Der „Denar“ war der damals übliche Tageslohn (Mt.20,1ff.). Schon diese Angaben zeigen, dass es sich um einen sehr hohen Preis handelt. Dieser Eindruck wird durch historische Informationen unterstützt. Nach Cicero erhielt man normalerweise zwölf Maß Weizen für einen Denar (Cicero, Gegen Verres 3,81; vgl. U. Müller, 168). Nach einer Inschrift aus dem Jahr 93, als in Kleinasien eine Hungersnot herrschte, verbot der damalige römische Legat, das Korn für mehr als einen Sesterz (2,5 Sesterzen = ein Denar) per Modius (= acht Chörix) zu verkaufen. Danach liegt der in 6,6 genannte Preis sogar zwanzigmal höher (Satake, 219).
Gerste galt als das Korn der armen Leute und wurde als „Hühnerfutter und nicht Menschennahrung“ bzw. „Sklavenernährung“ bezeichnet (Wengst, 179; Maier I, 325). Es kostete üblicherweise die Hälfte oder ein Drittel des Weizens (Maier I, 325).
Als Ursache der Teuerung kommt neben schlechten Ernten auch die Beeinträchtigung der Getreideimporte aufgrund von Kriegen in Frage (Roloff, 81), so dass die Ereignisse des dritten Siegels als logische Folge des zweiten Siegels verstanden werden können.
Was aber bedeutet der Befehl, dem Öl und dem Wein keinen Schaden zu tun? Hier ist die Information von Interesse, dass Kleinasien damals bei Öl und Wein nicht von Importen abhängig ist (Roloff, 81). Kaiser Domitian erließ sogar ein Dekret, dass die Neugründung von Weingärten verbot, weil Wein im Unterschied zu Getreide im Überfluss vorhanden war (Satake, 220; Wengst, 180). Getreidemangel einerseits und gleichzeitige ausreichende Versorgung mit Öl und Wein andererseits haben also einen realen historischen Hintergrund.
Nun geht es hier nicht um einen historischen Bericht, sondern um die himmlische Anweisung – den Befehl, Öl und Wein nicht anzutasten. Es handelt sich hier vermutlich um eine „Teilstrafe“ (Maier, I, 326), wie sie auch an anderer Stelle in der Offenbarung angekündigt wird (6,8: 8,7ff.).
Wenn die Angaben aus Vers 6 im buchstäblichen Sinn zu verstehen sind, geht es also um eine Teuerung bzw. eine Hungersnot. Hungersnöte werden auch in der Endzeitrede Jesu angekündigt (Mk.13,8).
Daneben gibt es den Versuch,
die Aussagen symbolisch zu verstehen und sie auf eine „geistliche Hungersnot“
und auf eine bestimmte Epoche zu deuten (vgl. die Übersicht oben). Dabei bezieht
man sich vor allem auf Am.8,11: „Siehe,
Tage kommen, spricht der Herr, HERR, da sende ich Hunger ins Land, nicht einen
Hunger nach Brot und nicht einen Durst nach Wasser, sondern danach, die Worte
des HERRN zu hören.“ Die Aussagen über Öl und Wein werden dann auf den
Heiligen Geist (E. Müller, 155) und die Rettung durch Jesus
Christus (Stefanovic, 233) gedeutet.
Das vierte Siegel
(7) Und als es das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten lebendigen Wesens sagen: Komm! (8) Und ich sah: Und siehe, ein fahles Pferd, und der darauf saß, dessen Name ist »Tod«; und der Hades folgte ihm. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit dem Schwert und mit Hunger und mit Tod und durch die wilden Tiere der Erde.
(7f.) Bei der Öffnung des vierten Siegels sieht Johannes ein fahles Pferd. Es handelt sich hier um die Farbe der Krankheit und des Todes. Dementsprechend ist „Tod“ auch der Name des Reiters. Ihm folgt der „Hades“. Beide Begriffe stehen auch in 1,18 nebeneinander („… Schlüssel des Todes und des Hades“). In 6,8 geht es aber nicht um einen Ort, sondern um die personifizierte Macht des Todes und des Hades (vgl. 20,13f.).
Dem Tod und dem Hades wurden über den vierten Teil der Erde Macht gegeben. Es handelt sich also – wie bei den „Posaunen“, die den dritten Teil der Erde etc. treffen (8,6ff.) – nicht um ein vollständiges, sondern um ein teilweises Gericht (vgl. die „Teilstrafe“ in 6,6). Tod und Hades verrichten ihr Werk durch Schwert, Hunger, Tod (gemeint sind wohl tödliche Krankheiten/Seuchen) und wilde Tiere. Diese Aufzählung entspricht Hes.14,21f. (vgl. Hes.5,12.17):
Weil hier die Menschen nicht nur hungern, sondern zu Tode kommen, handelt es sich offensichtlich um eine Steigerung gegenüber 6,4 und der dort angekündigten Teuerung bzw. Hungersnot.
Ausleger, die das vierte
Siegel symbolisch deuten, sehen hier eine „geistliche Pest und Seuche“ (E.
Müller, 157f.) und
beziehen die Aussagen über Tod und Hölle auf Verfolgung und Kreuzzüge des
Mittelalters (vgl. die Übersicht oben). Es gibt innerhalb des AT und des NT
jedoch keine Belegstellen für ein solches symbolisches Verständnis von Pest
oder Hölle.
Das fünfte Siegel
(9) Und als es das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die geschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten. (10) Und sie riefen mit lauter Stimme und sprachen: Bis wann, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? (11) Und es wurde ihnen einem jeden ein weißes Gewand gegeben; und es wurde ihnen gesagt, dass sie noch eine kurze Zeit abwarten sollten, bis auch ihre Mitknechte und ihre Brüder vollendet seien, die ebenso wie sie getötet werden sollten.
(9) Als das fünfte Siegel geöffnet wird, sieht Johannes „unter dem Altar“ die „Seelen“ der Märtyrer.
Umstritten ist, ob es sich dabei um den Räucheraltar (8,3) oder den Brandopferaltar (9,13; 11,1) handelt. Für den Brandopferaltar, auf dem Tieropfer dargebracht wurden, spricht, dass hier von „Seelen derer, die geschlachtet worden waren“ die Rede ist, die „Seele“ nach dem Verständnis des Opferdienstes im Blut des Opfertieres ist (3.Mos.17,11: „Denn die Seele des Fleisches ist im Blut …“) und das Blut des Sündopfers an den Fuß des Brandopferalters gegossen wurde (3.Mos.4,7), sich also „unter dem Altar“ befand.
Als Grund für ihr Martyrium wird genannt, dass sie „um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten“ getötet worden waren (vgl. 20,4; s.a. 1,9). Mit „Zeugnis“ ist ihre prophetische Botschaft (11,7: „Und wenn sie [die beiden Zeugen] ihr Zeugnis vollendet haben werden, wird das Tier …“) gemeint.
(10)
Mit lauter Stimme rufen die Märtyrer nach Gericht und Vergeltung. Die Anrede „Herrscher“ (wörtl.: Despot) kann sich
auf Gott (Lk.2,29; Apg.4,24) oder auf Christus (Jud.4; 2.Pt.2,1) beziehen. Er
wird als „heiliger und wahrhaftiger“ Herrscher
beschrieben. Weil Christus in 3,7 als „der
Heilige“ und „der Wahrhaftige“
bezeichnet wird, ist der zweiten Deutung der Vorzug zu geben.
Die Frage „bis wann?“ gehört zu den typischen Fragen der Bedrängten (Ps.13,2f.; Dan.8,13; Hab.1,2; Sach.1,12). Gott soll endlich Gericht halten und ihr Blut rächen (vgl. 19,2). Er soll diejenigen, „die auf der Erde wohnen“ – also die Gottlosen (8,13; 11,10; 13,8.14; 14,6; 17,2.8) – bestrafen.
(11) Die Antwort folgt in Vers 11. Sie besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird jedem Märtyrer ein weißes Gewand gegeben. Ein „weißes Gewand“ ist die Kleidung der Erlösten im Reich Gottes (3,4f.; 7,9). Damit wird gesagt: Als „Unterpfand des gerechten Gerichtes Gottes erhalten die Märtyrerseelen schon jetzt ein weißes Gewand, das Kleid der Engel und vollendeten Gerechten“ (U. Müller, 172).
Im zweiten Teil der Antwort werden die Märtyrer um Geduld gebeten. Sie müssen noch eine kleine Zeit „abwarten“ (wörtl.: „ruhen“). Nach Aussagen des Buches Daniel ruhen die Verstorbenen bis zur Auferstehung der Toten am Ende der Tage (Dan.12,2.13). Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der Märtyrer erst vollzählig werden muss.
Dieser Gedanke findet sich im vierten Buch Esra.
4.Esra 4,35-37: „(35) Diese deine Frage haben schon die Seelen der Gerechten in ihren Kammern gethan; die sprachen: Wie lange sollen wir noch hier bleiben? Wann erscheint endlich die Frucht auf der Tenne unseres Lohns? (36) Aber ihnen hat der Erzengel Jeremiel geantwortet und gesprochen: wann die Zahl von Euresgleichen voll ist! Denn Er hat auf der Waage den Äon gewogen, (37) Er hat die Stunden mit dem Maße gemessen und nach der Zahl die Zeiten gezählt. Er stört sie nicht und weckt sie nicht auf, bis das angesagte Maß erfüllt ist.“
Alle Ausleger sind sich darin einig, das fünfte Siegel auf das Märtyrertum zu beziehen.
Einige wollen es darüber
hinaus auf eine spezielle Epoche beziehen (vgl. die Übersicht oben). Dafür kann
man sich aber nicht auf die Verse 9-11 berufen. Es handelt sich vielmehr um
Interpretationen, die von Vorentscheidungen abhängen, die keinen Anhalt am Text
selbst haben.
Das sechste Siegel
(12) Und ich sah, als es das sechste Siegel öffnete: Und es geschah ein großes Erdbeben; und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack , und der ganze Mond wurde wie Blut, (13) und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum, geschüttelt von einem starken Wind, seine Feigen abwirft. (14) Und der Himmel schwand dahin wie ein Buch, das zusammengerollt wird, und jeder Berg und jede Insel wurden von ihren Stellen gerückt. (15) Und die Könige der Erde und die Großen und die Obersten und die Reichen und die Mächtigen und jeder Sklave und Freie verbargen sich in die Höhlen und in die Felsen der Berge; (16) und sie sagen zu den Bergen und zu den Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! (17) Denn gekommen ist der große Tag ihres Zorns. Und wer vermag zu bestehen?
Das sechste
Siegel zeigt, dass Gott sich am Ende durchsetzt und die Gottlosen bestraft
werden. Insofern knüpft es an die im fünften Siegel gestellt Frage „bis wann, heiliger und wahrhaftiger
Herrscher, richtest und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde
wohnen?“ an.
Dazu werden zunächst Zeichen von kosmischen Dimensionen beschrieben (12-14). Im Anschluss daran wird geschildert, wie die Ungläubigen darauf reagieren (15-17). Beim sechsten Siegel sind auch Ausleger, die bei den anderen Siegeln zu einer „symbolischen“ Deutung neigen, der Auffassung, dass die Aussagen buchstäblich zu verstehen sind (E. Müller, 163).
(12) Zunächst ist von einem großen Erdbeben die Rede. In Hes.38,19 wird ein „großes Beben“ als Zeichen des göttlichen Gerichts angekündigt. Hab.3,6 spricht von einem Erdbeben im Zusammenhang mit dem Kommen Gottes. Auch die siebte Zornesschale (16,18) beschreibt ein „großes Erdbeben“. Erdbeben gehören auch zu den Anfängen der Wehen der Wiederkunft Christi, die in der Endzeitrede Jesu beschrieben werden (Mk.13,8).
Die nun folgenden Ereignisse betreffen Sonne, Mond und Sterne. Die Sonne wird finster „wie ein härener Sack“ (d.h. wie ein aus Haaren gemachter Sack). Der Sack galt als Trauer- und Bußgewand (vgl. z.B. Mt.11,21) und wurde aus Tierhaaren, insbesondere aus schwarzen Ziegenhaaren, hergestellt. Die Verfinsterung der Sonne wird schon in alttestamentlicher Zeit mit dem Kommen Gottes bzw. dem Gericht in Verbindung gebracht (Jes.13,10; 50,3; Hes.32,7-8; Joel 3,4). In der Endzeitrede Jesu folgt der Hinweis auf die Ereignisse an Sonne, Mond und Sternen (Mk.13,24f.) unmittelbar nach der Schilderung der großen Bedrängnis der Christen in der Endzeit (Mk.13,14-23). Auch der Hinweis, dass der Mond „wie Blut“ wurde, findet sich im AT (Joel 3,4) und in der Endzeitrede Jesu (Mk.13,24).
(13) Die Aussage, dass die Sterne des Himmels wie Feigen, die ein Feigenbaum bei starkem Wind abwirft, auf die Erde fallen, entspricht Jes.34,4 („Und alles Heer des Himmels wird dahinschwinden, und der Himmel wird zusammengerollt werden wie eine Buchrolle, und all sein Heer wird hinwelken, wie ein Blatt verwelkt am Weinstock und wie ein dürres Blatt am Feigenbaum.“). Mit dem „Heer des Himmels“ sind bei Jesaja vermutlich alle Gestirne gemeint (2.Kön.21,3; Jes.45,12). In der Offenbarung geht es „nur“ um die Sterne. Die Aussage vom Feigenbaum ist aber dennoch eine deutliche Parallele zu Jesaja. Vom Sternenfall ist – ohne das Bild des Feigenbaums – auch in Mk.13,25 die Rede.
(14) Auch die Ankündigung, dass der Himmel wie eine Schrift zusammengerollt wird, knüpft an Jes.34,4 an. Dahinter steht die Vorstellung, dass Gott den Himmel bei der Schöpfung „ausgespannt“ hat (Jes.40,22) und ihn nun im Zusammenhang mit dem Gericht wieder zusammen rollt (Maier I, 340f.). Das Vergehen des Himmels wird auch in 2.Pt.3,10; Hebr.1,10ff. und Offb.20,11 erwähnt.
Schließlich werden Berge und Inseln wegbewegt. Auch dafür gibt es alttestamentliche Parallelen, die auch dort im Zusammenhang mit dem Gericht Gottes stehen (Berge: Jer.4,23f.; Nah.1,5; Inseln: Jes.26,15). Nach 16,20 (siebte Zornesschale) werden Berge und Inseln sogar verschwinden.
Diese kosmischen Zeichen sind Begleiterscheinungen des „Jüngsten Tages“. Das wird in den anschließend beschriebenen Reaktion der Ungläubigen deutlich (6,15-17). Dort wird gesagt, dass der „große Tag“ des „Zorns“ gekommen ist (6,17).
(15-17) Der zweite Teil des Berichts über das sechste Siegel beschreibt die Reaktion der Menschheit (Reaktionen werden auch bei der sechsten Posaune, 9,20f., und der siebten Zornesschale, 16,21, geschildert). Sie bezieht sich nicht so sehr auf die zuvor beschriebenen Katastrophen, sondern darauf, dass sich in ihnen der Zorn Gottes und des Lammes offenbart.
Der Begriff „Zorn“ steht hier nicht für unkontrollierte Aggressionen, sondern bezeichnet das Gericht (vgl. Mt.3,7; Joh.3,36; Röm.1,18). Dementsprechend ist der „Tag ihres Zorns“ der „Tag des Gerichts“ (Röm.2,5: „Nach deiner Störrigkeit und deinem unbußfertigen Herzen aber häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes …“). Das Gericht ist natürlich eng mit Jesu Wiederkunft verbunden (Jud.14.15). Das Kommen Jesu wird aber hier noch nicht näher geschildert, sondern erst am Ende des Buches (19,11ff.).
Um wessen Reaktionen geht es? Genannt werden zunächst die Mitglieder der Oberschicht: die „Könige der Erde“, die „Großen“ (= die Vornehmen oder die Fürsten), die „Obersten“ (= militärische Befehlshaber), die „Reichen“ und die „Mächtigen“ (wörtl.: „die Starken“ = die Einflussreichen). Anschließend wird summarisch „jeder Sklave und Freie“ hinzugefügt. Ähnliche Aufzählungen finden sich in 13,16 und 19,18. Gemeint sind jeweils die Ungläubigen, für die es beim Anbrechen des Gerichts keine Rettung mehr gibt.
Weil es keine Rettung mehr für sie gibt, bleibt ihnen nur der verzweifelte Versuch, sich vor dem Zorn Gottes und des Lammes zu verbergen und dazu die Berge und Felsen um Hilfe zu rufen. Beide Motive finden sich bereits in der alttestamentlichen Prophetie (Jes.2,10.19.21; Hos.10,8; vgl. Lk.23,30).
Die abschließende Frage „wer vermag zu bestehen?“ ist natürlich so zu beantworten, dass die Gottlosen nicht vor Gottes Gericht bestehen können (Nah.1,6: „Wer kann vor seinem Groll bestehen, wer standhalten bei der Glut seines Zorns? Sein Grimm ergießt sich wie Feuer, die Felsen bersten durch ihn.“; Mal.3,2: „Wer aber kann den Tag seines Kommens ertragen, und wer wird bestehen bei seinem Erscheinen? Denn er wird wie das Feuer eines Schmelzers und wie das Laugensalz von Wäschern sein.“). Aber man kann diese Frage zugleich als Ausblick auf den folgenden Abschnitt (7,1-8) verstehen, in dem die Versiegelten beschrieben werden, die nicht von Gottes Gericht betroffen sind.
Zusammenfassung: Durch das Öffnen der Siegel enthüllt das Lamm den Lauf dieser Welt. Dazu gehört, dass die Nachfolger Jesu verfolgt werden. In ihrer Not rufen sie zu Gott und bitten ihn, dem Leid ein Ende zu machen. Aber sie müssen noch warten. Dann aber, am „Jüngsten Tag“, sitzen die Gottlosen in der Falle.
4.2 Die
Versiegelung der 144.000 (7,1-8)
(1)
Nach diesem sah ich vier Engel auf den vier Ecken der Erde stehen; die hielten
die vier Winde der Erde fest, damit kein Wind wehte auf der Erde, noch auf dem
Meer, noch über irgendeinen Baum. (2) Und ich sah einen anderen Engel von Sonnenaufgang
heraufsteigen, der das Siegel des lebendigen Gottes hatte; und er rief mit
lauter Stimme den vier Engeln zu, denen gegeben worden war, der Erde und dem
Meer Schaden zuzufügen, (3) und sagte: Schadet nicht der Erde, noch dem Meer,
noch den Bäumen, bis wir die Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen versiegelt
haben.
(4)
Und ich hörte die Zahl der Versiegelten: 144000 Versiegelte, aus jedem Stamm
der Söhne Israels. (5) Aus dem Stamm Juda 12000
Versiegelte, aus dem Stamm Ruben 12000, aus dem Stamm Gad 12000, (6) aus dem
Stamm Asser 12000, aus dem Stamm Naftali 12000, aus
dem Stamm Manasse 12000, (7) aus dem Stamm Simeon
12000, aus dem Stamm Levi 12000, aus dem Stamm Issaschar
12000, (8) aus dem Stamm Sebulon 12000, aus dem Stamm
Josef 12000, aus dem Stamm Benjamin 12000 Versiegelte.
Dieses Zwischenstück kann als Antwort auf die Frage „wer vermag zu bestehen?“ (6,17) verstanden werden. Die Versiegelung der 144.000 hat aber auch einen Bezug zu dem im Posaunenzyklus (8,6ff.) geschilderten Gerichtshandeln Gottes, weil die dort beschriebenen Ereignisse – zumindest zum Teil – nur diejenigen betreffen, die nicht das Siegel Gottes haben (9,4). Bevor es also mit dem Gericht über diese Welt so richtig los geht, erhalten die Gläubigen von Gott die Zusage ihrer Bewahrung.
(1) Johannes sieht vier Engel „auf den vier Ecken der Erde“ (vgl. Jes.11,12; Hi.38,13). Dort halten sie die „vier Winde der Erde“ fest. Das erinnert an Jer.49,36, wo Gottes Gericht über Elam (Königreich, dass östlich des Tigris im heutigen Iran liegt) mit den Worten „und ich werde die vier Winde von den vier Enden des Himmels her über Elam bringen und es in alle diese Winde zerstreuen …“ angekündigt wird. Die Vision Sach.6,1-8 beschreibt vier Wagen und ihre Pferde und deutet sie auf „die vier Winde des Himmels“ (Sach.6,5). Interessant sind auch Schilderungen im Buch Henoch, wo von zwölf Toren an den „Enden der Erde“ die Rede ist, „aus welchen hervorgehen die Winde und wehen über die Erde“ und bei denen es sich sowohl um „Winde des Segens und des Heils“ und um „Winde der Züchtigung“ handelt (äthHen 75,1ff.).
Sind die Winde als Gerichtshandeln Gottes zu verstehen, meint das Festhalten der vier Winde entsprechend das Zurückhalten des Strafgerichts. Hier wird konkret betont, dass vorerst kein Wind über die Erde, das Meer oder irgendeinen Baum blasen soll. Einige Ausleger wollen Erde, Meer und Baum symbolisch verstehen (Wittwer, 58; Maier I, 352). Uriah Smith, der „Pionier“ der traditionell-adventistischen Deutung, bezog diesen Hinweis sogar auf konkrete historische Ereignisse seiner Zeit, bei denen sich eigentlich eine Katastrophe anbahnte, die dann aber doch überraschend ausblieb (Revolutionen von 1848; amerikanischer Bürgerkrieg, deutsch-französischer Krieg 1870/71, Krieg zwischen Russland und der Türkei; Smith, 468f.).
(2f.) Das Zurückhalten des Strafgerichts ist dann auch die Botschaft des weiteren Engels, der nun die Szene betritt. Er kommt vom „Sonnenaufgang her“, also von Osten. In der Welt der Bibel ist der Osten die Himmelsrichtung, von der aus Gott erscheint (Hes.43,2; Mt.24,27). Stefanovic sieht deshalb in dem Engel einen Hinweis auf Christus (Stefanovic, 259).
Jedenfalls hat der Engel „das Siegel des lebendigen Gottes“. Wie Vers 3 zeigt, dient es dazu, die Gläubigen „an ihren Stirnen“ zu versiegeln. Das erinnert an Hes.9,1-4, wo ein Mann „mit Leinen bekleidet“ beauftragt wird, mit dem „Schreibzeug eines Schreibers“ durch Jerusalem zu gehen, und denjenigen, die über die Missstände in dieser Stadt bekümmert sind – also ihren Glauben rein bewahrt haben – „ein Kennzeichen an die Stirnen“ zu zeichnen und sie so vor dem göttlichen Strafgericht zu schützen.
Unter adventistischen
Bibelauslegern ist
seit Joseph Bates (Joseph Bates, A Seal of the Living God. Hundred Forty-four Thousand, of the Servants of God Being Sealed,
in 1849. New Badford,
1849) die
Auslegung verbreitet, dass es sich bei dem Siegel Gottes um den Sabbat handelt.
Zumeist wird dabei folgendermaßen argumentiert: „So wie in früheren Zeiten das
Siegel auf einem Gegenstand den Eigentümer nachwies, so wird also durch das
Siegel Gottes auf seinen Kindern bestätigt, dass es sie als sein Eigentum anerkannt
hat. In der Regel gehört zum Siegel eines Herrschers dreierlei: Name, Amt und
Regierungsgebiet. Diese Kennzeichen trägt auch das Gesetz Gottes, in dem Namen,
Amt und Herrschaftsbereich seines Urhebers angegeben sind. In fünf von den Zehn
Geboten wird nur der Name Gottes erwähnt; das vierte aber, das zur Heiligung
des Sabbats auffordert, weist die drei wesentlichen Bestandteile eines
offiziellen Siegels auf. Es spricht vom ‚Herrn, deinem Gott‘ (Name), dem
Schöpfer (Amt), ‚der Himmel und Erde‘ (Herrschaftsbereich) gemacht hat.“
(Böttcher, 136).
Der andere Engel, der das Siegel bei sich hat, fordert die vier Engel auf, der Erde, den Menschen und den Bäumen noch keinen Schaden zu tun, sondern die Versiegelung der „Knechte … Gottes“ abzuwarten. Der Begriff „Knecht Gottes“ steht in der Offenbarung des Johannes entweder für alle Gläubigen (1,1; 2,20; 22,6) oder speziell für die Propheten (10,7; 11,18) und Märtyrer (19,2). Hier ist vermutlich an alle Gläubigen gedacht. Die Versiegelung kennzeichnet sie als „Eigentum Gottes, an dem sich niemand vergreifen kann“ (Wengst, 238; vgl. Stefanovic, 255, 259f.; E. Müller, 167).
Ist bei der Versiegelung, die die Gläubigen vor dem Gericht schützt, noch an etwas anderes gedacht, wodurch die Versiegelung konkret wird? Von der unter adventistischen Auslegern verbreiteten Auffassung, dass hier der Sabbat gemeint ist, haben wir ja schon gehört. Die Versiegelung wird aber – unter Bezug auf Eph.1,13; 4,30 – von manchen Ausleger auch auf die Taufe (Stefanovic, 260; Roloff, 89) bzw. den Heiligen Geist (Stefanovic, 259f. Böttcher, 135f.) bezogen. Der Textabschnitt selbst sagt nichts darüber. Das spricht dafür, in der Auslegung des Textes nicht über die Feststellung hinauszugehen, dass die Versiegelten Gottes Eigentum sind und unter seinem Schutz stehen.
(4) Anschließend wird die Zahl der Versiegelten genannt, 144.000, und ihre Herkunft „aus jedem Stamm der Söhne Israels“ erwähnt.
Im Hinblick auf die 144.000 ist zunächst die Frage von Interesse, ob es diese Zahl buchstäblich oder symbolisch zu verstehen ist. Bei den ersten Adventisten war die buchstäbliche Auslegung vorherrschend.
Vor allem Uriah Smith betonte, dass es sich nicht um eine unbestimmte, sondern um eine bestimmte Zahl handelt - wenngleich er es auch für möglich erachtete, dass dabei nur an die „männlichen Erwachsenen der großen Adventbewegung“ zu denken ist, „während die Frauen und Kinder … noch hinzugezählt werden müssen“ (Smith, zit. in: Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (Hg.), Lehre und Leben der Siebenten-Tags-Adventisten, Berlin 1975, 156f.).
In der
Bibelwissenschaft wird die Zahl symbolisch verstanden: „Die Zahl ist eine Gleichniszahl. Sie symbolisiert, dass die Gemeinde der
Versiegelten die von Gott gewollte Vollständigkeit (12x12) und eine gewaltige
Größe (x 1000) besitzt.“ (U.
Müller, 178). Dieser Auffassung sind auch die zeitgenössischen
adventistischen Kommentatoren (Stefanovic,
256; E. Müller, 170; Wittwer, 60).
Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, wer denn die 144.000 sind. Ihre Kennzeichen werden in 14,1-5 genannt (s. die Auslegung dort). Da sie vor dem endzeitlichen Gerichtshandeln Gottes über die Welt geschützt werden sollen, wird es sich um die Gläubigen der letzten Zeit handeln. Das ist auch die Auffassung adventistischer Ausleger, wenngleich es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob es sich nur um die bis zur Wiederkunft Jesu „Lebenden, die übrig bleiben“ handelt (1.Thess.4,17; Makowski, 74) oder auch diejenigen, die im Glauben verstorben sind, mit einzubeziehen sind (Smith, in: Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (Hg.), Lehre und Leben der Siebenten-Tags-Adventisten, Berlin 1975, 157).
Wichtig ist auch die Frage, in welchem Verhältnis die 144.000 zu der „großen Volksmenge“ stehen, von der anschließend die Rede ist (7,9-17). Die meisten Bibelausleger, auch evangelikale und adventistische, sind der Auffassung, dass es sich bei der „großen Volksmenge“ um die gleiche Gruppe an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit handelt: „Sie unterscheiden sich im Ort: Die erste hat die Erde im Blick, die zweite den himmlischen Thronsaal. Sie unterscheiden sich in der Zeit: Die erste spielt vor ‚der großen Bedrängnis‘ – in der ‚Ruhe vor dem Sturm‘ – , die zweite danach. Aber sie unterschieden sich gerade nicht in den angeführten Personen.“ (Wengst, 239; vgl. Maier I, 362; E. Müller, 168ff.; Wittwer, 60). Uriah Smith war allerdings der Meinung, dass es sich bei den 144.000 um eine besondere Gruppe innerhalb der „großen Volksmenge“ handelt (Smith, 473; vgl. Makowski, 74).
Schließlich ist zu fragen, was die Aussage bedeutet, dass sich die 144.000 „aus jedem Stamm der Söhne Israels“ zusammensetzen. Die Auffassung, dass es sich dabei um Judenchristen handelt, wird heute kaum noch vertreten. Einige Ausleger sehen darin aber einen Hinweis darauf, dass die christliche Kirche in Israel eingegliedert wurde (Maier I, 361f.; Wengst, 240). Mehrheitlich wird aber die Auffassung vertreten, hinter dieser Wendung stehe der Anspruch der Kirche, das wahre Israel zu sein (U. Müller, 178; Roloff, 239; Stefanovic, 257). Letzteres entspricht der Aussage des Sendschreibens an Smyrna, in der von Personen die Rede ist, „die sagen, sie seien Juden, und es nicht sind, sondern sind eine Synagoge des Satans“ (2,9).
(5-7) Die abschließende Liste der Stämme Israels ist ungewöhnlich – sowohl die Reihenfolge, als auch die Auswahl der Stämme. Das zeigt folgende Übersicht:
1. Mose 49 |
Stellung in Off.7,5-7 |
Ruben |
Nr. 2 |
Simeon |
Nr. 7 |
Levi |
Nr. 8 |
Juda |
Nr. 1 |
Sebulon |
Nr. 10 |
Issachar |
Nr. 9 |
Dan |
- |
Gad |
Nr. 3 |
Asser |
Nr. 4 |
Naftali |
Nr. 5 |
Josef |
Nr. 11 |
Benjamin |
Nr. 12 |
|
Nr. 6: Manasse (neu!) |
(andere Listen in 1.Mos.35,22-26; 4. Mose 13,4-15; Hes.48)
Diese Differenzen „beruhen wohl nicht auf Irrtümern, sondern auf dogmatisch überlegten Korrekturen. So rückt Juda an die erste Stelle als der königliche Stamm, aus dem der Messias kommen sollte (5,5). Es fehlt der Stamm Dan, offenbar weil der nach jüdischer Überlieferung als abgefallen und vom Satan beherrscht galt (1.Kön.12,29f.; Ri.18; Jer.8,16; Test.Dan 5,4ff.) … An die Stelle Dans tritt in der Liste Manasse, einer der beiden Josefstämme.“ (Roloff, 90; vgl. Stefanovic, 256ff.).
Zusammenfassung: Bevor sein Strafgericht über diese Erde ergeht, stellt Gott alle, die an ihn glauben, unter seinen besonderen Schutz.
4.3 Die große
Volksmenge vor dem Thron Gottes (7,9-17)
(9) Nach
diesem sah ich: Und siehe, eine große Volksmenge, die niemand zählen konnte,
aus jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen, stand vor dem Thron
und vor dem Lamm, bekleidet mit weißen Gewändern und Palmen in ihren
Händen. (10) Und
sie rufen mit lauter Stimme und sagen: Das Heil unserem Gott, der auf dem Thron
sitzt, und dem Lamm! (11) Und
alle Engel standen rings um den Thron und die Ältesten und die vier lebendigen
Wesen, und sie fielen vor dem Thron auf ihre Angesichter und beteten Gott
an (12) und
sagten: Amen! Den Lobpreis und die Herrlichkeit und die Weisheit und die
Danksagung und die Ehre und die Macht und die Stärke unserem Gott von Ewigkeit
zu Ewigkeit! Amen. (13) Und
einer von den Ältesten begann und sprach zu mir: Diese, die mit weißen
Gewändern bekleidet sind - wer sind sie, und woher sind sie gekommen? (14) Und
ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind es,
die aus der großen Bedrängnis kommen, und sie haben ihre Gewänder gewaschen und
sie weiß gemacht im Blut des Lammes. (15) Darum
sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel;
und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. (16) Sie
werden nicht mehr hungern, auch werden sie nicht mehr dürsten, noch wird die
Sonne auf sie fallen noch irgendeine Glut; (17) denn
das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie hüten und sie leiten zu
Wasserquellen des Lebens, und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.
Auch im zweiten Abschnitt des Zwischenstücks (zwischen dem 6. und 7. Siegel) geht es um das Schicksal der Gläubigen. Er besteht aus zwei Teilen: der Vision (7,9-12) und ihrer Deutung (13-17). Dieser Aufbau ist eigentlich typisch für die apokalyptische Literatur (z. B. Dan 2, 7 und 8), findet sich aber in der Offenbarung des Johannes nur an dieser Stelle und in Kapitel 17 (Vision: 17,1-6; Deutung: 17,7-18).
(9f.) Johannes sieht eine „große Volksmenge“ vor dem Thron Gottes und vor dem Lamm stehen (zum Thron Gottes und dem Lamm vgl. Kap. 4–5). Zu ihr gehören Menschen „aus jeder Nation, und aus Stämmen und Völkern und Sprachen“ (vgl. 5,9 und Dan.3,3.7; 7,14). Sie sind mit „weißen Gewändern“ bekleidet – tragen also die Kleidung der Erlösten (3,4f.). In ihren Händen halten sie Palmzweige, die vermutlich Symbol ihres Sieges sind (vgl. 1.Makk.13,51; 2.Makk.10,7; Stefanovic, 265), und proklamieren, dass Gott Rettung und Heil gebracht bzw. gesiegt hat (vgl. Off.12,10; 19,1).
(11-12) Die gesamte Engelwelt, die sich um den Thron Gottes herum versammelt, stimmt mit einem lauten „Amen“ in diesen Siegesruf ein und bekräftigt ihn so (U. Müller, 182; Maier I, 366). Das zeigt, dass „die gerettete und erlöste Gemeinde für die gesamte Engelwelt das Wunder aller Wunder“ ist (vgl. 1.Pt.1,12; Maier I, 365). Dementsprechend folgt ein überschwängliches Lob Gottes. Wie in 5,12 werden dabei sieben Begriffe genannt („Lobpreis“, „Herrlichkeit“, „Weisheit“, „Danksagung“, „Ehre“, „Macht“, „Stärke“). Ein erneutes „Amen“ schließt den Lobpreis ab (vgl. 5,14).
(13) Anschließend folgt die Deutung der Vision. Normalerweise fragt der Visionär, wie das Gesehene zu verstehen ist (z.B. Dan.7,16). Hier aber kommt die Frage von einem der „Ältesten“ (vgl. 5,5). Genau genommen sind es sogar zwei Fragen: Wer sind die Menschen der großen Schar? Und woher kommen sie? Dabei handelt es sich um eine „didaktische Frage“ (Roloff, 91). Der Älteste kennt die Antwort, will aber, „dass Johannes und die christliche Gemeinde darüber gründlich nachdenken“ (Maier I, 367).
(14) In seiner Antwort bringt Johannes daher auch sofort zum Ausdruck, dass der Fragesteller, also der Älteste, die Antwort kennt. Daraufhin lüftet dieser das Geheimnis der „großen Volksmenge“. Dabei geht er zunächst auf die zweite Frage („… woher sind sie gekommen …?“) ein, um dann zu erklären, wer sie sind („… wer sind sie …?“).
Die große Schar ist aus der „großen Bedrängnis“ gekommen. Von einer „Bedrängnis“ am Ende der Zeiten ist auch in der Endzeitrede Jesu die Rede. Jesus spricht dort von einer „Bedrängnis … wie sie von Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, bis jetzt nicht gewesen ist und nicht sein wird“ (Mk.13,19; Dan.12,1), die unmittelbar vor der Wiederkunft Jesu stattfinden wird (Mk.13,24-27). Es geht um eine außergewöhnliche Zeit der Verfolgung.
Die Antwort auf die Frage „wer sind sie?“ lautet: Es sind Menschen, die „ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht“ haben „im Blut des Lammes“. Die Gewänder, die gewaschen bzw. weiß sind, sind natürlich die in Vers 9 erwähnten „weißen Gewänder“, die Kleider der Erlösten (3,4f.).
Was aber ist damit gemeint, dass sie ihre Kleider „gewaschen und … weiß gemacht“ haben? Und in welcher Beziehung steht das zum „Blut des Lammes“?
Pohl meint – vermutlich in Abgrenzung gegenüber einer Werkgerechtigkeit –, dass der „Ton … nicht auf ihrer Waschtätigkeit, sondern auf dem Mittel“ liegt.
„Absurd wäre es …, ihren Sieg
auf verdienstvoll eifriges Waschen zurückzuführen. Der Ton liegt hier nicht auf
ihrer Waschtätigkeit, sondern auf dem Mittel. Daraus aber ein Verdienst zu
machen, dass man Gnade annahm, ist nur kennzeichnend für die Vertracktheit des Menschen. Schließlich darf auch nicht dem
Leiden an sich läuternde Wirkung zugeschrieben werden. Nicht die große
Drangsal, sondern das Blut Jesu ist das Reinigungsbad. Darum nicht im Leiden
schwelgen! … So gründet sich der Sieg der Gemeinde auf die Lebenshingabe ihres
Herrn. Das Lammesblut schließt Menschenruhm genau so
aus wie das Gottessiegel 7,4.“ (Pohl, 231f.).
Für Maier liegt
„die Lösung dieses Problems … darin, dass der Mensch das Angebot des Heils
annehmen muss“ (Maier I,
369). Für Roloff spielen diese Aussagen auf die Taufe an (Roloff, 92).
Diese Interpretationen leiden aber darunter, dass sie nicht auf den Kontext der „großen Bedrängnis“ eingehen. Zu fragen ist, welche Beziehung zwischen der „großen Bedrängnis“ und dem Waschen der Kleider im Blut des Lammes besteht. In diesem Zusammenhang ist folgende Erklärung naheliegend: „Die Christen bekommen erst durch ihr treues Erdulden der Bedrängnis bis zu ihrem Tod am Tod Christi und dadurch auch an dessen Sieg Anteil.“ (Satake, 233). Im Martyrium haben sie ihre Kleider im Blut des Lammes gewaschen. „Weil die Christen durch ihr Verhalten sich zur Erlösung durch das Blut Christi bekannt, sich also in der Drangsal bewährt haben, gewannen sie bleibenden Anteil an der einmal geschehenen Heilstat Christi, symbolisiert durch sein Blut.“ (U. Müller, 183).
In welchem Verhältnis stehen die „große Volksmenge“ und die 144.000? Bei den 144.000 ging es um Christen, die vor dem Beginn einer schwierigen Zeit durch die Versiegelung unter Gottes besonderen Schutz gestellt werden. Die „große Volksmenge“ aber hat die Bedrängnis hinter sich und steht nun vor dem Thron Gottes. Die 144.000 und die „große Volksmenge“ unterscheiden sich in Ort und Zeit, aber „gerade nicht in den angeführten Personen. Denn die 144.000 wurden ja für ‚die große Bedrängnis‘ versiegelt; und die große Menge, die niemand zählen konnte‘, sind dann diejenigen, ‚die aus der großen Bedrängnis kommen‘ (Apk 7,14) – und die doch deshalb aus ihr herauskommen, weil sie zuvor versiegelt worden sind.“ (Wengst, 239; vgl. zu 7,4).
In dem Zwischenstück
geht es also um die Nachfolger Jesu vor und nach der „großen Bedrängnis“. „Ausgespart bleibt noch das, was die Gemeinde
in der Zeit dazwischen erfahren wird an Bedrohung, Verfolgung, äußerer
Niederlage und Herausforderung zur Bewährung des Glaubens. Ehe davon die Rede
sein wird (12,1-19,10), wird ihr hier das tröstliche Bild der ihr geltenden
Verheißung Gottes vor Augen geführt.“ (Roloff,
90).
(15) Nachdem sie aus der „großen Bedrängnis“ gekommen ist, steht die „große Volksmenge“ vor dem „Thron Gottes“ und sie alle „dienen“ Gott „Tag und Nacht“. Das griechische Wort, das hier mit „dienen“ übersetzt wird, bezeichnet eine gottesdienstliche Handlung (Mt.4,10: „… Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen“; Lk.2,37: „… diente Gott Nacht und Tag mit Fasten und Beten.“ Hebr.9,9: „… die im Gewissen den nicht vollkommen machen können, der den Gottesdienst ausübt.“ vgl. 10,2; 13,10).
Dieser Dienst findet „vor dem Thron Gottes“ und „in seinem Tempel“ statt. Gemeint ist natürlich der Tempel, der sich im Himmel befindet. Nach 21,22 sieht Johannes im neuen Himmel keinen Tempel mehr, weil Gott und das Lamm der Tempel sind. Entscheidend ist, dass Gott der „großen Volksmenge“ ganz nah ist, dass der „der auf dem Thron sitzt …über ihnen wohnen“ wird (wörtl.: „zeltet“).
(16) Die unmittelbare Nähe Gottes zur „großen Volksmenge“ hat zur Folge, dass sie nicht mehr unter Hunger und Durst und auch nicht unter der Sonne oder irgendeiner Hitze leiden müssen. Hier wird eine Verheißung aus Jes.49,10 aufgegriffen: „Sie werden nicht hungern und nicht dürsten, und weder Wüstenglut noch Sonne wird sie treffen …“
(17) Auch die Begründung knüpft an Jes.49,10 an: „… Denn ihr Erbarmer wird sie leiten und wird sie zu Wasserquellen führen.“ In der Offenbarung ist aber anstelle von „Wasserquellen“ von „Wasserquellen des Lebens“ die Rede, also von Quellen, die ewiges Leben verleihen (Offb.22,1; vgl. Hes.47,1-12). Der Schlusssatz „und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen“ findet sich auch in Off.21,4 und stammt aus Jes.25,8. Die „große Volksmenge“ empfängt ewiges Leben und wird von Gott selbst getröstet.
Zusammenfassung: Während es bei den 144.000 darum ging, Nachfolger Jesu vor den Wirren der Endzeit unter Gottes besonderen Schutz zu stellen, richtet die Vision über die „große Volksmenge“ den Blick auf die Gemeinde in der Vollendung. Die „große Volksmenge“ hat – durch Gottes Schutz – die große Bedrängnis überstanden und lebt in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott. Weil Gott ihnen das ewige Leben geschenkt hat, gehören alle Entbehrungen der Vergangenheit an.
4.4 Das siebte
Siegel (8,1-5)
(1)
Und als es das siebente Siegel öffnete, entstand ein Schweigen im Himmel, etwa
eine halbe Stunde.
(2)
Und ich sah die sieben Engel, die vor Gott stehen; und es wurden ihnen sieben
Posaunen gegeben.(3) Und ein anderer Engel kam und stellte sich an den Altar,
und er hatte ein goldenes Räucherfass; und es wurde ihm viel Räucherwerk
gegeben, damit er es für die Gebete aller Heiligen auf den goldenen Altar gebe,
der vor dem Thron ist. (4) Und der Rauch des Räucherwerks stieg mit den Gebeten
der Heiligen auf aus der Hand des Engels vor Gott. (5) Und der Engel nahm das
Räucherfass und füllte es von dem Feuer des Altars und warf es auf die Erde;
und es geschahen Donner und Stimmen und Blitze und ein Erdbeben.
Beim ersten Lesen stellt sich sofort die Frage, ob der Bericht über das siebte Siegel nur aus einem Vers (8,1) besteht oder ob er bis 8,5 geht. „Diese Frage ist für die Auslegung äußerst wichtig … Wenn das Letztere der Fall ist, könnten die sieben Posaunen im siebten Siegel enthalten sein. Man hätte dann einen geschichtlichen Ablauf von sechs Siegeln. Mit dem siebten Siegel würde sich eine neue Serie eröffnen, nämlich die Posaunenvision. Die grundsätzliche Frage lautet demnach: Liegt bei den Posaunen Rekapitulation vor, das heißt, erstrecken sich die Posaunen über den gleichen geschichtlichen Rahmen wie die Siegel, oder muss man mit Sukzession rechnen“ (E. Müller, 144) – also damit, dass die Posaunen sich aus den Siegeln ergeben und sie fortsetzen.
Was
ist „Rekapitulation“? „Vertreter der Methode der Rekapitulation gehen davon
aus, dass einige Teile der Offenbarung im Vergleich miteinander zu einem
gewissen Grad Wiederholungen aufweisen. Im historischen Teil der Offenbarung
beginnt jeder dieser großen Teile in der Zeit des Johannes und führt zur
endgültigen Vollendung, die im Zusammenhang mit der Wiederkunft Jesu steht. In
anderen Worten: Der Autor leitet seine Hörer und Leser mehrfach über denselben
Grund, fügt aber jedesmal eine neu Perspektive hinzu.
Progression im Gegensatz zu Rekapitulation betont im Wesentlichen einen
einzigen abschließenden Höhepunkt im Buch Offenbarung. Alles bewegt sich auf
diesen Höhepunkt zu. Nach dieser Vorstellung laufen beispielsweise die sieben
Posaunen zu einem gewissen Teil nicht parallel zu den sieben Siegeln ab,
sondern erwachsen aus den Siegeln und sind deren Fortsetzung.“ (E. Müller, 71)
Auch hier muss die Entscheidung darüber am Bibeltext selbst fallen. Bei der Auslegung von 8,1-5 ist zu fragen, ob das siebte Siegel mit 8,1 endet. Außerdem muss geklärt werden, ob die ab 8,6 geschilderten Posaunen tatsächlich auf Ereignisse zu beziehen sind, die im Sinne des Rekapitulationsprinzips „in ihren Hauptzügen“ parallel zu denen der Siegel stehen (E. Müller, 82) – oder nicht (bzw. ob sie nur mit „Gewalt“ in ein vorgegebenes zeitliches Schema gepresst werden können).
(1) Als das siebte Siegel geöffnet wird, entsteht „ein Schweigen im Himmel“ – und zwar für „etwa eine halbe Stunde“. Wie ist das zu verstehen?
Zum „Schweigen im Himmel“ gibt es verschiedene Deutungsversuche.
„Die Stille wurde verstanden als
Ausdruck des ekstatischen Erlebens (…), als das primordiale
Schweigen vor der Schöpfung und am Ende der Zeit in Anlehnung an 4 Esr 6,39; 7,30f.; syrBar 3,7; LibAnt 60,2 (…); als
ein ursprüngliches Theophaniemotiv (…); als das
Schweigen Gottes bzw. der Engel (…); als das Stillesein
der Engel angesichts der aufsteigenden Gebete in Off 8,3f. (…); als die
Krisenzeit im Kontext der Kreuzigung Jesu (…); letztlich einfach die Zeit, in
der Johannes ‚nichts zu hören bekommen hat‘ (…) …“ (Tóth,
Kult, 320).
Überzeugen können nur Deutungen, die sich im Zusammenhang als sinnvoll erweisen. Nun ist in Vers 2 von den „Posaunen“ die Rede. In ihnen geht es um Gottes Gericht über die gottlose Welt. Deshalb sind hier alttestamentliche Bezüge von Interesse, in denen Gottes Gericht mit der Stille vor Gott bzw. der Sille im Tempel verbunden ist. Das ist vor allem bei folgenden Aussagen der Fall: Zef.1,7: „Seid still vor dem Herrn, HERRN! Denn nahe ist der Tag des HERRN, denn der HERR hat ein Schlachtopfer zubereitet, er hat seine Geladenen geheiligt.“ Hab.2,20: „Der HERR aber ist in seinem heiligen Palast. Schweige vor ihm, ganze Erde!“ Sach.2,17: „Alles Fleisch schweige vor dem HERRN! Denn er hat sich aufgemacht aus seiner heiligen Wohnung.“ Dann ist das „Schweigen im Himmel“ ein „die Theophanie vorbereitendes Zeichen, das … in diesem Zusammenhang auf den Beginn der neuen Gerichtsereignisse vorbereitet“ (U. Müller, 185; vgl. E. Müller, 172; Stefanovic, 247; Wittwer, 55).
Sehr viel schwieriger zu beantworten ist die Frage, was es bedeuten soll, dass dieses Schweigen „etwa eine halbe Stunde“ andauert. „Eine befriedigende Erklärung der ‚halben Stunde‘ ist der Forschung bislang … noch nicht gelungen.“ (Roloff, 93; vgl. Lichtenberger, 152; Stefanovic, 247). Roloff selbst versucht eine Deutung, in dem er auf die Bedeutung des Begriffs „Stunde“ in der Offenbarung hinweist und darauf, dass Johannes auch an anderer Stelle symbolische Zahleinheiten halbiert, z.B. 3½ statt 7).
Interessant ist der Vorschlag von Tóth (Tóth, Kult, 353ff.), der auf ein von Josephus berichtetes halbstündliches Unheilszeichen kurz vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels hinweist:
„(288) Auf
solche Art ließ sich damals das unglückliche Volk von seinen Verführern und
falschen Gottesgesandten gängeln, während es andererseits die Erscheinungen,
welche die kommende Verödung prophezeiten, weder beachtete noch an ihre
Bedeutung glaubte, sondern ganz so, als hätte ihm der Donner das Gehör
verschlagen, und als wäre es ohne Augen und ohne Leben, die feierlichen
Weisungen Gottes vollständig ignorierte. (289) So erschien einmal
über der Stadt ein Gestirn, das viele Ähnlichkeit mit einem großen Schwerte
hatte, wie auch ein Komet, der ein ganzes Jahr hindurch am Himmel
verblieb. (290) Ein anderes Mal – es war noch vor dem Abfall von Rom und
vor dem Ausbruch der ersten kriegerischen Bewegung – als das Volk sich eben am
achten des Monates Xanthikus zur Feier des Festes der
ungesäuerten Brote versammelt hatte, da umfloss um die neunte Stunde der Nacht
ein so gewaltiger Lichtglanz Altar und Tempelhaus, dass es heller Tag zu sein
schien, was etwa eine halbe Stunde währte. (291) Obwohl die
Erscheinung in den Augen der Unkundigen als eine gute Vorbedeutung galt, so
gaben ihr doch die Schriftkundigen sofort jene Erklärung, die durch die
folgenden traurigen Ereignisse bestätigt worden ist.“ (Josephus,
Jüdischer Krieg 6, 288-291. zit nach: https://de.wikisource.org/wiki/Juedischer_Krieg/Buch_VI_4-10; Zugriff
08.06.2017).
Adventistische
Bibelausleger haben versucht, diese Frage mit Hilfe des Jahr-Tag-Prinzips zu
lösen und kamen dementsprechend auf einen Zeitraum von sieben Tagen (Smith, 477; ABC VII,
787 erwähnt diese Sichtweise – ohne sich für oder gegen sie zu entscheiden). Neuere
adventistische Auslegungen schließen sich dieser Sicht nicht an (Stefanovic, 247).
(2)
Nach der halbstündigen Stille im Himmel sieht Johannes „die sieben Engel, die vor Gott stehen“. Möglicherweise handelt es
sich dabei um die „sieben Geister Gottes“,
die vor dem Thron Gottes sind (1,4; 4,5; 5,6; Roloff, 97, Tóth, Kult, 340). In diesem Zusammenhang ist auch eine Aussage des
apokryphen Buchs Tobit (bzw. Tobias) von Interesse,
in der der Engel Rafael folgende Aussage macht: „Ich bin Rafael, einer von den sieben heiligen Engeln, die die Gebete
der Heiligen hinauftragen und vor die Majestät des heiligen Gottes hintreten.“
(Tob.12,15; nach dem „Kurztext“ zitiert
in der Übersetzung der LXX-D).
Den sieben Engeln werden „sieben Posaunen“ gegeben. Diese Instrumente werden im Kult eingesetzt (z.B. 4.Mos.10,10) und im „heiligen Krieg“ (z.B. 4.Mos.10,9-10; 2.Chr.13,14-15; wie 4.Mos.10,8-10 zeigt, stehen der Gebrauch der Posaune im „Heiligen Krieg“ und im Kult eng zusammen).
Außerdem stehen Posaunen in der Symbolsprache der Bibel für das Gericht Gottes. So bezeichnet Zefanja den „Tag des HERRN“, den Gerichtstag, auch als „Tag des Horns“ (Zef.1,14-16; vgl. Joel 2,1; Jes.27,13; Sach.9,14). Auch die Wiederkunft Jesu ist mit dem Ertönen der „Posaune Gottes“ verbunden (1.Thess.4,16) und damit, dass er seine Engel mit „hellen Posaunen“ senden wird (Mt.24,31).
(3) Bevor die Aktivitäten der sieben Engel mit den Posaunen näher beschrieben werden, tritt noch ein „anderer Engel“ auf. Er hat ein „goldenes Räucherfass“ und stellt sich „an den Altar“. Welcher Altar ist gemeint? Vermutlich der „Räucheraltar“, an dem die Priester mit Hilfe einer „Räucherpfanne … Rauchopfer“ darbringen (2.Chr.26,16-19).
Im letzten Teil des Verses ist davon die Rede, dass ihm „viel Räucherwerk gegeben“ wird, „damit er es für die Gebete aller Heiligen auf den goldenen Altar gebe, der vor dem Thron ist“. Ist damit derselbe Altar gemeint oder handelt es sich dabei um einen weiteren Altar? Weil vom „goldenen Altar“ Rauch aufsteigt (8,3) und dieser Altar vor dem Thron Gottes steht, kann es sich eigentlich nur um den Räucheraltar handeln (E. Müller, 179; Stefanovic, 284. Tóth, Kult, 437). Schließlich bekam Mose den Befehl, den „goldenen Altar für das Räucherwerk vor die Lade des Zeugnisses“ zu stellen (2.Mos.40,5).
Entscheidend ist nun, dass das Räucherwerk zusammen mit den „Gebeten der Heiligen“ dargebracht wird. Von den „Gebeten der Heiligen“ ist noch 5,8 die Rede (dort werden die Gebete der Heiligen mit dem Räucherwerk gleichgesetzt). Handelt es sich „ganz allgemein“ um „Gebete der gottesdienstlichen Gemeinde“ (Roloff, 97; Tóth, Kult, 347) oder um die Gebete von Märtyrern, von denen in 6,10 die Rede war: „Bis wann, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Wengst, 251f.; Stefanovic, 277.285). Diese Frage muss im Lichte der Reaktion auf die „Gebete der Heiligen“ beantwortet werden.
(4-5) Der „Rauch des Räucherwerks“ steigt zusammen „mit den Gebeten der Heiligen … vor Gott“. Die Gebete kommen „Gott zu Ohren“ (Wengst, 251). Daraufhin füllt der „andere Engel“ das Räuchergefäß mit Feuer vom Altar und schüttet es auf die Erde. Diese Szene erinnert an Hes.10,2, wo einem Mann von Leinwand befohlen wird, seine „Hände mit Feuerkohlen“ zu füllen, „die zwischen den Cherubim sind“ und sie „über die Stadt“ zu streuen. Dabei handelt es sich um eine Gerichtshandlung. Sie löst Donner, Stimmen, Blitze und Erdbeben aus, die typischen Begleiterscheinungen einer Gottesoffenbarung (vgl. 4,5), die hier zu „Vorboten des Gerichts“ werden (U. Müller, 187). Das ist offenbar die Antwort auf die „Gebete der Heiligen“ – und daraus folgt, dass es sich dabei um das Gebet der Märtyrer aus 6,10 handelt, das nun erhört wird, indem Gott sein Gericht in Gang setzt.
„Diese Gebete, geschrien aus der Not, die die Wiederherstellung des Rechts verlangen, kommen bei Gott an; und sie gelangen als glühende Kohlen auf die Erde zurück und lösen dort Gottes Gerichtshandeln aus … Die Gemeinde erhält … die Vergewisserung, dass ihre Gebete nicht in den Wind gesprochen sind, sondern sich erfüllen werden. Mit all dem wird sie angeleitet, das Unrecht protestierend vor Gott zu bringen.“ (Wengst, 252).
Zusammenfassung: „Gott schickt sich an,
seine Macht zu erweisen, indem er seinen Zorn über die ungehorsame Menschheit
sichtbar in Erscheinung treten lässt. Indem er dies tut, antwortet er der Bitte
seines Volkes um die endgültige Durchsetzung seiner Herrschaft.“ (Roloff, 98).
Ein kurzer Nachtrag: Was bedeutet dies für die Frage, ob das siebte Siegel mit 8,1 endet und das „Rekapitulationsprinzip“? Eine sorgfältige Lektüre ergibt zumindest, dass es keinen Bruch zwischen 8,1 und 8,2-5 gibt. Ob die ab 8,6 geschilderten Posaunen tatsächlich auf Ereignisse zu beziehen sind, die im Sinne des Rekapitulationsprinzips parallel zu denen der Siegel stehen, muss sich endgültig in der Auslegung der Posaunen erweisen.