3       Die Thronsaalvision (4,1-5,14)

 

Die Thronsaalvision besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird der Thronsaal beschrieben (4,1-11). Anschließend (5,1-14) wird eine entscheidende Szene geschildert, die sich dort vollzieht. Darin geht es um ein Buch mit „sieben Siegeln“, das nur vom „Lamm“ geöffnet werden kann (5,1-14). In der anschließenden Vision (6,1ff.) folgt dann die Öffnung dieser Siegel.

 

 

3.1    Der Thron Gottes im Himmel (4,1-11)

 

(1) Nach diesem sah ich: Und siehe, eine Tür, geöffnet im Himmel, und die erste Stimme, die ich gehört hatte wie die einer Posaune, die mit mir redete, sprach: Komm hier herauf! Und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss. (2) Sogleich war ich im Geist: und siehe, ein Thron stand im Himmel, und auf dem Thron saß einer.(3) Und der da saß, war von Ansehen gleich einem Jaspisstein und einem Sarder, und ein Regenbogen war rings um den Thron, von Ansehen gleich einem Smaragd.(4) Und rings um den Thron sah ich vierundzwanzig Throne, und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste, bekleidet mit weißen Kleidern, und auf ihren Häuptern goldene Siegeskränze.(5) Und aus dem Thron gehen hervor Blitze und Stimmen und Donner; und sieben Feuerfackeln brennen vor dem Thron, welche die sieben Geister Gottes sind.(6) Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall; und inmitten des Thrones und rings um den Thron vier lebendige Wesen, voller Augen vorn und hinten.(7) Und das erste lebendige Wesen war gleich einem Löwen und das zweite lebendige Wesen gleich einem jungen Stier, und das dritte lebendige Wesen hatte das Angesicht wie das eines Menschen, und das vierte lebendige Wesen war gleich einem fliegenden Adler.(8) Und die vier lebendigen Wesen hatten, eines wie das andere, je sechs Flügel und sind ringsum und inwendig voller Augen, und sie hören Tag und Nacht nicht auf zu sagen: Heilig, heilig, heilig, Herr, Gott, Allmächtiger, der war und der ist und der kommt!(9) Und wenn die lebendigen Wesen Herrlichkeit und Ehre und Danksagung geben werden dem, der auf dem Thron sitzt, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit,(10) so werden die vierundzwanzig Ältesten niederfallen vor dem, der auf dem Thron sitzt, und den anbeten, der von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt, und werden ihre Siegeskränze niederwerfen vor dem Thron und sagen: (11) Du bist würdig, unser Herr und Gott, die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht zu nehmen, denn du hast alle Dinge erschaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden.

 

(1) Mit den Worten „nach diesem sah ich“ beginnt ein neuer Abschnitt (vgl. 7,1; 18,1; 19,1). Johannes sieht „eine Tür, geöffnet im Himmel“. Aufgrund von Vers 2 liegt es nahe, dass es sich dabei um eine „Tür“ zum Thronsaal Gottes handelt.

 

Diese Deutung wird auch durch eine Vision aus dem äthiopischen Buch Henoch unterstützt, in der von Türen die Rede ist, die vor dem Seher offen stehen, so dass er den Thron Gottes im Himmel sehen kann.

äthHen 14,14-20: (14) Da ich erschüttert war und zitterte, fiel ich auf mein Angesicht und schaute [Folgendes] im Gesichte: (15) Siehe, da war ein anderes Haus, größer als jenes; alle seine Thüren standen vor mir offen, und es war aus feurigen Zungen gebaut. (16) In jeder Hinsicht, durch Herrlichkeit, Pracht und Größe zeichnete es sich so aus, dass ich euch keine Beschreibung von seiner Herrlichkeit und Größe geben kann. (17) Sein Boden war von Feuer; seinen oberen Teil bildeten Blitze und kreisende Sterne, und seine Wege war loderndes Feuer. (18) Ich schaute hin und gewahrte darin einen hohen Thron. Sein Aussehen war wie Reif; um ihn herum war etwas, das der leuchtenden Sonne glich und das Aussehen, von Keruben hatte. (19) Unterhalb des Throns kamen Ströme lodernden Feuers hervor, und ich konnte nicht hinsehen. (20) Die große Majestät saß darauf; …“ (vgl. dazu Tóth, Kult, 231ff.).

 

In diesem Zusammenhang ist die Frage von Interesse, welche Beziehung zwischen dem Thronsaal und dem himmlischen Heiligtum besteht.

 

Im AT ist immer wieder davon die Rede, dass Gott „über den Cherubim“ der Bundeslade (Ex.25,10ff.) „thront“ (1.Sam.4,4: „… Und man brachte von dort die Lade des Bundes des HERRN der Heerscharen, der über den Cherubim thront …“; vgl. Ps.99,1; Jer.3,16.17). Thron und Tempel sind also eng miteinander verbunden.

„Sowohl für den hellenistisch-römischen als auch jüdischen Vorstellungshorizont sind Thron und Tempel eng aufeinander bezogen und. können miteinander verschmelzen … Vor diesem Hintergrund wird es nicht verwundern, wenn die Off nicht nur da, wo der Tempelbegriff … explizit benannt wird, sondern auch an Stellen, wo dieser Begriff keine ausdrückliche Erwähnung findet (…), das im religions- und traditionsgeschichtlichen Vorstellungsbereich angelegte (himmlisch/irdische) Tempelkonzept aufnimmt und neu bereichert und gestaltet.“ (Tóth, Kult, 197ff.).

 

So kann die in 4,1 genannte Tür auch als Tür zum Heiligtum betrachtet werden. Johannes wird „durch das (sakralarchitektonische) Motiv der Tür nun in das ‚innerste Heiligtum‘ versetzt, um dort des göttlichen Thrones und des diesen umgebenden (Sakral)Raumes ansichtig zu werden“ (Tóth, Kult, 230; vgl. Stefanovic, 184; Böttcher, 93; Wittwer, 40). Dem entspricht, dass bereits die Berufungsvision  (1,9-20) viele Motive aus dem Heiligtum bzw. dem Priesterdienst enthielt.

 

Als Johannes die offene Tür in den himmlischen Thronsaal sieht, spricht wieder die Stimme zu ihm, die er bereits in der Berufungsvision (1,10) gehört hatte: die „Stimme … wie die einer Posaune“ (1,10). Im Rahmen der Berufungsvision handelte es sich entweder um die Stimme eines Engels oder die des Menschensohns (1,12f.).

 

Die Stimme fordert Johannes dazu auf, zu dieser „Tür … im Himmel“ hinaufzusteigen. Auch dieser Befehl kann als Anklang an das Heiligtum verstanden werden, weil das Heraufsteigen ein „Terminus der kultischen Sprache“ ist (ThWNT, I, 517; vgl. z.B. 2.Kön.19,14.15). Mit dieser Aufforderung ist die Verheißung verbunden, dass ihm dort gezeigt wird, „was nach diesem geschehen muss“. Damit knüpft die Stimme an 1,19 an, wo Johannes aufgefordert wurde: „Schreibe nun, was du gesehen hast und was ist und was nach diesem geschehen wird.“ Das, „was ist“, wurde in den Botschaften an die sieben Gemeinden angesprochen und betraf deren gegenwärtige Situation. „Was nach diesem geschehen wird“ (1,19) bzw. „was nach diesem geschehen muss“ (4,2) sind daher zukünftige Ereignisse. Auf ihnen liegt jetzt das Augenmerk.

 

(2) Wie in 1,10 ist Johannes „im Geist“. Er wird an einen anderen Ort versetzt, so dass er den Thron im Himmel sieht – und den, der auf dem Thron sitzt. Der Thron im Himmel ist natürlich der Thron Gottes (vgl. z.B. 12,5: „… und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und zu seinem Thron.“). Dementsprechend ist der, der auf dem Thron sitzt, niemand anders als Gott (in der Offb. ist an zwölf Stellen davon die Rede, dass Gott auf dem Thron sitzt: 4,2.9.10; 5,1.7.13; 6,16; 7,10.15; 19,4; 20,11; 21,5). Thronsaalvisionen finden sich auch in anderen biblischen Büchern, vor allem im Buch Hesekiel (Hes.1 und 10) und im Buch Daniel (7,9ff.)

 

(3) Nun wird Gott, der auf dem Thron sitzt, näher beschrieben. Dabei macht der Text selbst deutlich, dass es sich hier um Vergleiche handelt („… von Ansehen gleich …“). Danach ist Gott wie die Edelsteine Jaspis und Sarder anzusehen. Beide Steine gehörten auch zur Brustplatte des Hohenpriesters (2.Mos.28,17-20; vgl dazu Stephanovic, 185) und finden sich in der Beschreibung der anfänglichen Herrlichkeit des Königs von Tyrus (Hes.28,13). Jaspis wird in 21,11 als „kristallheller“ Stein beschrieben. Sarder hatte einen rötlichen Glanz (U. Müller, 144). „Der Glanz der hellsten Edelsteine“ soll vermutlich ein „Gleichnis für die Lichtherrlichkeit und Reinheit Gottes“ sein (ThWNT, IV, 273). Um den Thron Gottes herum sieht Johannes einen smaragdfarbenen Regenbogen. Dabei handelt es sich um ein ins Bläuliche übergehendes Grün (Roloff, 67).

 

Die Beschreibungen Gottes fallen innerhalb der Offenbarung des Johannes deutlich zurückhaltender aus, als in anderen Visionsberichten. Einige Elemente erinnern an eine Vision des Propheten Hesekiel: (26) Und über der Feste, die über ihrem Haupt war, sah es aus wie ein Saphir, einem Thron gleich, und auf dem Thron saß einer, der aussah wie ein Mensch. (27) Und ich sah, und es war wie blinkendes Kupfer aufwärts von dem, was aussah wie seine Hüften; und abwärts von dem, was wie seine Hüften aussah, erblickte ich etwas wie Feuer und Glanz ringsumher. (28) Wie der Regenbogen steht in den Wolken, wenn es geregnet hat, so glänzte es ringsumher. So war die Herrlichkeit des Herrn anzusehen. Und als ich sie gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörte einen reden.“ (Hes.1,26-28).

 

(4) Nach diesem kurzen Blick auf den Thron Gottes wird nun der Thronsaal beschrieben. Um den Thron Gottes herum stehen weitere 24 Throne, auf denen 24 Älteste sitzen. Auch in der Thronsaalvision des Propheten Daniel (Dan.7,9: „Ich schaute, bis Throne aufgestellt wurden …“) und in den Schilderungen des tausendjährigen Reiches (20,4: „Und ich sah Throne, und sie setzten sich darauf, und das Gericht wurde ihnen übergeben …“) ist von weiteren Thronen die Rede. Das erinnert an den „Thronrat eines orientalischen Herrschers, den seine Vasallen umgeben.“ (Holtz, 56). Davon, dass Gott „vor seinen Ältesten“ als König herrscht, ist aber bereits in Jes.24,23 die Rede.

 

Wer aber sind die 24 Ältesten? Dazu gibt es vor allem folgende Deutungen:

„1) die Ältesten repräsentieren die 12 Patriarchen und die 12 Apostel (vgl. Off 21,12ff.),

2) sie stellen die 24 Sterngötter der Babylonier dar (…),

3) sie bilden die 24 Priesterabteilungen und Sängerabteilungen des Alten Bundes ab (vgl. 1.Chr.24-25).“

(Maier I, 262.)

 

Unter adventistischen Bibelauslegern ist die Auffassung vorherrschend, dass es sich dabei um Erlöste des alten und neuen Bundes handelt, die bereits von den Toten auferstanden sind und zu Gott entrückt wurden (Stefanovic, 186; Böttcher, 95f.; Wittwer, 41). Dafür spricht möglicherweise, dass die Ältesten mit „weißen Kleidern“ bekleidet sind und „Siegeskränze“ tragen – was typisch für diejenigen ist, die ihren Glauben in schwierigen Zeiten durchgehalten haben (weiße Kleider: 3,5; 7,9.13f.; Siegeskränze: 2,10; 3,11).

 

Für Satake ist diese Bekleidung mit „weißen Kleidern“ lediglich ein Hinweis auf ihre „himmlische Majestät“ (Satake, 197). Er ist der Auffassung, dass es sich bei den Ältesten um Engelwesen handelt. Tatsächlich tritt in 5,5 und 7,13f. ein Ältester in der Rolle eines Interpreten auf, der Johannes das Gesehene erklärt. Diese Aufgabe wird normalerweise von Engeln wahrgenommen (z.B. 17,7ff.), was dafür spricht, dass es sich bei den Ältesten ebenfalls um Engel handelt. Außerdem „erinnert die Anrede ‚mein Herr‘, die Johannes einem der Ältesten gegenüber ausspricht (7,14), an seinen zurückgewiesenen Versuch der Anbetung des Engels in 19,10 und 22,8.“ Schließlich „vermitteln die Ältesten in 5,8 das Gebet der Christen, wofür in 8,3 ein Engel zuständig ist.“ (Satake, 197).

 

Auch wenn die kritischen Hinweise Satakes richtig sind, kann die erste der genannten Deutungen insofern aufrecht erhalten werden, als man von Engelwesen ausgeht, „die aber ihre Eigenart darin haben, dass sie tatsächlich das Gottesvolk des Alten und des Neuen Bundes repräsentieren“ (Maier I, 263).

 

Es gibt jedoch gute Gründe für die dritte Deutung. Nach 1.Chr.24,1-19 gab es in alttestamentlicher Zeit 24 Abteilungen der Priester und nach 1.Chr.25 eine entsprechende Anzahl von Abteilungen der Sänger. Dem entspricht, dass die Ältesten priesterliche Aufgaben übernehmen und Gott im Lied anbeten. Das wird vor allem in 5,8-9 deutlich: „(8) Und als es [Lamm] das Buch nahm, fielen die vier lebendigen Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und sie hatten ein jeder eine Harfe und goldene Schalen voller Räucherwerk; das sind die Gebete der Heiligen. (9) Und sie singen ein neues Lied und sagen: Du bist würdig, das Buch zu nehmen …“ (vgl. 5,11-14; 11,16-18;19,4).

 

Gemeint ist dann: „Stellvertretend für das übrige am Tempelkultgeschehen teilnehmende Volk führen die 24 Priester-Ältesten die kultische Adoration [Anbetung] im himmlischen Tempelthronraum durch, das mittels des Haltens der Schalen voll Räucherwerkgebete (Off 5,8) und des die Erlösung der Gläubigen thematisierenden Hymnus (Off 5,9f.) sinnfällig zum Ausdruck gebracht wird. Durch die 24 Ältesten, die die Gebete der Heiligen in den Händen halten und für diese stellvertretend in den universalen Lobpreis einstimmen, nehmen also die Gläubigen auf der Erde bereits am himmlischen Kultgottesdienst teil. Die zahlreichen mit Not und Sorge gefüllten Gebete können durch die Anwesenheit der 24 Ältesten am himmlischen Gottesthron gehört werden.“ (Tóth, Kult, 215f. Vgl. Maier I, 264: „Die Ältesten sind also Liturgen eines himmlischen Gottesdienstes, der in V.8-11 gipfelt.“).

 

Der adventistische Bibelkommentar stellt die verschiedenen Interpretationen (abgesehen von der Deutung auf 24 babylonische Sterngötter) als gleichwertig nebeneinander (ABC, VII, 767f.).

 

(5) Nach der Beschreibung des Thrones Gottes und der Ältesten „rings um den Thron“, wird die Gegenwart Gottes dadurch unterstrichen, dass auf „Blitze und Stimmen und Donner“ verwiesen wird, die „aus dem Thron“ hervorgehen. Diese Phänomene sind typisch für eine Gotteserscheinung (z.B. 2.Mos.19,16; vgl. Off.8,5; 11,19; 16,17f.).

 

Dann wird der Bereich um den Thron näher beschrieben. In unmittelbarer Nähe des Throns befinden sich sieben brennende Fackeln. Das entspricht Hes.1,13: „Und mitten zwischen den lebenden Wesen war ein Schein wie von brennenden Feuerkohlen; wie ein Schein von Fackeln war das, was zwischen den lebenden Wesen hin– und herfuhr; und das Feuer hatte einen Glanz, und aus dem Feuer fuhren Blitze hervor.“ Die Siebenzahl ist vielleicht eine Anspielung auf den siebenarmigen Leuchter (Roloff, 68). Der Visionsbericht selbst erklärt die Bedeutung der sieben Fackeln: „… welche die sieben Geister Gottes sind“. Die „sieben Geister Gottes“ (vgl. 1,4; 3,1) werden in 5,6 als Boten Gottes für die Menschheit beschrieben: „… dies sind die sieben Geister Gottes, ausgesandt über die ganze Erde“.

 

(6a) Vor dem Thron befindet sich etwas „wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall“. Das Buch Hesekiel schildert im Zusammenhang mit der Gotteserscheinung „ein festes Gewölbe, wie das Funkeln eines furchteinflößendes Kristall“ (Hes.1,22), über dem der Thron Gottes steht (Hes.1,26). Dieses Bild wurzelt vermutlich in „der altorientalischen Vorstellung, dass sich die himmlische Welt über dem Himmelsozean befindet und der göttliche Palast auf dessen Wasser ruht (Ps 29,10; 104,3; slavHen 3). Doch ist die ursprüngliche Bedeutung kaum mehr erfasst; denn das Meer ist nur noch vor dem Thron (vgl. auch 15,2; 22,1).“ (U. Müller, 145). Vielleicht ist das „gläserne Meer“ auch ein Anklang an das Waschbecken der Stiftshütte (2.Mos.30,17-21) bzw. das „Meer“ des Jerusalemer Tempels (1.Kön.7,23).

 

(6b-8) Dann sieht Johannes „vier lebendige Wesen“. Ihnen kommt eine herausragende Bedeutung zu. Sie befinden sich „inmitten des Thrones und rings um den Thron“, sind „voller Augen vorn und hinten“, gleichen einem Löwen, einem Stier, einem Menschen oder einem Adler und besitzen sechs Flügel, die „ringsum und inwendig voller Augen“ sind.

 

Die „Wesen“ haben große Ähnlichkeit mit denen aus Hes.1 und 10 (Hes.1,4-21; 10,1-17). Der Vergleich zeigt, dass es sich bei den Gestalten um Cherubim handelt.

Keruben sind geflügelte Mischwesen mit einem Menschengesicht und einem Löwenkörper. Sie entsprechen dem Sphinx in Ägypten. In Hes.41,18f. ist ein Mischwesen mit Menschen- und Löwenkopf vorausgesetzt.

Durch die Kombination von Körperteilen unterschiedlicher Lebewesen (Mensch / Tiere) werden die mit diesen verbundenen Eigenschaften, Funktionen und Bedeutungen in einem einzigen Wesen vereint und steigern so dessen überlegene, übernatürliche Gewalt und Macht ins Unermessliche. Im Alten Orient haben Keruben vor allem zwei Funktionen: Eine Wächter- und Schutzfunktion (…) und eine Tragefunktion (sie tragen die Gottheit bzw. bilden deren Thron). Beide Funktionen finden sich auch im Alten Testament …

Das Alte Testament kennt unterschiedliche Kerubenkonzeptionen. Auffällig ist auch, dass sowohl vom einzelnen Kerub als auch von Keruben im Plural gesprochen wird …

Keruben beschützen – wie Wächterfiguren bzw. Genien an den Eingängen assyrischer und babylonischer Paläste – den Weg zum Baum des Lebens bzw. den Berg Gottes (1.Mos.3,24 [Pl.]; Hes.28,14.16 [Sg.]) …

In 2.Sam.22,11 // Ps.18,11 fungiert der Kerub (Sg.!) als Himmelsreittier JHWHs im Zusammenhang seiner Theophanie (…). Hier ist vor allem die Ausstattung des Keruben mit Flügeln wichtig, da sie die Mobilität JHWHs unterstreicht …

Zur Innenausstattung des Salomonischen Tempels gehörten nach 1.Kön.6,23-28 zwei 10 Ellen (ca. 5 m) hohe Keruben aus Olivenholz, die nebeneinander, mit dem Gesicht nach vorn standen und mit ihren Flügeln den Gottesthron bildeten. Die inneren Flügel waren die Sitzfläche und die äußeren die Seitenlehne des Thrones.

Daneben waren auch die Wände und Türen des Tempels sowie die Kesselwagen mit umlaufenden Schnitzwerkverzierungen versehen, die u.a. Palmetten und Keruben darstellten (vgl. 1.Kön.6,29.32.351.Kön.7,29.36; …) …

Das JHWH-Prädikat ‚Kerubenthroner‘ in 1.Sam.4,4; 2.Sam.6,2 = 1.Chr.13,6; 2.Kön.19,15; Jes.37,16; Ps.80,2; Ps.99,1 entstammt  ursprünglich der Jerusalemer Kulttradition … Es bezieht sich unmittelbar auf den im Salomonischen Tempel befindlichen Kerubenthron JHWHs, wie z.B. Ps.99,1b.2a nahelegt, wo JHWH, ‚der Kerubenthroner‘, mit dem auf Zion residierenden Gott identifiziert wird … Das Königtum JHWHs und sein Thronen auf den Keruben gehören unaufhebbar zusammen (vgl. den synonymen Parallelismus membrorum in Ps.99,1 …). In 2.Kön.19,15 ist der Titel mit der Vorstellung von JHWH als König und Weltschöpfer verbunden. Hier und in Ps.80,2 ergeht an den Kerubenthroner eine Bitte um Hilfe und Schutz.“

http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/keruben-kerubenthroner/ch/4b7f1d9f930ed7c51d9f4893a5aad7e0/ (Zugriff 25.10.2017)

 

Auf dem Hintergrund der den Thron Gottes tragenden Cherubim wird auch die Aussage verständlich, dass sie „inmitten des Thrones und rings um den Thron“ sind“ (vgl. Hes.1,5: „Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten …“). Es handelt sich um „lebendige Teile des Thrones der Herrlichkeit“ (Tóth, Kult, 217).

 

Dass sie „vorn und hinten“ voller Augen sind, dient wahrscheinlich dazu, dass sie sich beim Gehen nicht umzuwenden brauchen (Hes.1,12; vgl. 10,11) und auf diese Weise den Thron Gottes besser bewachen können.

 

Die Bewachung des Thrones Gottes gehört jedenfalls nach dem äthiopischen Buch Henoch zu den Aufgaben der Cherubim.

äthHen.70,7-9: „(7) Und ich sah dort in der Mitte jenes Glanzes, dass darin Etwas, was erbaut war aus Steinen von Glas, (8) inmitten dieser Steine Zungen von lebendigem Feuer. Und es sah mein Geist eine Umschließung, welche umschloss dieses Haus des Feuers von seinen vier Enden, darin Ströme angefüllt mit lebendigem Feuer, und sie umschlossen dieses Haus. (9) Und es umgaben die Seraphs, die Cherubs und die Ophanin; dies sind diejenigen, welche nicht schlafen, und bewahren den Thron seiner Herrlichkeit.“ (vgl. Roloff, 69).

 

Auch dass es sich bei den vier Gestalten um Figuren handelt, die einem Löwen, einem Stier, einem Menschen oder einem Adler gleichen, entspricht der Vision im Buch Hesekiel (Hes.1,10; 10,14). Der einzige Unterschied besteht darin, dass es sich bei Hesekiel jeweils um ein Wesen mit vier verschiedenen Angesichtern handelt, während es in Off.4 um vier verschiedene Gestalten geht, die daher auch einzeln in Aktion treten können (6,1.3.5.7; 15,7).

 

Damit stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von Löwe, Stier, Mensch und Adler:

·         Im Laufe der Kirchengeschichte hat man versucht, sie mit den vier Evangelisten zu identifizieren (Irenäus, adv.haer.3,11,8; so auch Böttcher, 97).

·         Nach Maier steht der Löwe „für die wilden Tiere“ und „zugleich für Macht und Kraft“, der Stier für die „Haus- und Opfertiere“ und als „Repräsentanz von Kraft und Majestät“; der Mensch als Repräsentant der Menschheit und der Adler als Repräsentant der Vögel und der „Macht und Herrlichkeit des Schöpfers“ (Maier I, 271-273).

·         Zimmerli deutet die Gestalten des Buches Hesekiel dahingehend, dass „darin die königlichsten und stärksten Tiere bzw. Vögel zusammen mit dem Menschen herangezogen worden“ sind, „um die Aussage der allumfassenden Gottmacht, die sich in den throntragenden Wesen spiegelt, zu potenzieren“ (Walter Zimmerli, Hesekiel, Neukirchen-Vluyn 1979, 62).

·         Interessant ist auch der Vorschlag, die vier Gesichter der Gestalten des Hesekielbuchs als Repräsentanten der vier Himmelsrichtungen zu deuten, weil dadurch auch ihre Bewegungsrichtung erklärt werden kann (Hes.1,20). (Hans Ferdinand Fuhs, Ezechiel, Würzburg, 1986, 23).

 

Jedes der vier Wesen hat sechs Flügel – also zwei mehr als die in Hesekiel beschriebenen Wesen (Hes.1,6). Sie sind „ringsum und inwendig voller Augen“. Weil in 4,6 bereits davon die Rede war, dass die Wesen „voller Augen“ sind, bezieht sich diese Aussage vermutlich speziell auf die Flügel (Maier I, 274).

 

Vers 8b schildert nun die Tätigkeit der vier Gestalten: das unaufhörliche Lob Gottes.  Die Aussage, dass sie damit „Tag und Nacht“ nicht aufhören, entspricht Aussagen im Henochbuch.

äthHen.39,12: „Dich [Gott] preisen die nie Schlafenden; sie stehen vor deiner Herrlichkeit, preisen, rühmen und erheben sich, indem sie sprechen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Geister! Er erfülltet die Erde mit Geistern.“ (vgl. äthHen 70,9: „Und es umgaben die Seraphs, die Cherubs und die Ophanin; dies sind diejenigen, welche nicht schlafen, und bewahren den Thron seiner Herrlichkeit.“)

 

Das Lob Gottes besteht aus einem dreimaligen Ruf „heilig“ (vgl. Jes.6,3). Außerdem wird Gott als „Herr“, als „Allmächtiger“ und als „der war und der ist und der kommt“ bezeichnet. Die Begriffe „Herr“ (gr.: Kyrios) und „Allmächtiger“ (gr.: pantokrator) stehen  auch in 1,8; 11,17; 15,3; 16,7.(14); 19,6; 21,22 zusammen. Die Bezeichnung „der war und der ist und der kommt“ ist typisch für die Offenbarung des Johannes (1,4.8; vgl. 11,17; 16,5).

 

So ist es „ihre Hauptaufgabe …, mit den Ältesten zusammen vor dem Thron Gottesdienst zu halten (4,8, 5,8-10; vgl. auch 5,14; 19,4). Sie beschäftigen sich aber auch mit der Entfaltung der Endereignisse: Bei den anfänglichen vier Siegelvisionen leitet ein jedes von ihnen mit dem Wort ‚komm!‘ den Auftritt eines Pferdes ein (6,1.3.5.7) und in 15,7 übergibt eines von ihnen den sieben Schalenengeln die sieben Schalen.“ (Satake, 199).

 

(9-10) Abschließend wird geschildert, dass, wenn die Wesen Gott „Herrlichkeit und Ehre und Danksagung geben werden“, die Ältesten vor Gott „niederfallen“, ihn „anbeten“ und dabei „ihre Siegeskränze niederwerfen“. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich um ein gegenwärtiges oder zukünftiges Geschehen handelt. Wenn es sich um ein gegenwärtiges Ereignis handelt (Roloff, 70; Satake, 201; Stefanovic, 191) ist einfach gemeint: „Jeweils dann, wenn die Wesen ihr Dreimalheilig gesungen haben, respondieren die Ältesten …“ (Roloff, 70). Handelt es sich jedoch um ein zukünftiges Ereignis (U. Müller, 142; Maier I, 277; Tóth, Kult, 227), dann „blicken die futurischen Aussagen von 4,9-11“ auf die endgültige Durchsetzung der Herrschaft Gottes voraus und „preisen Gott, der sich anschickt, seine Macht in Wirkung zu setzen (4,11)“ (U. Müller, 142f.).

 

Unabhängig davon, ob es sich um ein gegenwärtiges oder zukünftiges Ereignis handelt, entspricht die Reaktion der Ältesten der Huldigung des römischen Kaisers.  „So berichtet Tacitus (…), dass der Vasallenkönig Tiridates seine Treue gegenüber dem Kaiser Nero dadurch zum Ausdruck brachte, dass er seine Krone zu dessen Füßen legte.“ (Roloff,  70; vgl. Stefanovic, 191).

 

(11) Bei der Huldigung wird Gott mit „unser Herr und Gott“ angesprochen (vgl. 4,8). Überhaupt scheint der Hymnus „nicht ganz ohne polemische Anspielungen auf jene irdischen Machthaber zu sein, die Gott das ihm allein zustehende Recht auf Anbetung streitig machen: ‚unser Herr und Gott’ ließ sich auch Domitian nennen (…). Und die Wendung ‚würdig bist du …’ erinnert deutlich an die feierlichen Zurufe des Volkes bei der Kaiserakklamation …“ (Roloff,  70; vgl. Stefanovic, 191; Tóth, Kult, 302ff.).

 

Begründet wird die Huldigung mit dem Hinweis auf Gott, den Schöpfer (vgl. 10,6; 14,7). Dabei handelt es sich um ein Attribut, dass die Überlegenheit Gottes gegenüber anderen Mächten herausstellt. Er hat „alle Dinge erschaffen“ – und das nur aufgrund seines „Willens“.

 

Zusammenfassung: Gott ist in seinem Tempel und sitzt auf seinem Thron. Die ihn umgebenden Wesen beten ihn an und zeigen, dass ihm allein die Ehre gebührt.

 

 

 

3.2    Das Lamm als Herr der Geschichte (5,1-14)

 

(1) Und ich sah in der Rechten dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, innen und auf der Rückseite beschrieben, mit sieben Siegeln versiegelt.(2) Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme ausrief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen?(3) Und niemand in dem Himmel, auch nicht auf der Erde, auch nicht unter der Erde konnte das Buch öffnen noch es anblicken.(4) Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen noch es anzublicken.(5) Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, um das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen.

(6) Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen wie geschlachtet, das sieben Hörner und sieben Augen hatte; die sind die sieben Geister Gottes, ausgesandt über die ganze Erde.(7) Und es kam und nahm das Buch aus der Rechten dessen, der auf dem Thron saß.(8) Und als es das Buch nahm, fielen die vier lebendigen Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und sie hatten ein jeder eine Harfe und goldene Schalen voller Räucherwerk; das sind die Gebete der Heiligen.(9) Und sie singen ein neues Lied und sagen: Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast durch dein Blut für Gott erkauft aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation (10) und hast sie unserem Gott zu einem Königtum und zu Priestern gemacht, und sie werden über die Erde herrschen!

(11) Und ich sah: und ich hörte eine Stimme vieler Engel rings um den Thron her und um die lebendigen Wesen und um die Ältesten; und ihre Zahl war Zehntausende mal Zehntausende und Tausende mal Tausende, (12) die mit lauter Stimme sprachen: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Lobpreis. (13) Und jedes Geschöpf, das im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer ist, und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm den Lobpreis und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! (14) Und die vier lebendigen Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.

 

Kapitel 5 beschreibt eine „himmlische Thronversammlung“, in der jemand für eine wichtige Aufgabe gesucht wird. Ähnliche Szenen sind aus dem Alten Testament bekannt (1.Kön.22,19-22; Jes.6).

 

„Der ganze Visionsbericht gliedert sich in drei Teile:

a) Vers 1-5 enthalten die Offenbarungsmitteilung über die endzeitliche Vollmacht des Lammes.

b) Vers 6-7 schildern die Übernahme der Vollmacht durch das Lamm.

c) Vers 8-14 beschreiben die Reaktion bzw. Antwort der himmlischen Gestalten sowie aller Geschöpfe auf die Handlung des Lammes.“ (U. Müller, 151).

 

(1) Johannes sieht in der rechten Hand Gottes – also in der Hand, mit der Gott zum Heil der Menschen eingreift (2.Mos.15,5; Ps.20,7) – ein Buch, dass „innen und auf der Rückseite“ beschrieben und „mit sieben Siegeln versiegelt“ ist. Die Versiegelung eines Buches entspricht damaligen Gepflogenheiten. Testamente mussten mit mindestens sieben Siegen versiegelt werden (Stefanovic, 197f.). Außerdem waren „Doppelurkunden“ in Gebrauch. Dabei handelte es sich um Buchrollen, deren Inneres versiegelt war und den rechtsgültigen Text enthielt, während auf der Außenseite, die jeder lesen konnte, der gleiche Text oder eine Zusammenfassung stand (U. Müller, 152).

 

Schon der Prophet Hesekiel sah eine von beiden Seiten beschriebene Buchrolle (Hes.2,9-10). Ihr Inhalt wird mit „Klagen und Seufzen und Wehgeschrei“ angegeben. Gemeint sind göttliche Gerichtsandrohungen, die der Prophet zu verkündigen hat, und die, wenn sie eintreffen, Klagen und Geschrei hervorrufen (vgl. Hes.3,1ff.).

 

Das Buch Henoch spricht von „himmlischen Tafeln“, auf denen die Geschichte der Menschheit notiert ist.

äthHen.81,1-2: „(1) Er sagte zu mir: ‚O Henoch, betrachte die Schrift der himmlischen Tafeln, lies, was darauf geschrieben ist, und merk dir alles Einzelne. (2) Ich betrachtete alles auf den himmlischen Tafeln, las dies, was darauf geschrieben stand, merkte mir alles und las das Buch über alle Taten der Menschen und aller Kinder des Fleisches, die auf Erden bis zum letzten Geschlechte sein werden.“

 

Was sagt die Offenbarung des Johannes selbst über den Inhalt des Buches? Sie geht an keiner Stelle direkt auf diese Frage ein. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass das Öffnen der Siegel etwas mit dem Inhalt des Buches zu tun hat. Daher „wird man den Inhalt des ‚Buches‘ ab 6,1ff.“ zu denken haben (U. Müller, 154; vgl. Tóth, Kult, 316f., Stefanovic, 176ff.).  Dann kann man im Anschluss an Hesekiel und an das Buch Henoch vermuten, dass es um das Gericht Gottes geht und hier „die ‚Originalurkunde‘ der künftigen Geschichte“ vorgestellt wird (Maier I, 289; vgl. Tóth, Kult, 264ff.286).

 

So klar es einerseits ist, dass der Inhalt des Buches ab 6,1ff. sich auf die Geschichte bezieht, so wichtig ist es andererseits, bei den verschiedenen Abschnitten jeweils genau darauf zu achten, welchen Akzent sie dabei setzen. Das wird z.B. bei der Betrachtung der „Siegel“ (6,1-7) und der „Posaunen“ (8,6-9,21) deutlich. Beide Abschnitte beziehen sich auf die Geschichte, aber während die „Siegel“ offenbaren, was es mit der Geschichte der Menschheit auf sich hat, geht es bei den „Posaunen“ um göttliche Strafgerichte.

 

(2) Was geschieht nun mit diesem Buch? Diese Frage wird von einem „starken Engel“ (vgl. 10,1; 18,21) mit „lauter Stimme“ (vgl. 7,2; 10,3; 11,12; 14,7.15.18; 19,17) aufgeworfen. Seine Funktion oder sein Rang werden zwar nicht näher beschrieben. Trotzdem handelt es sich vermutlich um einen besonders wichtigen Engel.

 

Er stellt die entscheidende Frage: „Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen?“ Nach damaligem Verständnis setzt der Bruch der Siegel den Inhalt einer Urkunde in Kraft (Roloff, 73). Es geht also darum, dass Gottes Gerichtshandeln bzw. die künftige Weltgeschichte in Gang gesetzt wird.

 

(3) Johannes muss feststellen, dass niemand in der Lage ist, die Siegel zu lösen. In allen drei „Stockwerken“ (Himmel – Erde – Unterwelt) ist niemand, der dazu fähig wäre. „Unter der Erde“ ist das Reich des Todes (1,18; vgl. Phil.2,10).

 

(4) Als er merkt, dass niemand das Buch öffnen kann, kommen Johannes die Tränen. Bereits in 1,17 schildert er seine emotionale Reaktion auf das Gesehene. Einige Ausleger beziehen sein Weinen auf die Verfolgung der Gemeinde (Wengst, 14; U. Müller, 156).

 

(5) Ähnlich wie in 1,17 wird Johannes sofort getröstet. Dies geschieht hier durch einen der 24 Ältesten. Dieser weist Johannes darauf hin, dass einer „überwunden“ hat – und zwar der „Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids“. Er wird das Buch und die Siegel öffnen.

 

Als Jakob kurz vor seinem Tod seine Söhne segnete, verglich er Juda mit Löwen, und verhieß ihm die Herrschaft und das Kommen eines „Herrschers“ (zur Deutung und Übersetzung mit „Herrscher“ vgl. Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose, Göttingen 1972. 349), der eine Zeit des Segens und des Überflusses heraufführen wird (1.Mos.49,9-12). Auch der Bezug auf David hat messianische Bedeutung (Jes.11,1.10; Sach.3,8; 6,12). Gemeint ist natürlich Jesus, der in 22,16 sagt: „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch diese Dinge für die Gemeinden zu bezeugen. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.“

 

Inwiefern hat Jesus „überwunden“? Gemeint ist sein Tod. Auch in 3,21 betont Jesus, dass er „überwunden“ und sich anschließend mit seinem Vater auf den Thron gesetzt hat. Der Hinweis, dass Jesus „überwunden“ hat, bezieht sich daher auf das Kreuz. Dementsprechend wird Jesus in 5,6 als ein Lamm, „das wie geschlachtet ist“, bezeichnet.

 

Zusammengefasst bedeutet das: Weil Jesus am Kreuz überwunden hat, ist er würdig, das Buch zu öffnen und den endzeitlichen Gerichts- und Geschichtsplan in Gang zu setzen. „Das Lamm setzt diesen Prozess in Gang, weil es selbst das prominenteste Opfer der Geschichte ist“ (Berger I, 528).

 

(6) Nachdem Johannes auf diese Weise vom Ältesten getröstet und informiert worden ist, sieht er in unmittelbarer Nähe des Thrones ein Lamm stehen, das „wie geschlachtet“ ist. Gemeint ist natürlich Jesus. Wenn er hier als Lamm erscheint, bezieht sich das entweder auf das Passahlamm (1.Kor.5,7) oder das Lamm beim Tamidopfer (2.Mos. 29,38f.; 4.Mos.28,3ff.; vgl. Tóth, Kult, 221ff.). Der Ausdruck „wie geschlachtet“ kann andeuten, dass der bei der Schlachtung erfolgte Schächtungsschnitt am Hals noch sichtbar ist (Maier I, 299).

 

Das Lamm hat „sieben Hörner“ und „sieben Augen“. In der apokalyptischen Bildsprache sind Hörner ein Symbol für Königreiche oder Macht (Dan.7,24). Wenn ein geschlachtetes Lamm sieben Hörner hat, soll damit vielleicht angedeutet werden, dass gerade der Gekreuzigte Macht hat (Wengst, 121).

 

Die Bedeutung der „sieben Augen“ wird umgehend erklärt. Es sind „die sieben Geister Gottes, ausgesandt über die ganze Erde“. Von sieben Geistern war bereits in 1,4 und 4,5 die Rede. Nun wird über die sieben Geister gesagt, dass sie „über die ganze Erde“ gesandt sind. Die Aussage erinnert an Sach.4,10: „… Diese sieben sind die Augen des HERRN, sie schweifen auf der ganzen Erde umher.“ Das dient dazu, die Gläubigen zu stärken: „Denn des HERRN Augen durchlaufen die ganze Erde, um denen treu beizustehen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist …“ (2.Chr.16,9). Die sieben Augen des Lammes, die in alle Lande gesandt sind, zeigen also, dass Jesus am Geschick der Gläubigen Anteil nimmt, um sie zu stärken (möglicherweise ist besonders an verfolgte Christen zu denken).

 

(7) Das Lamm nimmt das Buch aus der rechten Hand Gottes in Empfang. Das zeigt, dass Christus die Leitung des göttlichen Gerichts- und Geschichtsplans übernimmt. Gott übergibt ihm die Weltherrschaft. (Stefanovic, 207).

 

(8-10) Die verbleibenden Verse des fünften Kapitels schildern – in konzentrischen Kreisen – Reaktionen auf dieses Ereignis. Zunächst wird die Reaktion der vier Wesen und der 24 Ältesten beschrieben. Sie fallen allesamt vor dem Lamm nieder.

 

Jeder der 24 Ältesten hat dabei eine Harfe in der Hand, also das Instrument, das üblicherweise zum Lob Gottes eingesetzt wird (Ps.71,22: „… ich will dir zur Harfe lobsingen, du Heiliger Israels.“).

 

Außerdem tragen sie goldene Schalen voller Räucherwerk. Die Bedeutung des Räucherwerks wird näher erläutert. Es handelt sich um die „Gebete der Heiligen“. Schon in den Psalmen wird das Gebet mit einem „Rauchopfer“ verglichen: „Lass als Rauchopfer vor dir stehen mein Gebet …“ (Ps.141,2). In 8,3 ist dann von einem Engel die Rede, dem „viel Räucherwerk gegeben“ wird, „damit er es für die Gebete aller Heiligen auf den goldenen Altar gebe, der vor dem Thron ist“.


Wer aber sind die „Heiligen“? Normalerweise sind damit alle Christen gemeint (z.B. Röm.1,7; 2.Kor.1,1). In der Offenbarung des Johannes kann dieser Begriff aber speziell auf die Verfolgten bzw. auf die Märtyrer bezogen werden. So ist in 16,6; 17,6 und 18,24 vom „Blut von Heiligen“ bzw. vom „Blut der Heiligen“ die Rede. Außerdem wird in 6,9f. ein Gebet der „Seelen derer, die geschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, dass sie hatten“ geschildert.

 

Bei den in den Schalen voll Räucherwerk befindlichen Gebeten der Heiligen handelt es sich also um Gebete der Verfolgten und Märtyrer. Die Verfolgten werden also zumindest indirekt in das Geschehen am Thron Gottes einbezogen (Holtz, 62). Die Gebete der Verfolgten sind jedenfalls bei Gott in Erinnerung (Wengst, 191; 251).

 

Die Anbetung Gottes durch die vier Gestalten und die 24 Ältesten erfolgt durch ein „neues Lied“. „Neue Lieder“ sind Lieder, die das Eingreifen Gottes beschreiben, der alles neu macht (z.B. Ps.98,1: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er hat Wunder getan …“).


Das Lied der vier Wesen und der 24 Ältesten begründet, warum das Lamm würdig ist, Gottes Gerichts- und Geschichtsplan zu vollstrecken. Er hat durch seinen Tod Menschen für Gott „erkauft“ (vgl. 1.Petr.1,18f.: „… ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid von eurem eitlen von den Vätern überlieferten Wandel, sondern mit dem kostbaren Blut Christi als eines Lammes ohne Fehler und ohne Flecken.“). Die Freigekauften kommen „aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation“ (vgl. 7,9; 10,11; 11,9; 13,7; 14,6; 17,15).

 

Indem Christus Menschen „erkauft“ hat, hat er sie zugleich zu „einem Königtum und zu Priestern“ gemacht (vgl. 1,6). Sie werden einmal „über die Erde herrschen“ – während der tausend Jahre (20,6) bzw. „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (22,5).

 

(11-12) Viele tausend Engel stimmen in diesen Lobpreis der Gestalten und Ältesten ein (vgl. Dan.7,10). Dabei werden dem Lamm sieben Begriffe zugeordnet: „Macht“, „Reichtum“, „Weisheit“, „Stärke“, „Ehre“, „Herrlichkeit“ und „Lobpreis“ (Wittwer, 45). „Was sonst dem vergöttlichten Kaiser huldigend in prächtigen Prozessionen zugerufen wurde, das steht nach dem Urteil des Johannes ausschließlich und allein Gott und seinem Christus zu.“ (Tóth, Kult, 302).

 

(13) Schließlich stimmen alle Geschöpfe in das Lob Gottes und des Lammes ein. Dabei werden wieder die drei „Stockwerke“ genannt, auf denen Gottes Geschöpfe leben (vgl. 5,3). Zusätzlich werden die Geschöpfe erwähnt, die auf und im Meer leben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach damaliger Auffassung die Herrschaft über Meer und Erde beim Kaiser in Rom lag (Karrer, 472). Wenn nun „alle Schöpfungsbereiche in den himmlischen Lobpreis einstimmen, so demonstrieren sie damit die Macht Gottes und des Lammes, die sie huldigend anerkennen“ (U. Müller, 159).

 

„Unausgesprochen bedeutet das eine harte Kritik an irdischen Institutionen. Deren Anspruch auf Lobpreis, Ehre, Herrlichkeit und Kraft wird vergehen. Selbst der Anspruch Roms, der herrschenden Macht über Erde und Meer, verdient im Angesicht des Himmels keine Beachtung.“ (Karrer, 472).

 

(14) Abgeschlossen wird die Lobpreisszene am Thron Gottes. Die Gestalten rufen „Amen“ und die Ältesten fallen nieder zum Gebet (vgl. 19,4).

 

Zusammenfassung: Der Gekreuzigte offenbart das Wesen der Menschheitsgeschichte und vollstreckt Gottes Gerichts- und Geschichtsplan. Deshalb gebühren Gott und „dem Lamm“ die Anbetung aller Geschöpfe im Himmel und auf Erden. In diese Anbetung sind die Gebete der Heiligen, die unter Verfolgung leiden, eingeschlossen.