2       Ursprung und Autorität des paulinischen Evangeliums (1,10-2,21)

 

Im Briefeingang hatte Paulus behauptet, dass Gott selbst ihn zum Apostel berufen hat (1,1) und es nur ein Evangelium gibt – und zwar das, das er den Galatern verkündigt hat (1,8-9). Bevor er den Inhalt des Evangeliums entfaltet (3,1-6,10), geht er auf die Autorität „seines“ Evangeliums ein.

 

 

2.1    Der „übernatürliche“ Ursprung der Botschaft des Apostels Paulus (1,10-12)

 

(10) Will ich denn jetzt Menschen oder Gott überzeugen? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht. (11) Denn ich tue euch kund, Brüder und Schwestern, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. (12) Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.

 

(10) Vermutlich greift Paulus eine Behauptung seiner Gegner auf – die Behauptung, er würde ein seichtes Evangelium verkünden, um damit bei seinen Zuhörern gut anzukommen. Vielleicht ist die Haltung, die er in 1.Kor.9,20-21 beschreibt, allgemein bekannt geworden und in manchen Kreisen Anlass zur Kritik an seiner Arbeit geworden: „(20) Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. (21) Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne.“

 

Nachdem er mit drastischen Worten davon gesprochen hat, dass es nur ein Evangelium gibt und alle, die etwas anderes predigten, verflucht sind, fragt er nun zurück: „Will ich denn jetzt Menschen oder Gott überzeugen? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein?“ „Diese Rücksichtslosigkeit seiner Polemik kann den Galatern zeigen, wie es mit der Menschengefälligkeit steht, die ihm angelastet wird. Er aber strebt nicht danach, bei Menschen Anerkennung zu finden, der er im Sklavendienst Christi steht.“ (Rohde, 48).

 

(11-12) Nachdem er den Vorwurf, mit seiner Verkündigung „Menschen gefällig zu sein“ zurückgewiesen hat, erklärt er den Galatern, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten. Das Evangelium, das er predigt, ist „nicht von menschlicher Art“. Warum nicht? Weil er es weder „von einem Menschen“ empfangen hat, noch von irgendjemandem diesbezügliche Belehrungen erhalten hat. Er hat seine Botschaft „durch eine Offenbarung Jesu Christi“ erhalten. Weil es sich um den Gegensatz zu Belehrungen durch Menschen handelt, ist hier nicht eine Offenbarung über Jesus Christus gemeint (genitivus objectivus), sondern eine Offenbarung, die von Jesus ausgeht (genitivus subjectivus).

 

 

2.2    Biographische Begründung des „übernatürlichen“ Ursprungs der Botschaft des Apostels Paulus (1,13-24)

 

Zunächst weist Paulus darauf hin, dass er sich ursprünglich voll und ganz innerhalb des Judentums bewegt hat und ein Feind der Gemeinde war.

 

(13) Denn ihr habt ja gehört von meinem Leben früher im Judentum, wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte (14) und übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Maßen für die Überlieferungen meiner Väter.


(13-14) Paulus erinnert die Galater daran, dass sie um sein früheres Leben als überzeugter Jude wissen. Dazu gehört, dass er „die Gemeinde Gottes“ verfolgt hat und sie zerstören wollte (Apg.8,1-3; 9,1-2.13; 22,4-5; 26,9-11). Bei der Umsetzung des jüdischen Glaubens übertraf er viele seiner Altersgenossen weit und bemühte sich um die Bewahrung der „Überlieferungen“ der Väter, der religiösen Traditionen des Judentums.

 

Daher war er – das wird hier indirekt betont – völlig immun gegen Belehrungen von christlicher Seite. „Bei einem solchen Menschen christlichen Einfluss anzunehmen wäre heller Wahnsinn. Nur ein Wunder konnte ihn herumholen. Gott tat dieses Wunder.“ (Oepke, 59).

 

 

Auch nach seinem „Damaskuserlebnis“ spielten andere Menschen praktisch keine Rolle.

 

(15) Als es aber Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, (16) dass er seinen Sohn offenbarte in mir, damit ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter den Heiden, da besprach ich mich nicht erst mit Fleisch und Blut, (17) ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte wieder zurück nach Damaskus.

 

(15-16) Paulus erklärt: Gott, der von Anfang an ein Auge auf ihn geworfen und zu einem besonderen Dienst berufen hat (vgl. Jer.1,5; Jes.49,1), gefiel es, ihm seinen Sohn zu offenbaren.

 

Die Luther-Bibel übersetzt zu Recht: „… seinen Sohn offenbarte in mir …“. Was ist gemeint? Geht es hier um eine rein innerliche Erfahrung? Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine Parallele zu „in den Heiden“ (so wörtlich). So wie Paulus „in den Heiden“ – also unter den Heiden – das Evangelium verkündigt hat, so hat Gott sich Paulus vor Damaskus offenbart und ihm gezeigt, dass es sich bei Jesus, den er verfolgt hatte, um seinen Sohn handelt (Apg.9,5.20).

 

Das geschah, damit Paulus ihn den Heiden „durchs Evangelium verkündigen sollte“. Dazu musste Paulus sich nicht erst mit „Fleisch und Blut“ beraten. Er hat das Evangelium also „nicht von einem Menschen … gelernt“ (1,12).

 

(17) Ein weiteres Indiz dafür ist, dass er sich nach seiner Bekehrung nicht nach Jerusalem begeben hat. „Es hätte scheinbar nahegelegen, nach der Hauptstadt der Theokratie hinaufzuziehen. Dort saßen die Männer, die vor ihm bereits Apostel, im Vollsinn: Beauftragte Jesu Christi! waren. Paulus erkennt das rückhaltlos an. Aber er  bedurfte ihrer nicht. Für ihn waren sie auch nur ‚Fleisch und Blut‘.“ (Oepke, 61). Stattdessen zog er nach Arabien (gemeint ist hier nicht die arabische Halbinsel, sondern eine abgelegene Gegend südöstlich von Damaskus). Und auch von dort zog es ihn nicht nach Jerusalem. Er kehrte erst einmal nach Damaskus zurück.

 

 

Auch später hatte er nur losen Kontakt zu den Größen der Jerusalemer Gemeinde.

 

(18) Danach, drei Jahre später, kam ich hinauf nach Jerusalem, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. (19) Von den andern Aposteln aber sah ich keinen außer Jakobus, des Herrn Bruder. (20) Was ich euch aber schreibe – siehe, Gott weiß, ich lüge nicht! (21) Danach kam ich in die Länder Syrien und Kilikien. (22) Ich war aber unbekannt von Angesicht den Gemeinden Christi in Judäa. (23) Sie hatten nur gehört: Der uns früher verfolgte, der predigt jetzt den Glauben, den er einst zu zerstören suchte, (24) und priesen Gott um meinetwillen.


(18)
Paulus weißt die Galater darauf hin, dass er erst „danach, drei Jahre später“ nach Jerusalem ging. Warum? Er wollte Petrus kennenlernen. Gerade mal zwei Wochen blieb er bei ihm. „Aus der Gegenüberstellung der drei Jahre Unabhängigkeit von Jerusalem mit den zwei Wochen des Besuchs bei Kephas ergibt sich, dass Paulus die Bedeutung dieses Besuches möglichst herabspielen will: Ein solch kurzer Besuch konnte nicht dazu ausreichen, um von Kephas belehrt worden zu sein. Das Ziel der paulinischen Darstellung des ersten Jerusalembesuches besteht also in einer gewissen Bagatellisierung.“ (Rohde, 65)

 

(19) Zu den anderen Aposteln ist damals kein Kontakt zustande gekommen. Nur Jakobus, dem Bruder Jesu, der je länger je mehr zur leitenden Figur der Jerusalemer Gemeinde wurde (vgl. Apg 15,13; 21,18), ist er begegnet.

 

(20) Paulus bekräftigt seine Aussagen, in denen er alles verneint, was nach einer Belehrung durch andere Personen aussehen könnte, mit einem Schwur. Das zeigt, wie wichtig ihm diese Hinweise sind. Möglicherweise haben seine Kritiker die Dinge etwas anders dargestellt, so dass Paulus sich zu dieser feierlichen Beteuerung gezwungen sieht.

 

(21-24) Auch nach seinem Kurzbesuch in Jerusalem ist es nicht zu Kontakten mit anderen Führungspersonen der jungen Kirche gekommen, bei denen er eine „Einführung in den christlichen Glauben“ hätte bekommen können. Stattdessen begab er sich „in die Länder Syrien und Kilikien“. Deshalb kannten ihn die „Gemeinden Christi in Judäa“ nicht „von Angesicht“. Sie hatten nur gehört, dass ihr früherer Verfolger nun den Glauben verkündigt, den er vorher ausrotten wollte.

 

Abschließend betont Paulus, dass dies für die Gemeinden in Judäa ein Grund war, Gott zu loben.  „Damit – so soll man in Galatien nunmehr die Schlussfolgerung ziehen – erkannte man im Grund die Selbständigkeit des Paulus dort an.“ (Becker, 21).

 

 

2.3    Klarstellungen zum Apostelkonzil (2,1-10)

 

Paulus legt Wert auf die Feststellung, dass auch der Verlauf des „Apostelkonzils“ keinen Ansatzpunkt dafür bietet, seine Unabhängigkeit und Autorität in Frage zu stellen.

 

(1) Danach, vierzehn Jahre später, zog ich abermals hinauf nach Jerusalem mit Barnabas und nahm auch Titus mit mir. (2) Ich zog aber hinauf aufgrund einer Offenbarung und legte ihnen, besonders denen, die das Ansehen hatten, das Evangelium dar, das ich predige unter den Heiden, auf dass ich nicht vergeblich liefe oder gelaufen wäre. (3) Aber selbst Titus, der bei mir war, ein Grieche, wurde nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen. (4) Es hatten sich aber einige falsche Brüder eingedrängt und eingeschlichen, um auszukundschaften unsere Freiheit, die wir in Christus Jesus haben, und uns so zu knechten. (5) Denen wichen wir auch nicht eine Stunde und unterwarfen uns ihnen nicht, auf dass die Wahrheit des Evangeliums bei euch bestehen bliebe. (6) Von denen aber, die das Ansehen hatten – was sie früher waren, daran liegt mir nichts; denn Gott achtet das Ansehen des Menschen nicht –, mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt. (7) Im Gegenteil, da sie sahen, dass mir anvertraut war das Evangelium für die Unbeschnittenen so wie Petrus das Evangelium für die Beschnittenen – (8) denn der in Petrus wirksam gewesen ist zum Apostelamt für die Beschnittenen, der ist auch in mir wirksam gewesen unter den Heiden –, (9) und da sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, reichten Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand und wurden mit uns eins, dass wir unter den Heiden, sie aber unter den Beschnittenen predigen sollten, (10) allein dass wir der Armen gedächten – was ich mich auch eifrig bemüht habe zu tun.

 

(1) Erst vierzehn Jahre später ist er wieder nach Jerusalem gezogen – zusammen mit Barnabas und Titus. Anlass ist ein Disput über die Beschneidung. Das entspricht den Schilderungen der Apostelgeschichte über das Apostelkonzil (Apg.15,1-2) – abgesehen davon, dass Titus dort nicht erwähnt wird. Der Verlauf des Apostelkonzils ist Paulus hier natürlich auch deshalb wichtig, weil seine Gegner in Galatien die Beschneidung der Heidenchristen propagieren und viele in der Gemeinde auf ihre Seite gezogen haben (vgl. Einleitung in den Galaterbrief).

 

(2) Wichtig ist Paulus der Hinweis, dass er „aufgrund einer Offenbarung“ nach Jerusalem gekommen ist – und nicht etwa, weil irgendjemand das verlangt hat. Er hat der Gemeinde – vor allem den führenden Köpfen – den Inhalt seiner Verkündigung vorgelegt, damit ihm auf diese Weise bestätigt wird, dass seine missionarischen Bemühungen nicht ins Leere gehen.

 

(3) Als besten Beweis führt Paulus seinen Mitarbeiter Titus an. Er war Grieche von Geburt und daher nicht beschnitten, wurde aber nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen“.

 

(4-5) Worum ging es damals im Kern? Es hatten sich – wie jetzt in Galatien – einige falsche Brüder eingedrängt und eingeschlichen“. Sie waren in inquisitorischer Absicht unterwegs. Sie wollten herausfinden, wie es die von Paulus gegründeten Gemeinden mit der „Freiheit … in Christus Jesus“ halten – und religiösen Druck auf sie ausüben. Aber Paulus und seine Mitarbeiter haben nicht einen Zentimeter nachgegeben oder sich ihnen unterworfen. Nur so blieb die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,15) erhalten. Was ist die „Wahrheit des Evangeliums“? Der Begriff findet sich auch in 2,14 und meint hier wie dort, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus  gerechtfertigt wird (2,16). In dieser Wahrheit gilt es, zu leben – und aller Gesetzlichkeit zu widerstehen.

 

(6) Paulus stellt dazu fest, dass ihm die führenden Köpfe der Jerusalemer Gemeinde „nichts weiter auferlegt“ haben. In diesem Zusammenhang fügt Paulus noch eine Bemerkung über die Personen hinzu, die in der Kirche besonders angesehen sind. Er stellt fest: „Was sie früher waren, daran liegt mir nichts“. Denkt er daran, dass sie Augenzeugen Jesu waren? Oder  dass sie bei der Gründung der Kirche eine besondere Rolle gespielt und anschließend Leitungsaufgaben übernommen haben? Oder spielt er auf eventuelle Fehlleistungen an? Das geht aus dem Text nicht hervor. Klar ist, dass das, wodurch sich die führenden Köpfe der Jerusalemer Gemeinde (positiv oder negativ) ausgezeichnet haben, aus Sicht des Apostels Paulus keine Rolle spielt – weil Gott das „Ansehen des Menschen“ nicht achtet. Wichtig ist nur: Sie haben ihm „nichts weiter auferlegt“.

 

(7-8) Anstatt Paulus irgendwelche Auflagen zu machen, haben sie erkannt, dass Gott ihm das Evangelium für die Unbeschnittenen“ anvertraut hat und Petrus das Evangelium für die Beschnittenen“. Natürlich ist Paulus der Auffassung, dass es nur ein Evangelium gibt (1,7-9). Gemeint ist also eine Arbeitsteilung in der Verkündigung des einen Evangeliums (vgl. 2,9). Diese Arbeitsteilung ist möglich, weil in beiden Personen der gleiche Gott wirkt.

 

(9-10) Aufgrund ihrer Einsicht, dass Paulus ein „begnadeter“ Apostel für die Heiden ist, kam es zum „Handschlag“ zwischen Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden“ auf der einen Seite und Paulus und Barnabas auf der anderen Seite. Sie waren sich einig darüber, dass die einen „unter den Heiden“ und die anderen „unter den Beschnittenen“ predigen sollen. Paulus und Barnabas werden lediglich gebeten, an die verarmte Gemeinde in Jerusalem zu denken und sie zu unterstützen – wofür sich Paulus immer wieder eingesetzt hat (Röm.15,25-26; 1.Kor.16,1-4; 2.Kor.8-9; Apg.24,17).

 

Damit steht fest: Niemand kann sich gegen Paulus auf Jerusalem berufen. Die „Säulen“ stehen zur besonderen Mission des Apostels Paulus und zu den Inhalten seiner Verkündigung.

 

 

2.4    Wenn nötig, ruft Paulus Petrus zur Ordnung (2,11-21)

 

In Antiochia gerät Paulus mit Petrus hart aneinander.

 

(11) Als aber Kephas nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn er hatte sich ins Unrecht gesetzt. (12) Denn bevor einige von Jakobus kamen, aß er mit den Heiden; als sie aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete. (13) Und mit ihm heuchelten auch die andern Juden, sodass selbst Barnabas verführt wurde, mit ihnen zu heucheln. (14) Als ich aber sah, dass sie nicht richtig handelten nach der Wahrheit des Evangeliums, sprach ich zu Kephas öffentlich vor allen: Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben? 

 

(11) Antiochia liegt ca. 30 Kilometer vom Mittelmeer entfernt im südlichsten Zipfel der heutigen Türkei und ist damals nicht nur die Hauptstadt der Provinz Syrien, sondern nach Rom und Alexandria die bedeutendste Stadt. Sie hat ca. 500.000 Einwohner und einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil (ca. 50.000).

 

Nach dem Bericht der Apostelgeschichte entstand die dortige Gemeinde, nachdem viele Christen infolge der Steinigung des Stephanus Jerusalem verlassen mussten. Einige von ihnen zogen in diese Gegend. Zunächst verkündigten sie das Evangelium ausschließlich den dort ansässigen Juden, später aber auch „den Griechen“ – und zwar mit besonderem Erfolg (Apg.11,19-21). In Antiochia wurden die „Jünger“ erstmals „Christen“ genannt (Apg.11,26). Paulus und die Gemeinde Antiochia waren einander eng verbunden. Die Missionsreisen des Paulus begannen und endeten fast immer dort (Apg.13,1-3; 14,26-28; 15,35-41; 18,22.23).

 

Paulus berichtet von einem Besuch des Apostels Petrus in Antiochia. Weil dieser sich „ins Unrecht gesetzt“ hatte, musste Paulus ihm „ins Angesicht“ widerstehen.

 

(12-13) Was war geschehen? Es waren „einige von Jakobus“ gekommen. Gemeint sind Christen aus Jerusalem, die sich dem Herrenbruder Jakobus verbunden fühlten, der in der Jerusalemer Gemeinde ein leitende Stellung hatte (Apg.12,17; 15,13). Nach dem Bericht der Apostelgeschichte war er daran interessiert, dass Judenchristen die jüdische Lebensweise beibehielten (21,18-26). Bevor „einige von Jakobus kamen“ hat Petrus gemeinsam „mit den Heiden“ gegessen (vgl. Apg.11,3), zog sich aber nach ihrem Eintreffen zurück  „und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete“.

 

Was fürchtete er? Auf dem Apostelkonzil war den Heidenchristen „nichts weiter auferlegt“ worden (2,6; vgl. Apg. 15,28-29: „(28) Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: (29) dass ihr euch enthaltet vom Götzenopferfleisch und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht.“). Die Judenchristen aber beachteten nach wie vor alle Regelungen des jüdischen Lebens. (vgl. Apg.21,21-25). Sie machten die Tischgemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen eigentlich unmöglich. In Antiochia aber aßen Judenchristen und Heidenchristen trotzdem miteinander – allerdings nur bis „einige von Jakobus“ kamen.

 

Petrus zog sich zurück – vermutlich einfach, um Ärger mit denen „von Jakobus“ zu vermeiden. Die anderen judenchristlichen Mitglieder der Gemeinde folgten seinem Beispiel, schließlich auch Barnabas, der zusammen mit Paulus auf dem Apostelkonzil nicht einen Zentimeter der christlichen Freiheit aufgegeben hatte (2,1.5). Für Paulus war das nicht Rücksichtnahme, sondern Heuchelei.

 

(14) Für Paulus ist dieses Verhalten ein Widerspruch zur „Wahrheit des Evangeliums“ (vgl. 2,5), die darin besteht, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus  gerechtfertigt wird (2,16). Deshalb stellte er Petrus vor versammelter Mannschaft zur Rede: „Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?“

 

Mit der heidnischen Lebensweise des Petrus ist natürlich seine Tischgemeinschaft mit den Heiden gemeint (2,12). Inwiefern aber hat er damals die Heidenchristen gezwungen, „jüdisch zu leben?“ Weil sie nur so die Tischgemeinschaft mit ihren judenchristlichen Schwestern und Brüdern aufrechterhalten konnten. Sie standen vor der Wahl, auf einen wichtigen Aspekt der Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde zu verzichten, oder jüdische Tisch- und Speisesitten zu befolgen. Petrus selbst hat bis zum Eintreffen der Leute „von Jakobus“ heidnisch gelebt. Darum hatte er kein Recht, die Heidenchristen zur Beachtung jüdischer Gebräuche zu zwingen bzw. sie vor die Wahl zu stellen, ob sie die Tischgemeinschaft mit den Judenchristen beenden wollen oder nicht.

 

 

Paulus kritisierte aber nicht nur das widersprüchliche Verhalten des Petrus, sondern fügte seiner Kritik eine grundsätzliche Belehrung über die „Wahrheit des Evangeliums“ hinzu:

 

(15) Wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder aus den Heiden. (16) Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. (17) Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, sogar selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! (18) Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. (19) Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. (20) Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. (21) Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.

 

(15) Zunächst bestätigt Paulus die Unterschiede zwischen Juden und Heiden. Im Römerbrief listet er die Vorrechte der Juden auf: „Kindschaft“, „Herrlichkeit“, „Bund“, „Gesetz“, „Gottesdienst“, „Verheißungen“, „Väter“ (Röm 9,4.5). Demgegenüber sind alle Nichtjuden nichts anderes als „Heiden“ und gelten von vornherein als „Sünder“.

 

(16) Nach diesem Auftakt fällt die Wende umso dramatischer aus. Paulus betont, dass sowohl die herausgehobene Stellung der Juden als auch das Gesetz an entscheidender Stelle überhaupt nichts bringen – nämlich bei der Frage, wie wir vor Gott gerecht werden. Wir, die wir „von Geburt Juden“ sind, „wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus. Deshalb sind „auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen“. Wir haben das getan, „damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes“. Paulus fügt noch eine Begründung hinzu – es ist die gleiche wie im ersten Teil des Verses: „denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht“.

 

(17) Im Hinblick auf den Vorfall in Antiochia stellt sich nun folgende Frage: „Wenn wir jedoch im Bestreben, durch Christus gerecht zu werden, nun selbst als Sünder dastehen, ist dann Christus ein Diener der Sünde?“ (Zürcher Bibel).

 

Dadurch, dass Petrus, die Judenchristen der Gemeinde Antiochia und selbst Barnabas wegen der Leute „von Jakobus“ die Tischgemeinschaft mit ihren heidenchristlichen Geschwistern  „aussetzen“, erwecken sie doch den Eindruck, dass dies nicht richtig ist. Deshalb stehen sie „nun selbst als Sünder“ da.

 

Nun haben sie diese Tischgemeinschaft ja „im Bestreben, durch Christus gerecht zu werden“ praktiziert. Daher die Frage: „… ist dann Christus ein Diener der Sünde?“ „Ihre Stellung zu Christus hatte sie dazu veranlasst, mit den Heidenchristen in jeder Hinsicht brüderlichen Umgang zu pflegen, und der Glaube an ihn hatte ihnen die Freiheit gegeben, dabei die Vorschriften des Gesetzes nicht zu beachten. So konnte aus ihrem Verhalten der Schluss gezogen werden, dass Christus die Sünde nicht gehindert, sondern sie gefördert habe.“ (Rohde, 114). Hat die Botschaft von der Gerechtigkeit aus Glauben an Jesus Christus also zur Sünde verführt? Das wäre absurd.

 

(18) In Wirklichkeit ist es ganz anders. Nicht Christus ist „ein Diener der Sünde“. Sondern: Wer ein Gesetz, dass er vorher als überwunden betrachtet und ignoriert hat, plötzlich wieder in Kraft setzt, stempelt sich dadurch selbst zum Übertreter“. Nicht die konsequente Umsetzung der Rechtfertigung allein aus Glauben ist das Problem, sondern jede Halbherzigkeit, die auf halber Strecke stehen bleibt und bei Gegenwind in die alten Strukturen zurückfällt.

 

(19-20) Das Verhalten des Petrus ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil er dadurch sich selbst und auch Christus in ein schlechtes Licht rückt. Viel schwerer wiegt, dass ein solcher Umgang mit dem Gesetz dem Wesen christlicher Existenz widerspricht.

 

Mit dem Gesetz verhält es sich so: Eigentlich soll es den Weg zum Leben weisen. Weil aber niemand es einhalten kann, bringt es in Wahrheit den Tod (Röm.7,9f.; 2 Kor 3,6.7). Paulus zieht daraus eine ungewöhnliche Schlussfolgerung: Wer tot ist, über den hat das Gesetz keine Macht mehr (Röm.7,1-6). Also sind wir so paradox es klingt durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“, um Gott zu leben.

 

Bei den Satzteilen „dem Gesetz gestorben“ und „damit ich Gott lebe“ steht jeweils ein Dativ, der ausdrückt, zu wessen Schaden oder Nutzen etwas geschieht. Dem Gesetz gestorben zu sein meint also, zuungunsten des Gesetzes gestorben zu sein. Daraus folgt positiv, dass der Christ zugunsten von Gott lebt. 

 

Außerdem spricht Paulus davon, dass er „mit Christus gekreuzigt“ wurde, also in den Kreuzestod Jesu Christi mit einbezogen worden ist (vgl. Röm.6,6). Gemeint ist vermutlich die Taufe (Röm.6,3-4).

 

Welche Beziehung besteht zwischen „ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“ und „ich bin mit Christus gekreuzigt“? Christus hat uns am Kreuz vom „Fluch des Gesetzes“ befreit, indem er „zum Fluch wurde für uns“ (3,13). Der Kreuzestod Jesu geschah also ebenfalls im Hinblick auf das Gesetz. „Mit Christus gekreuzigt“ zu werden, ist insofern auch ein Geschehen, bei dem wir „durchs Gesetz dem Gesetz“ sterben.

 

Wer oder was bestimmt daher das Leben des Christen? Der Christ lebt, aber eigentlich nur so, dass Christus in ihm lebt. Die irdisch-menschliche Existenz („im Fleisch“) des Christen wird allein davon geprägt, dass er sein Vertrauen auf jemand anderen setzt – auf Jesus Christus, der ihn liebt und sich für ihn geopfert hat – und nicht vom Gesetz.

 

(21) Am Ende seiner Belehrung des  Petrus zeigt Paulus auf, warum er das Wiederaufrichten des Gesetzes nicht tolerieren kann: Er würde damit die Gnade Gottes verwerfen. Diese provozierende Aussage muss natürlich begründet werden. Paulus tut das mit einem klaren Entweder-Oder. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Gerechtigkeit kommt durch das Gesetz oder sie kommt durch den Tod Jesu am Kreuz. Beides zugleich geht nicht. Daraus folgt: Wenn es auf das Gesetz ankäme, wäre Christus vergeblich gestorben (vgl. Gal.5,4). Damit wäre der christliche Glaube hinfällig.

 

Deshalb können Christen nicht anders, als ihr Vertrauen allein auf das zu setzen, was Jesus Christus auf Golgatha für sie getan hat – und dürfen das Gesetz nicht wieder aufrichten.