Sure 90 (Neuwirth, Band 1, 236-252)

Schwur bei Mekka und der durch Blutsbande verbundenen Gemeinschaft – um anschließend auf die Begrenztheit des Menschen hinzuweisen

(1) Soll ich schwören bei dieser Stadt

Mit „dieser Stadt“ ist sicher Mekka gemeint. Schließlich wird Mekka auch in anderen Schwurreihen genannt (95,2.3: Beim Berg Sinai und dieser sicheren Stadt).

Die Übersetzung „soll ich schwören bei dieser Stadt“ kann den Eindruck erwecken, als ob der Schwur bei der Stadt Mekka in Frage gestellt wird. In Wirklichkeit geht es jedoch um eine Bekräftigung (vgl. CC: Nein, ich schwöre bei diesem Ort; PÜ: Nein doch! Ich schwöre bei dieser Ortschaft).

(2) – du bist doch Bewohner dieser Stadt –,

Noch unklarer ist die Übersetzung von Vers 2. Eigentlich meint das mit „Bewohner dieser Stadt“ übersetzte Wort so viel wie „von sakralen Verpflichtungen frei“ (N1 240; vgl. CC: wo du frei von Verpflichtungen bist). Die Botschaft wäre dann: „Da Mekka seine Bedeutung zu einem wesentlichen Teil seiner Stellung als Pilgerzentrum verdanken dürfte (…), wäre … eher zu erwarten gewesen, dass der einleitende Schwur mit einem Verweis auf den Pilgerzustand (…) und die sich aus ihm ergebenden sakralen Pflichten erläutert wird als mit der Freiheit von denselben. Offenbar soll der Vers aber gerade betonen, dass der Wallfahrtsort Mekka nicht nur ein Schauplatz sakraler Vollzüge ist, sondern auch ein Ort profanen menschlichen Zusammenlebens, dessen Gelingen auf die in V.11–16 exemplifizierte Bereitschaft zur Unterstützung schwächerer oder hilfsbedürftiger Gesellschaftsmitglieder angewiesen ist. Das Verhältnis zwischen kultischem und außerkultischem Verhalten wird auch in einem anderen frühen Korantext behandelt, nämlich in Sure 107, die systematisch einen Konnex zwischen religiösen Überzeugungen und Praxen einerseits und der moralischen Bewährung des Einzelnen im Alltag zu etablieren versucht. Vor diesem Hintergrund könnte V.90:2 darauf anspielen, dass der Einzelne auch außerhalb von Gebet und Opferkult religiös begründeten Normen untersteht.“ (CC).

(3) bei einem, der zeugte, und dem, was er gezeugt hat:

Der zweite Schwur bezieht sich auf den „Erzeuger“ (CC) und die von ihm gezeugten Nachkommen. Er passt dazu, dass es in V.15 um die Verantwortung für die „Verwandtschaft“ geht.

Die Entstehung des Menschen wird hier „zunächst nicht explizit als Resultat eines göttlichen Schöpfungsaktes (…) sondern als Resultat eines menschlichen Zeugungsaktes beschrieben“. In V.4 ist dann allerdings sehr wohl davon die Rede. „Der scheinbar autonom ablaufende Prozess des Zeugens und Gezeugt-Werdens wird damit der Macht Gottes unterstellt.“ (CC).

(4) Wir schufen den Menschen in Beschwerlichkeit.

Die Schwuraussage stellt fest, dass Gott den Menschen „in Beschwerlichkeit“ geschaffen hat. Ähnliche Aussagen über die Begrenztheit des Menschen finden sich in 103,2 (Der Mensch befindet sich im Verlust!) und in 70,19-21 ((19) Der Mensch ist von seiner Schöpfung her wankelmütig: (20) wenn ihn Übles trifft, kleinmütig, (21) wenn ihn Gutes trifft, verschlossen.).

Die Verschwendungssucht des Menschen, die die Verantwortung vor Gott ignoriert.

(5) Glaubt er denn, dass keiner Gewalt über ihn hat?

Trotz seiner „Beschwerlichkeit“ meint der Mensch offenbar, „dass keiner Gewalt über ihn hat“ (obwohl ihn doch gerade das „demütig“ stimmen sollte, vgl. 86,5; 80,17ff.). Jedenfalls verhält er sich so, als ob das so wäre.

Konkret geht es darum, dass „er spricht: ‚ich habe viel Gut vertan‘“. Hintergrund ist „die in der altarabischen Dichtung als Tugend gewertete Verschwendungssucht des Dichter-Helden“ (CC). Dort erhebt der Gegenspieler des Helden den Vorwurf der Verschwendung, den dieser jedoch nicht ernst nimmt und sich stattdessen zu seinem verschwenderischen Lebensstil bekennt. Die Sure nimmt dieses „Bekenntnis“ auf und wertet es als Beweis seiner Schuld (vgl. N1, 241f.).

Die irrige Vorstellung, dass „keiner Gewalt über ihn hat“ bzw. „ihn keiner gesehen hat“ – beides in Form einer rhetorischen Frage formuliert – , bezieht sich vermutlich auf die „Hüter“, die im Hinblick auf das Gericht auf die Werke des Menschen achten (82,9-12; 86,4).

(6) Er spricht: „Ich habe viel Gut vertan.“

(7) Glaubt er, dass ihn keiner gesehen hat?

Gott, der Schöpfer, hat dem Menschen alles gegeben und ihn vor eine Entscheidung gestellt.

(8) Haben wir ihm nicht zwei Augen eingesetzt

Mit Hilfe einer weiteren rhetorischen Frage wird festgestellt, dass Gott dem Menschen die Organe zum Sehen und zum Sprechen gegeben und „ihn die beiden hohen Wege hinaufgeführt“ hat. Da in Vers 11 von einem Weg die Rede ist, den der Adressat dieser Sure „nicht erklommen“ hat, ist vermutlich gemeint, dass Gott ihn vor eine Entscheidung stellt. Vor ihm liegen zwei Wege, zwischen denen er sich entscheiden muss (vgl. den Schwur in 91,8, nach dem Gott der der Seele des Menschen einerseits „ihre Untreue eingegeben hat“ und andererseits „ihre Gottesfurcht“).

(9) und eine Zunge und zwei Lippen

(10) und ihn die beiden hohen Wege hinaufgeführt?

Der Adressat hat den „Steilweg“ nicht erklommen, der im Einsatz für die Armen und Unterdrückten besteht.

(11) Er aber hat den Steilweg nicht erklommen.

Dem Adressaten wird vorgeworfen, unter den beiden Wegen nicht den Steilweg … erklommen“ zu haben. Das erinnert an die Bergpredigt, in der von einem schmalen Weg die Rede ist (Mt.7,13-14).

Was dieser Steilweg ist, wird nach einer dazwischengeschalteten Lehrfrage erläutert. Die „Losbindung eines Nackens“ steht für die Befreiung eines Sklaven, da um seinen Nacken ein Sklavenstrick gelegt wurde. Außerdem geht es um die Versorgung mittelloser Verwandter, die ihre Angehörigen verloren haben, und der Armen.

Das alles erinnert an Jes.58,6-7: „(6) Ist nicht vielmehr das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Ungerechte Fesseln zu lösen, die Knoten des Joches zu öffnen, gewalttätig Behandelte als Freie zu entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? (7) Besteht es nicht darin, dein Brot dem Hungrigen zu brechen und dass du heimatlose Elende ins Haus führst? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst und dass du dich deinem Nächsten nicht entziehst?“

(12) Weißt du, was ist der Steilweg?

(13) Die Losbindung eines Nackens

(14) oder die Speisung am Tag der Hungersnot

(15) einer Waise aus der Verwandtschaft

(16) oder eines Armen, der im Staub liegt.

Am Ende kommt es zu einer Scheidung in zwei Gruppen: Wer sich für die Armen und Unterdrückten einsetzt, gehört zu den „Guten“ und damit zu den „Genossen der rechten Hand“. Diejenigen, die die „Zeichen“ „leugnen“, sind die „Genossen der linken Hand“, die in das höllische Feuer kommen.

(17) Dann ist er von denen, die glauben und sich zur Geduld anspornen und sich zur Barmherzigkeit anspornen,

Weil sich der Sprachstil in V.17-20 von den vorangegangenen Versen unterscheidet – augenfällig ist vor allem die Satzlänge – vermutet Neuwirth, dass hier eine den ursprünglichen Text erweiternde Überarbeitung stattgefunden hat (N1, 238).

Hier ist – analog zu den beiden Wegen – von zwei Menschengruppen die Rede. Sie werden aber hier nicht (wie in V.12-16) nach ihrem Handeln, sondern nach ihrer religiösen Einstellung unterschieden.

·          Wer den „Steilweg“ beschreitet, gehört zu denen „die glauben und sich zur Geduld anspornen und sich zur Barmherzigkeit anspornen“.

·          Ihnen gegenüber stehen diejenigen, die die „Zeichen“ leugnen und deshalb im Unglauben beharren. Die „Zeichen“ sind entweder von Gott gewährte Wohltaten (74,16)  oder aber ganz allgemein die Hinweise auf Gottes Allmacht und Größe (53,18). Sie sollen zum rechten Glauben führen.

Die Rede von Genossen der rechten“ und der linken Hand“ und dem Höllenfeuer erinnert an die Schilderung des Weltgerichts im Mt.25,31-34.41: „(31) Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen; (32) und vor ihm werden versammelt werden alle Nationen, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. (33) Und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zur Linken. (34) Dann wird der König zu denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, Gesegnete meines Vaters, erbt das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an! … (41) Dann wird er auch zu denen zur Linken sagen: Geht von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!“

(18) die sind die Genossen der rechten Hand.

(19) Die aber, die leugnen unsere Zeichen, die sind die Genossen der linken Hand.

(20) Über ihnen lodernder Brand!

Zusammenfassung: Gott legt jedem Menschen zwei mögliche Wege vor – den steilen Weg, der mit dem Einsatz für die Armen und Unterdrückten verbunden ist, und den Weg der Selbstherrlichkeit und Verschwendung. Der erste Weg ist der Weg des Gläubigen, der zweite der Weg der Gottesleugner. Der Verkünder warnt davor, den zweiten Weg zu beschreiten, weil Gott alles sieht und mit dem höllischen Feuer straft.

 

 

Abkürzungen

CC           https://corpuscoranicum.de (falls nicht anders erwähnt, Ausführungen zu jeweils behandelten Stelle des Koran)

LU           Luther-Übersetzung

N             Kommentar von Angelika Neuwirth (vgl. Einführende Hinweise)

PK           Kommentar von Rudi Paret (vgl. Einführende Hinweise)

          Übersetzung von Rudi Paret (vgl. Einführende Hinweise)