Einführung in das Buch Jeremia
1.
Zur
Entstehung des Buches Jeremia
Jeremia war kein Schriftsteller, sondern ein Redner. D.h.: Es war ursprünglich gar nicht seine Absicht, ein Buch zu verfassen.
Jeremia befiehlt seinem Diener Baruch, seine Worte auf eine Buchrolle zu schreiben. Die wird zwar von König Jojakim demonstrativ verbrannt. Anschließend aber wird sie neu geschrieben. Aus diesem Anlass wurden der Buchrolle „noch viele ähnliche Worte hinzugetan“ (36,32). Hier wird die Entstehung des Buches Jeremia greifbar.
Einige Teile des Buches sind in der ersten Person geschrieben (z.B. „Des HERRN Wort geschah zu mir“), andere in der dritten Person (z.B. „Des HERRN Wort geschah zu Jeremia“). Das ist ein Indiz dafür, dass verschiedene Personen an der Entstehung des Buches mitgewirkt haben. Dabei ist vor allem an Baruch zu denken, der die Wirren des Untergangs Jerusalem überlebt hat (45,5) und sich dann vermutlich um die Bewahrung der Botschaften Jeremias und bzw. Lebenswerkes bemüht hat.
Bei einigen Teilen des Buches ist die Frage, wann und von wem sie dem Buch Jeremia hinzugefügt wurden, nicht leicht zu beantworten:
· Die Gerichtsweissagungen über andere Völker (46-51) gehen weit über die Zeit Jeremias hinaus.
· Der Text der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des AT, ist um ein Achtel kürzer. Die fehlenden Texte standen vermutlich nicht in der Vorlage, die von den Übersetzern genutzt wurde – und wurden dem hebräischen Text möglicherweise erst später hinzugefügt (z.B. 33,14-26).
· Die Heilsworte aus 30-33, die in einer Spannung zur totalen Gerichtsbotschaft Jeremias stehen.
· Der Abschluss des Buches, bei dem es sich um ein Zitat aus dem zweiten Buch Könige (2.Kön.24,18-25,30) handelt.
Diskutiert wird auch die Frage, ob im Rahmen der Endredaktion des Buches einige bereits vorliegende Abschnitte ergänzt/überarbeitet worden sind (z.B. 3,14-18).
„Überblickt man diese ziemlich verwickelte Entstehungsgeschichte des Jeremiabuches, so drängt sich die Frage auf, ob man seine wachstumsähnliche Erweiterung nicht bedauern soll. Wäre es nicht besser, wir hätten einen Text, der nur die Worte umfasst, die der Prophet mit Sicherheit selbst gesprochen hat? Nun, wenn diese Überarbeitung und Erweiterung der prophetischen Predigt einer Überfremdung gleichkäme, dann könnte man die späteren Zusätze freilich nur mit Misstrauen und Ärger betrachten. Aber davon kann keine Rede sein. Dass es ein großer Gewinn ist, dass wir den Bericht des Baruch über die Leidensgeschichte Jeremias überkommen haben, liegt auf der Hand. Aber auch die Erweiterung des Textes in der nachexilischen Gemeinde tut dem Ganzen keinen Abbruch. Es ist nicht nur in historischer Hinsicht wertvoll, zu erfahren, wie die Gemeinde hernach die Predigt des Propheten aufnahm und verstand. Ein Blick in die Psalmen, die zum großen Teil nach dem Exil entstanden sind, zeigt, dass es wahrlich auch in jener Zeit geistbegabte Männer gab, die wohl wert sind, gehört zu werden.“ (BAT, 30f.)
2.
Zum Aufbau
und zur Gliederung des Buches Jeremia
Die Textabschnitte sind zu einem großen Teil ohne eine klar erkennbare Ordnung oder Chronologie zusammengestellt worden (z.B. die Einleitung zu den Gerichtsworten über die Völker steht in 25,15-38, die Gerichtsworte selbst aber in 46-51; ständige Sprünge aus der Zeit Jojakims in die Zeit Zedekias – und umgekehrt).
Folgende grobe Gliederung ist erkennbar:
1. Buchüberschrift, Berufung und Sendung (1,1-19)
2. Schuld, Strafe und Umkehr (2,1-6,30)
3. Worte Jeremias zur Zeit König Jojakims (7,1-20,18)
4. Worte zum Zeitgeschehen in der Endphase des Königreiches Juda (21,1-24,10)
5. Jeremia zieht Bilanz und kündigt ein siebzig Jahre dauerndes Exil an (25,1-14)
6. Einleitung zu Gottes Gericht über alle Völker (25,15-38)
7. Berichte über das Wirken und die Verfolgung Jeremias (26,1-29,32)
8. Zukünftiges Heil – das Trostbuch (30,1-33,26)
9. Berichte über das Wirken Jeremias, sein Schicksal und das der Übriggebliebenen (34,1-45,5)
10. Gerichtsworte gegen fremde Völker (46,1-51,64)
11. Weiterer Bericht über den Fall Jerusalems und die Wegführung nach Babylon (52,1-34)
3.
Stationen
der Geschichte Israels von der Reichsteilung bis zum babylonischen Exil
Um die Abschnitte des Buches Jeremia besser zu verstehen, müssen wir wissen, auf welche historische Situation sie sich beziehen. Dazu folgt an dieser Stelle eine Übersicht über die wichtigsten Stationen der Geschichte Israels von der Reichsteilung bis zum babylonischen Exil.
In der Auslegung wird – soweit möglich – zu Beginn kurz angegeben, auf welche dieser Situationen sich der folgende Text bezieht.
1 |
926 kommt es zur Reichsteilung: Nordreich Israel – Südreich Juda. |
2 |
882-845: Omri-Dynastie im Nordreich. Das Nordreich stabilisiert sich politisch. Kehrseite der Medaille: Furchtbarkeitskult und religiöse Einflüsse verbündeter Staaten. Prophetische Gegenbewegung (Elia). |
3 |
845: Putsch durch Jehu – mit Unterstützung von Elisa. Baalskult wird bekämpft. Beginn der Jehu-Dynastie (bis ca. 750). |
4 |
Assyrisches Weltreich, Israel wird tributpflichtig (841). |
5 |
Schwächephase der Assyrer und Erstarken der Aramäer (Damaskus) führt zur Unterwerfung Israels und Judas unter die Aramäer. |
6 |
Wiedererstarken der Assyrer um 800 führt zur Niederlange der Aramäer und zu einer Phase relativer Freiheit für Israel und Juda. Auch wirtschaftlich kommt es zu einem Aufschwung. Kehrseite der Medaille: Fruchtbarkeitskult und zunehmende Spannungen zwischen Arm und Reich. Prophetische Gegenbewegung (Hosea, Amos). |
7 |
Um 750 unternehmen die Assyrer einen neuen Anlauf, um Syrien und Palästina zu unterwerfen. Nach dem Tod König Jerobeams II (787-747) kommt es zu Thronwirren. Hintergrund sind Auseinandersetzungen um die richtige Politik gegenüber den Assyrern: freiwillige Unterwerfung oder Bündnisse mit Nachbarstaaten, um Widerstand zu leisten? |
8 |
722: Eroberung Samarias und Verschleppung weiter Teil der Bevölkerung. |
9 |
725-697: Hiskia König in Juda. Es kommt zu religiösen Reformen. Außenpolitisch zunächst neutral, beteiligt er sich nach dem Tod des Assyrerkönigs Sargons II (705) an einem Aufstand, der jedoch scheitert. Jerusalem bleibt verschont, ist aber völlig von Assyrien abhängig. |
10 |
692-642: Manasse König in Juda. Er betreibt eine assurfreundliche Politik. Neben Baal und Aschera (Fruchtbarkeitskult) werden auch assyrische Himmelsgötter verehrt. |
11 |
639-609: Josia König in Juda. Durchführung religiöser Reformen und Erweiterung des Staatsgebietes. |
12 |
609: Josia kommt im Kampf gegen Pharao Necho ums Leben. Hintergrund dieses Krieges: Babylonier und Meder werden zu Großmächten. Die Ägypter wollen den Untergang Assyriens verhindern, weil sie an Assyrien als Puffer gegen Babylon und Medien interessiert sind und zugleich selbst die Vorherrschaft in Palästina übernehmen wollen. Josia aber will den Untergang Assyriens und möchte verhindern, dass die Ägypter über Palästina herrschen. |
13 |
608-598: Jojakim König in Juda |
14 |
605: Nebukadnezar, König von Babylon, besiegt die Ägypter. |
15 |
604: Jojakim unterwirft sich Nebukadnezar. |
16 |
601: Jojakim fällt von Babylon ab. |
17 |
598/597: Jojachin König von Juda. |
18 |
597: Nebukadnezar erobert Jerusalem und verschleppt Jojachin – zusammen mit anderen Gefangenen – nach Babylon. |
19 |
597-587: Zedekia König von Juda. Er wird von Nebukadnezar in dieses Amt eingesetzt (was dazu führt, dass er innenpolitisch schwach ist). |
20 |
594: Zedekia beteiligt sich an einem Bündnis gegen Babylon. Schnell zeigt sich die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens und Zedekia sendet eine „Friedensdelegation“ nach Babylon. |
21 |
589: Erneuter Abfall von Babylon. |
22 |
588: Belagerung Jerusalems durch die Babylonier. |
23 |
588: Zwischenzeitlicher (Teil)Abzug der Babylonier wegen der Schlacht gegen Pharao Hofra. Nach ihrem Sieg setzten die Babylonier die Belagerung Jerusalems fort. |
24 |
587: Eroberung und Zerstörung Jerusalems, Wegführung nach Babylon (größter Teil der Bevölkerung) |
25 |
560: Freilassung Jojachins durch den König von Babylon. |
26 |
539: Einzug des Perserkönigs Kyrus in Babylon. |
27 |
Edikt des Kyrus, das die Rückkehr in die Heimat ermöglicht. |
(Jahreszahlen nach Zeittafel der Lutherbibel)
4.
Die
wichtigsten Aussagen des Buches Jeremia (in Stichworten)
· Das Volk wendet sich anderen Göttern zu. Das ist das Schlimmste, was es machen kann.
· Gott ruft das Volk zur Umkehr, wird aber nicht gehört.
· Das Strafgericht Gottes ist (irgendwann) beschlossene Sache. Nichts und niemand kann daran etwas ändern.
· Abfall von Gott bzw. Götzendienst wird von Gott mit Hilfe feindlicher Mächte bestraft. Politische Rettungsversuche sind sinnlos.
· Die Hoffnung, dass Gott sein Volk nicht verlassen wird, sondern ihm in Notzeiten beistehen wird, ist eine gefährliche Illusion und verhindert die Umkehr.
· Jeremia ruft zur „Realpolitik“ auf. Es ist das Beste, sich der feindlichen Übermacht zu ergeben. Das würde wenigstens die totale Katastrophe verhindern. Außerdem ist es sinnvoll, sich auf das Leben im Exil einzustellen und „der Stadt Bestes“ (Babylons Wohlergehen) zu suchen – anstatt auf ihren Untergang bzw. eine baldige Rückkehr zu hoffen.
· Es gibt eine Zukunftsperspektive für das Volk Gottes – auch wenn in der aktuellen Verkündigung nicht davon die Rede sein kann, weil dies das Volk in falscher Sicherheit wiegen würde. Sie ist mit einem totalen Neuanfang und einem „neuen Menschen“ verbunden.
· Gott hält nicht nur über sein Volk, sondern über alle Völker Gericht – und sorgt damit auch dafür, dass es für sein Volk eine Zukunft gibt.
· Warum rettet Gott sein Volk? Er sagt: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte“. (Jer.31,3)
· Vor Gottes Berufung gibt es (für den Propheten) kein Entrinnen. Prophet zu sein ist eine Quälerei.
5.
Zur Person
des Propheten Jeremia
Wer Jeremia war und was er erlebt hat, bringt folgendes Gedicht exakt auf den Punkt.
JEREMIA SEIN
Jeremia sein heißt: Unbarmherzig und früh gefordert zu werden.
Heißt: Auszuharren.
Heißt: Dazubleiben.
Heißt: Sich nicht einzuschmeicheln, weder beim Volk noch beim König.
Heißt: Ja zu sagen zum Joch eigner und fremder Geschichte.
Heißt: Gottes Vernunft als politisch vernünftig anzuerkennen und zu verteidigen.
Heißt: Wider eigenes Wünschen recht behalten zu müssen,
seinen Staat sich sinnlos auflehnen und in Dummheit versinken zu sehen.
Heißt: Ohnmächtig werden und noch im Alter unfreiwillig auf eine Unerwünschte Seite geraten.
Heißt: Unerkannt, anonym sterben. (Jürgen Rennert)
6.
Abkürzungen/Literatur
· ATD: Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia, Das Alte Testament Deutsch, Bd. 20, Göttingen 2008.
· BAT: Helmut Lamparter, Prophet wider Willen. Der Prophet Jeremia, Die Botschaft des Alten Testaments, Bd. 20, Stuttgart 1982.
· EB: Elberfelder Bibel.
· LB: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers.
· NEB: Josef Schreiner, Jeremia, Die neue Echter Bibel, Würzburg 1985.
· SEB: Stuttgarter Erklärungsbibel