4.1.5 Hiobs erste Antwort an Bildad (9,1-10,22)
In gewisser Weise gibt Hiob Bildad recht: Der Vorwurf, dass Gott ungerecht handelt, geht ins Leere. Aber nicht, weil er unberechtigt wäre, sondern weil der allmächtige Gott tun und lassen kann was er will. Weil er die Macht hat, hat Gott immer Recht – auch wenn er unrecht hat.
(9,1) Hiob antwortete und sprach:
(9,2) Ja, ich weiß sehr gut, dass es so ist
und dass
ein Mensch nicht recht behalten kann gegen Gott.
(9,3) Hat er Lust, mit ihm zu streiten,
so kann er
ihm auf tausend nicht eins antworten.
(9,4) Gott ist weise und mächtig;
wem ist's
je gelungen, der sich gegen ihn gestellt hat?
(9,5) Er versetzt Berge, ehe sie es innewerden;
er kehrt
sie um in seinem Zorn.
(9,6) Er bewegt die Erde von ihrem Ort, dass ihre Pfeiler zittern. (1)
(9,7) Er spricht zur Sonne, so geht sie nicht auf,
und
versiegelt die Sterne.
(9,8) Er allein breitet den Himmel aus
und geht
auf den Wogen des Meers.
(9,9) Er macht den Wagen am Himmel und den Orion
und das
Siebengestirn und die Sterne des Südens.
(9,10) Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen,
und
Wunder, die nicht zu zählen sind.
(9,11) Siehe, er geht an mir vorüber, ohne dass ich's
gewahr werde,
und
wandelt vorbei, ohne dass ich's merke.
(9,12) Siehe, wenn er wegrafft, wer will ihm wehren?
Wer will
zu ihm sagen: Was machst du?
(9,13) Gott wehrt seinem Zorn nicht;
unter ihn
mussten sich beugen die Helfer Rahabs. (2)
(9,14) Wie sollte dann ich ihm antworten
und Worte
finden vor ihm?
(9,15) Wenn ich auch recht habe,
so kann
ich ihm doch nicht antworten,
sondern
ich müsste um mein Recht flehen.
(9,16) Wenn ich ihn auch anrufe, dass er mir antwortet,
so glaube
ich nicht, dass er meine Stimme hört,
(9,17) vielmehr greift er nach mir im Wettersturm
und
schlägt mir viele Wunden ohne Grund.
(9,18) Er lässt mich nicht Atem schöpfen,
sondern
sättigt mich mit Bitternis.
(9,19) Geht es um Macht und Gewalt: Er hat sie.
Geht es um
Recht: Wer will ihn vorladen?
(9,20) Wäre ich gerecht, so müsste mich doch mein Mund verdammen;
wäre ich
unschuldig, so würde er mich doch schuldig sprechen.
(9,21) Ich bin unschuldig!
Ich möchte
nicht mehr leben;
ich
verachte mein Leben.
1 „Gott erschüttert … die Erde durch Erdbeben, wie sie in Palästina häufig und gefürchtet waren. Die Erdscheibe ruht zwar auf festen Pfeilern (Ps.75,4; 1.Sam.2,8) … Aber Gott kann die fest gegründete Erde erschüttern und beben lassen …“ (FOHRER, 205). Vgl. 26,7.
2 „Rahab“ ist der (Meeres)Drache, den Gott „zu Anbeginn der Welt“ „zerhauen“ hat (Jes.51,9). Vgl. 26,12.
Gott macht, was er will. Bildad hat unrecht, wenn er meint, dass Gott die Frommen belohnt und die Gottlosen bestraft (8,20-22). Er vertilgt die Schuldigen und die Unschuldigen gleichermaßen.
(9,22) Es ist eins, darum sage ich:
Er bringt
den Frommen um wie den Gottlosen.
(9,23) Wenn seine Geißel plötzlich tötet,
so spottet
er über die Verzweiflung der Unschuldigen.
(9,24) Er hat die Erde unter gottlose Hände gegeben,
und das
Antlitz ihrer Richter verhüllt er.
Wenn nicht
er, wer anders sollte es tun?
So ist Hiobs Lage aussichtslos. Gott behandelt ihn wie einen Schuldigen. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn Hiob sich von seiner (angeblichen) Schuld reinigen würde (vgl. 8,5.6).
(9,25) Meine Tage sind schneller gewesen als ein
Läufer;
sie sind
dahingeflohen und haben nichts Gutes erlebt.
(9,26) Sie sind dahingefahren wie schnelle Schiffe,
wie ein
Adler herabstößt auf die Beute.
(9,27) Wenn ich denke:
Ich will
meine Klage vergessen
und mein
Angesicht ändern und heiter bleiben,
(9,28) so fürchte ich doch wieder alle meine Schmerzen,
weil ich
weiß, dass du mich nicht unschuldig sprechen wirst.
(9,29) Ich soll ja doch schuldig sein!
Warum mühe
ich mich denn so vergeblich?
(9,30) Wenn ich mich auch mit Schneewasser wüsche
und
reinigte meine Hände mit Lauge,
(9,31) so wirst du mich doch eintauchen in die Grube,
dass sich
meine Kleider vor mir ekeln.
Hiob möchte mit Gott über seinen Fall reden. Aber mit dem allmächtigen Gott ist nicht zu diskutieren. Es gibt keine neutrale (Gerichts)Instanz, vor der Hiob seine Sache vorbringen könnte.
(9,32) Denn er ist nicht ein Mensch wie ich, dem ich
antworten könnte,
dass wir
miteinander vor Gericht gingen.
(9,33) Dass es doch zwischen uns einen Schiedsmann
gäbe,
der seine
Hand auf uns beide legte!
(9,34) Dass er seine Rute von mir nehme und mich nicht
mehr ängstige!
(9,35) So wollte ich reden und mich nicht vor ihm
fürchten,
denn ich
bin mir keiner Schuld bewusst.
Aber auch wenn Hiob sich Gott gegenüber hilflos und ohnmächtig fühlt, treibt es ihn in seiner Verzweiflung immer wieder zu ihm hin, um ihn anzuklagen. Er fragt Gott nach den Gründen für sein Verhalten ihm gegenüber. Er geht die verschiedenen Möglichkeiten durch (Gott vernichtet sein eigenes Geschöpf, 10,3.8-12; Gott handelt kurzsichtig, 10,4; Gott ist kurzlebig wie ein Mensch, 10,5ff.) und zeigt dabei, dass sie allesamt keinen Sinn machen.
(10,1) Mich ekelt mein Leben an.
Ich will
meiner Klage ihren Lauf lassen
und reden
in der Betrübnis meiner Seele
(10,2) und zu Gott sagen: Verdamme mich nicht!
Lass mich
wissen, warum du mich vor Gericht ziehst.
(10,3) Gefällt dir's, dass du Gewalt tust und verwirfst mich,
den deine
Hände gemacht haben,
und
bringst der Gottlosen Vorhaben zu Ehren?
(10,4) Hast du denn Menschenaugen,
oder
siehst du, wie ein Sterblicher sieht? (1)
(10,5) Oder ist deine Zeit wie eines Menschen Zeit
oder deine
Jahre wie eines Mannes Jahre,
(10,6) dass du nach meiner Schuld fragst
und nach
meiner Sünde suchst, (2)
(10,7) wo du doch weißt, dass ich nicht schuldig bin
und
niemand da ist, der aus deiner Hand erretten kann?
(10,8) Deine Hände haben mich gebildet und bereitet;
danach
hast du dich abgewandt und willst mich verderben?
(10,9) Bedenke doch, dass du mich aus Erde gemacht hast,
und lässt
mich wieder zum Staub zurückkehren?
(10,10)Hast du mich nicht wie
Milch hingegossen
und wie
Käse gerinnen lassen?
(10,11)Du hast mir Haut und
Fleisch angezogen;
mit
Knochen und Sehnen hast du mich zusammengefügt;
(10,12)Leben und Wohltat hast
du an mir getan,
und deine
Obhut hat meinen Odem bewahrt.
1 Verfügt
Gott über eine nur beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit wie ein Mensch, so dass er
Hiob falsch beurteilt? Hat er wie mit menschlicher Kurzsichtigkeit angenommen,
dass Hiob eine solche Behandlung verdiene?“ (Fohrer, 214).
2 „Ist Gott so kurzlebig wie ein Mensch, dass er nicht warten kann, bis es sich herausstellt, wie es um Hiob steht, sondern eilig nach einer Sünde Hiobs forschen muss, um ihn deswegen verurteilen zu können?“ (Fohrer, 215).
Weil die bisher genannten Möglichkeiten ausscheiden, bleibt nur eine Möglichkeit: Gott ist sein Feind und jagt ihn.
(10,13)Aber du verbargst in
deinem Herzen
ich weiß,
du hattest das im Sinn -,
(10,14)dass du darauf achten
wolltest, wenn ich sündigte,
und mich
von meiner Schuld nicht lossprechen.
(10,15)Wäre ich schuldig,
dann wehe mir!
Und wäre
ich schuldlos, so dürfte ich doch mein Haupt nicht erheben,
gesättigt
mit Schmach und getränkt mit Elend.
(10,16)Und wenn ich es
aufrichtete,
so würdest
du mich jagen wie ein Löwe
und
wiederum erschreckend an mir handeln.
(10,17) Du würdest immer neue
Zeugen gegen mich stellen
und deinen
Zorn auf mich noch mehren
und immer
neue Heerhaufen gegen mich senden.
Daher wünscht sich Hiob, er wäre nie geboren und bittet Gott, ihm vor seinem Tod wenigstens eine kleine Atempause zu gönnen.
(10,18)Warum hast du mich aus
meiner Mutter Leib kommen lassen?
Ach dass
ich umgekommen wäre
und mich
nie ein Auge gesehen hätte!
(10,19)So wäre ich wie die,
die nie gewesen sind,
vom Mutterleib
weg zum Grabe gebracht.
(10,20)Ist denn mein Leben
nicht kurz?
So höre
auf und lass ab von mir,
dass ich
ein wenig erquickt werde,
(10,21)ehe denn ich hingehe -
und komme nicht zurück –
ins Land
der Finsternis und des Dunkels,
(10,22)ins Land, wo es
stockfinster ist und dunkel ohne alle Ordnung,
und wenn's
hell wird, so ist es immer noch Finsternis.