Einführung in das Buch Daniel
In seiner „Vorrede über den Propheten Daniel“ betont Martin Luther die besondere Bedeutung dieses biblischen Buches. Zusammenfassend stellt er fest:
„Summa, es ist unter allen
Abrahams-Kindern keiner so hoch in der Welt erhöht, als Daniel. Es war Joseph
wohl groß in Ägypten bei König Pharao, so waren David und Salomo groß in
Israel: aber es sind Alles geringe Könige und Herrn, gegen die Könige zu Babel
und Persien, bei welchen Daniel der oberste Fürst war.
Welche er auch wunderbarlich zu Gott bekehrt, und ohne Zweifel in beiden Kaiserthümern große Frucht bei vielen Leuten geschafft hat,
die durch ihn zur Erkenntnis Gottes gekommen und selig geworden sind …
Diesen Daniel befehlen wir
nun zu lesen allen frommen Christen, welchen er zu dieser elenden letzten Zeit
tröstlich und nützlich ist. Aber den Gottlosen ist er kein nütze, wie er selbst
am Ende sagt: Die Gottlosen bleiben gottlos und achten es nicht. Denn solche
Weissagung Daniel und drgl sind nicht allein darum
geschrieben, dass man die Geschichte und die künftigen Trübsale wissen …
sollte, sondern dass sich die Frommen damit trösten und fröhlich machen und
ihren Glauben und Hoffnung in der Geduld stärken sollen …, dass ihr Jammer ein
Ende haben und sie von Sünden, Tod, Teufel und allem Übel (…) ledig, in den
Himmel zu Christo, in sein seliges ewiges Reich kommen sollen …
Darum sehen wir auch hier,
dass Daniel alle Gesichte und Träume, wie gräulich sie sind, immerdar mit
Freuden endet, nämlich mit Christi Reich und Zukunft, um welches Zukunft willen
… solche Gesichte und Träume gebildet, gedeutet und geschrieben sind. Wer sie
nun auch will nützlich lesen, der soll an der Historie oder Geschichte nicht
hangen oder haften und da bleiben; sondern sein Herz weiden und trösten in der
verheißenen und gewissen Zukunft unseres Heilandes Jesu Christi als in der
seligen und fröhlichen Erlösung von diesem Jammerthale und Elende.“ (WA 11.2,
129f.)
Die Auslegung des Buches Daniel ist allerdings mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden. Umstritten ist bereits seine Stellung im Kanon des Alten Testaments:
„Im hebräischen Kanon steht
das Buch ganz am Ende unter den ‚Schriften‘ (vor Esra-Nehemia und den Chronikbüchern),
während es in der Septuaginta die Reihe der ‚Großen Propheten‘ abschließt; die
Vulgata und die meisten deutschen Übersetzungen folgen der Septuaginta.“ (Rolf Rendtorff, Das Alte Testament. Eine Einführung, 286).
Auch der Aufbau des Buches ist nicht so klar, wie man auf den ersten Blick meinen könnte:
„Auf den ersten Blick
scheint es sich in zwei Teile zu gliedern, die ganz unterschiedlichen Charakter
haben: Kap.1-6 Erzählungen von Daniel und seinen Freunden, Kap.7-12 Visionen.
Dieser Gliederung steht aber ein anderes Einteilungsmerkmal entgegen, das eine
weitere Besonderheit des Danielbuches darstellt: der
Sprachenwechsel. Das Buch beginnt in hebräischer Sprache, wechselt in 2,4
mitten in der Erzählung ins Aramäische über und kehrt mit dem Beginn von Kap.8
ins Hebräische zurück. Der aramäische Teil 2,4b-7,28 ist also von dem
hebräischen Teil umrahmt; diese Gliederung deckt sich nicht mit der
gattungsmäßigen Einteilung in Erzählungen und Visionen.“ (Rolf Rendtorff, Das Alte Testament. Eine Einführung, 287).
Die größte Herausforderung stellt sich aber bei der Auslegung der Texte. Werner Kessler hat die Auslegungsgeschichte bzw. die beiden Grundrichtungen der Auslegung des Buches Daniel gut auf den Punkt gebracht:
„Wer sich heute vor die
Aufgabe gestellt sieht, das Buch Daniel auszulegen, ist vor eine schwere
Entscheidung gestellt. Sie heißt: Folge ich der alten kirchlichen Überlieferung
oder trete ich auf den Boden moderner geschichtlicher Erkenntnisse? …
Wie ist die Lage der
Auslegung? Durch das ganze 19. Jahrhundert zog sich der erbitterte Widerstreit
zwischen konservativer und kritischer Auffassung unseres Buches. – Die
konservative Linie der Auslegung ist durch folgende Sätze zu umreißen: 1. Das
Buch bietet streng geschichtliche Überlieferungen über Daniel und seine Wirksamkeit.
2. Daniel ist eine historisch greifbare Gestalt; er war ein Staatsmann am Hofe
Nebukadnezars und hat seine hohe Stellung oder doch maßgebenden Einfluss unter
den folgenden Königen des neubabylonischen Reiches behauptet bis hinein in die
Zeit des Persischen Reiches unter Darius und Cyrus. 3. Zugleich war er Prophet,
der Gesichte empfing und sie aufschrieb, weniger für seine Zeitgenossen als zu
Nutz und Frommen für spätere Geschlechter. 4. Seine prophetischen Ausblicke
umfassen künftige Jahrhunderte, wohl gar Jahrtausende; er ist der Prophet einer
weiten Vorausschau, der großzügig und doch auch wieder bis ins einzelne den Weltplan Gottes enthüllt. 5. Umstritten blieb die Frage,
wie weit die Prophetie Daniels reicht, ob nur bis in die makkabäische
Zeit, oder bis in die Tage Jesu und der Zerstörung Jerusalems durch die Römer
oder gar bis in die ‚letzte Zeit‘.
Dem gegenüber erwuchs eine
kritische Auffassung des Buches Daniel … Das Entscheidende in ihr war und ist,
dass sie in dem Verfasser des Buches einen Mann sieht, der zur Zeit der großen
Bedrängnis des Gottesvolkes unter dem Seleukidenkönig
Antiochus IV. Epiphanes gelebt hat und bestimmt war,
der verfolgten Gemeinde als prophetischer Seelsorger zu dienen, ihr die Notzeit
im Lichte Gottes zu deuten und sie im treuen Ausharren zu stärken. Er tat das,
indem er die überlieferten Geschichten von Daniel und seinen Freunden, die von
Standhaftigkeit des Glaubens und der Rettertreue
Gottes zeugten, seinen bedrängten Zeitgenossen darbot. Ja, er legte die ihm
aufgetragene Botschaft vom baldigen Ende der Bedrängnis und vom Hereinbrechen
der Gottesherrschaft jenen alten Propheten selber in den Mund. In Form
vorausschauender Weissagung …gibt er eine Überschau über in Wahrheit schon
größtenteils durchlebte Geschichte und verkündet den bevorstehenden Sturz des
widergöttlichen Königs und damit ihr baldiges Ende.“ (Werner Kessler, Zwischen Gott und Weltmacht. Das Buch Daniel, Stuttgart
1988, 11f.).
Aber Kessler hat nicht nur über die Auslegungsgeschichte informiert, sondern auch auf die damit verbundenen Herausforderungen hingewiesen und die Frage nach der richtigen Haltung des Auslegers aufgeworfen:
„Wie ist die innere
Situation des Auslegers der Heiligen Schrift? Es ist eine in jeder Weise
ungesicherte Situation des Wagnisses aus dem Glauben und auf die Wahrheit. Wir
haben unsere Auslegung allein vor Gott zu verantworten, und niemand nimmt uns
diese Verantwortung ab. Wir können uns vor Gott als Ausleger nicht rechtfertigen
mit dem Hinweis auf Autoritäten, mögen sie heißen, wie sie wollen. Wir können
uns in unserer Verantwortung vor Gott weder hinter dem Schild der kirchlichen Tradition
noch hinter die sogenannten wissenschaftlichen Resultate verkriechen. Auslegung
bedeutet persönliches Befragtsein und eigene
Entscheidung mit der ganzen Last eines Wagnisses, das Gott einmal beurteilen
wird.
Jeder, der das Auslegen
ernst nimmt, spürt seine Blöße und Nacktheit und späht eifrig aus nach dem
schützenden Versteck, hinter dem er sich verbergen kann. – Wissenschaft und
kirchliche Tradition aber sind zwei solche Verstecke von gleicher
Gefährlichkeit, wenn wir es grundsätzlich sehen. Da aber je die Zeiten
verschiedene sind, ist auch die Gefahr jeweils eine verschiedene. Es hat Zeiten
gegeben, in denen es notwendig war, besonders vor dem Versteck der
‚Wissenschaft‘ zu warnen. Man glaubte da, hinter dem Schutzschild ihrer
gesicherten Feststellungen und ohne große eigene Verantwortung die Bibel
auslegen zu können. – Es mag heute nicht unnötig sein, den Ausleger davor zu
warnen, es sich unter dem lieblichen Schatten der kirchlichen Tradition bequem
zu machen. Grundsätzlich betrachtet, eignet beiden Autoritäten eine Macht der
Verführung, die weglockt von dem steinigen und steilen Pfad der eigenen
Entscheidung vor der Wahrheit Gottes.
Die Warnung vor der
verführenden Macht der Wissenschaft ist von Kirche und Gemeinde gern gehört
worden; die Warnung vor der gefährlichen Macht kirchlicher Traditionen ist ein
Ruf, der Ärgernis erregt. Zu gern setzt die Kirche Gott und kirchliche
Tradition, Wahrheit und Überlieferung gleich, nicht nur im katholischen,
sondern auch im protestantischen Lager. Wir sagten schon, es fährt sich so gut
im gesicherten Geleitzug … Und doch darf die Frage nach der rechten Auslegung
der Schrift nicht so solchen – wenn auch noch so verständlichen – Bedürfnissen
aus bestimmt werden. Der Ausleger ist im Glauben herausgerufen, auch aus der
schönen Heimat alter Überlieferung, er muss den Widerstreit zwischen Tradition
und kritischer Wahrheitsfrage aushalten und auf dem unbequemen Wege der eigenen
verantwortlichen Entscheidung bleiben. (Werner Kessler, Zwischen
Gott und Weltmacht. Das Buch Daniel, Stuttgart 1988, 12f.).
In diesem Sinne muss die Entscheidung bei der eigenen Beschäftigung mit dem Bibeltext fallen. In meinen Ausführungen weise ich immer wieder auf verschiedene Deutungsversuche hin und lade bereits auf diese Weise dazu ein, alle Auslegungen kritisch zu hinterfragen. Entscheidend aber ist die konkrete Arbeit am Text selbst. Es ist zu fragen, welche Auslegung ihm am besten entspricht. Dabei kommt es – wie immer – darauf an, nicht vorgefasste Meinungen in den Text „hineinzulesen“, sondern möglichst vorurteilsfrei auf den Text selbst zu hören.
Dabei ist auch folgende Einsicht von Bedeutung: So wichtig und unabweisbar einerseits die Frage ist, auf welche vergangene, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse sich die Texte beziehen, so muss andererseits klar sein, dass wir „an der Historie oder Geschichte nicht hangen oder haften und da bleiben“ (Luther), sondern nach der theologischen Bedeutung der Aussagen fragen. Hier setzt das Buch Daniel wichtige Akzente, die über die anderen prophetischen Bücher des Alten Testaments hinausgehen:
„Hier [im Buch Daniel] weitet
sich der Bereich des heilschaffenden Handeln Gottes auf die gesamte Völkerwelt
aus. Aus seiner Geschichte mit Israel vom Exodus und vom Sinai her wird ein
weltgeschichtlicher Geschehenszusammenhang, der auf ein universales Weltgericht
und auf die Errichtung eines ewigen Gottesreiches hinausläuft. Die großen
Weltreiche erscheinen in den Visionen Daniels als Ansammlungen gottwidriger und
schließlich offen gottfeindlicher Macht. Am Ende werden sie alle durch Gottes
grenzenlose Übermacht vernichtet werden. Dann wird Gott sein alleiniges ewiges
Universalreich aufrichten.“ (Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments,
Bd. II.2, 309f.).
Diese theologischen Aussagen des Buches Daniel müssen bei der Auslegung im Mittelpunkt stehen – was jeweils spätestens bei der „Zusammenfassung“ am Ende eines jeden Kapitels deutlich werden soll.
Folgende Kommentare wurden bei der Erarbeitung bevorzugt herangezogen und werden im Rahmen der Auslegung häufiger zitiert:
Wissenschaftliche Kommentare/Monographien
Haag, Ernst. Daniel. Die
Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament mit der Einheitsübersetzung.
Würzburg, 1993. (zit. als Haag).
Kessler, Werner. Zwischen
Gott und Weltmacht. Das Buch Daniel. Die Botschaft des Alten Testaments. Bd.
22. Stuttgart 1988. (zit. als Kessler).
Lebram, Jürgen-Christian. Das Buch
Daniel. Zürcher Bibelkommentare. Bd. 23. Zürich, 1984 (zit. als Lebram)
Plöger, Otto. Das Buch Daniel.
Kommentar zum Alten Testament. Gütersloh, 1965.
Porteous, Norman W. Das Buch Daniel.
Das Alte Testament Deutsch. Bd. 23. Göttingen, 1968. (zit. als Porteous)
„Evangelikale“ Auslegungen
Maier, Gerhard. Der Prophet
Daniel. Wuppertaler Studienbibel. Wuppertal, 1986. (zit. als Maier).
Adventistische Kommentare
Nichol, Francis D. (Ed.). The Seventh-day Adventist Bible Commentary (ABC). Vol.4. Washington, Hagerstown, 1957. (zit. als ABC).
Smith, Uriah. Gedanken über
Daniel und die Offenbarung. Mountain
View, o. J. (zit. als Smith).
Shea, William H. Das Buch
Daniel. Teil 1. Lüneburg 1998. (zit als Shea I)
Shea, William H. Das Buch
Daniel. Teil 2. Lüneburg 1998. (zit als Shea II)
Stefanovic, Zdravko. Daniel: wisdom to the wise: commentary on the book
of Daniel. Nampa, 2007. (zit. als Stefanovic)
Bibeltexte werden i.d.R. nach der Elberfelder Bibel zitiert. Auf andere Übersetzungen wird ggf. ausdrücklich hingewiesen.
EÜ Einheitsübersetzung
LB Luther-Bibel (2017)
LXX-D Septuaginta
Deutsch
NGÜ Neue Genfer Übersetzung
ZB Zürcher Bibel
SCHL Schlachter 2000