9 Siebzig Jahre und siebzig
Wochen (9,1-27)
Das neunte Kapitel des Buches Daniel „befasst sich in seinem Kern ausdrücklich mit der Frage der Zeit des kommenden Endes. Das Besondere dabei ist, dass sich dem Propheten diese Frage aus dem Studium der Schrift aufdrängt. Ihm macht dabei die Weissagung Jeremias von den siebzig Jahren, während derer Jerusalem verödet liegen soll, innere Schwierigkeiten … Aber es geht dabei nicht nur um die Zeit, sondern noch um Tieferes. Es wird ihm das innere Verständnis des ganzen Zeitraums seit jenem Prophetenwort erschlossen, und er bekommt die Frage beantwortet …, warum eigentlich die volle Erfüllung jener alten Gottesverheißung noch immer nicht eingetroffen war.“ (Kessler, 129).
Die ersten Verse zeigen das Problem, dass sich für Daniel stellt:
(1)
Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros,
vom Geschlecht der Meder, der über das Reich der Chaldäer König geworden war,
(2) im ersten Jahr seiner Königsherrschaft achtete ich, Daniel, in den
Bücherrollen auf die Zahl der Jahre, über die das Wort des HERRN zum Propheten
Jeremia geschehen war, dass nämlich siebzig Jahre über den Trümmern Jerusalems
dahingehen sollten. (3) Und ich richtete mein Gesicht zu Gott, dem Herrn, hin,
um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sack und Asche.
(1) Von „Darius … vom Geschlecht der Meder“ war bereits in 6,1 die Rede: „Und Darius, der Meder, übernahm die Königsherrschaft, als er 62 Jahre alt war.“ Er wird in Kapitel 11 noch einmal erwähnt (11,1: „… im ersten Jahr des Meders Darius war es meine Aufgabe …“).
Daniel bezeichnet Darius als „Sohn des Ahasveros“. Nun ist von Darius und Ahasveros auch an anderer Stelle die Rede. Dabei geht es allerdings um den Perserkönig Darius I (521-486), den Vorgänger bzw. Vater von Ahasveros (z.B. Esr.4,5-7). Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder handelt es sich in Daniel 9 um andere Personen gleichen Namens oder der Verfasser hat hier etwas verwechselt.
(2) Daniel berichtet aus dem „ersten Jahr“ der „Königsherrschaft“ des Darius. Entsprechend der Chronologie des Danielbuches muss es sich dabei um die Zeit unmittelbar nach dem Fall Babylons handeln (5,30-6,1) – also ungefähr um das Jahr 538 n.Chr. Daniel ist bewusst, dass „in den „Bücherrollen“ von einem „Wort des HERRN zum Propheten Jeremia“ berichtet wird, wo davon die Rede ist, dass „siebzig Jahre über den Trümmern Jerusalems dahingehen“ sollen.
Von den „siebzig Jahren“ ist im Buch Jeremia selbst, aber auch an anderen Stellen des Alten Testaments die Rede, in denen auf das „Wort des HERRN zum Propheten Jeremia“ Bezug genommen wird:
Jer.25,11: Und dieses ganze Land wird zur Trümmerstätte,
zur Wüste werden; und diese Nationen werden dem König von Babel dienen siebzig
Jahre lang.
Jer.29,10: Denn so spricht
der HERR: Erst wenn siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort, euch an diesen Ort
zurückzubringen, an euch erfüllen.
Sach.1,12: Aber der Engel
des HERRN antwortete und sprach: HERR der Heerscharen, wie lange willst du dich
nicht über Jerusalem und die Städte Judas erbarmen, die du verwünscht hast
diese siebzig Jahre?
Sach.7,5: Sprich zum ganzen
Volk des Landes und zu den Priestern: Wenn ihr im fünften und im siebten Monat
beim Wehklagen gefastet habt, und dies siebzig Jahre, habt ihr etwa mir
gefastet?
Esr.1,1: Und im ersten Jahr des Kyrus,
des Königs von Persien, erweckte der HERR, damit das Wort des HERRN aus dem
Mund Jeremias erfüllt würde, den Geist des Kyrus, des
Königs von Persien, dass er durch sein ganzes Reich einen Ruf ergehen ließ, und
zwar auch schriftlich:
2.Chr.36,21-22: (21) damit erfüllt würde das Wort des HERRN
durch den Mund Jeremias, bis das Land seine Sabbate ersetzt bekam. All die Tage
seiner Verwüstung hatte es Ruhe, bis siebzig Jahre voll waren. (22) Und im
ersten Jahr des Kyrus, des Königs von Persien, damit
das Wort des HERRN durch den Mund Jeremias erfüllt würde, erweckte der HERR den
Geist des Kyrus, des Königs von Persien. Und er ließ
einen Aufruf ergehen durch sein ganzes Königreich und auch schriftlich
bekanntmachen:
Interessanterweise sind seit dem „dritten Jahr der Regierung Jojakims“ (1,1), also dem Jahr 607 v. Chr., ziemlich genau siebzig Jahre vergangen, in denen Daniel in den Diensten verschiedenen Könige gestanden hat (1,21).
(3) Weil das Ende der „siebzig Jahre“ gekommen ist, wendet Daniel sich an Gott, um ihn „mit Gebet und Flehen zu suchen“. Gott „zu suchen“ meint, mit „ganzen Herzen“ und mit der „ganzen Seele“ nach ihm zu „fragen“ (5.Mos.4,29).
Nach Jeremia 29,10-14 ist das die Voraussetzung, dass Gott sein Volk erhört und es nach siebzig Jahren wieder nach Jerusalem zurückbringt:
(10) Denn so spricht der HERR: Erst wenn
siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen
und mein gutes Wort, euch an diesen Ort zurückzubringen, an euch erfüllen. (11)
Denn ich kenne ja die Gedanken, die ich über euch denke, spricht der HERR,
Gedanken des Friedens und nicht zum Unheil, um euch Zukunft und Hoffnung zu
gewähren. (12) Ruft ihr mich an, geht ihr hin und betet zu mir, dann werde ich
auf euch hören. (13) Und sucht ihr mich, so werdet ihr mich finden, ja, fragt
ihr mit eurem ganzen Herzen nach mir, (14) so werde ich mich von euch finden
lassen, spricht der HERR. Und ich werde euer Geschick wenden und euch sammeln
aus allen Nationen und aus allen Orten, wohin ich euch vertrieben habe, spricht
der HERR. Und ich werde euch an den Ort zurückbringen, von dem ich euch
gefangen weggeführt habe.
Daniel sucht „in Fasten und Sack und Asche“ nach Gott. Das ist Ausdruck der Trauer (Klg.2,10), aber auch der Umkehr (Jon.3,5-9) und ist in Neh.9,1-2 mit dem Bekenntnis der Sünde verbunden: „(1) Und am 24. Tag dieses Monats versammelten sich die Söhne Israel unter Fasten und in Sacktuch, und mit Erde auf ihrem Haupt. (2) Und alle, die israelitischer Abstammung waren, sonderten sich ab von allen Söhnen der Fremde. Und sie traten hin und bekannten ihre Sünden und die Verfehlungen ihrer Väter.“
Die Verse 4-19 geben Daniels Gebet wieder.
(4)
Und ich betete zum HERRN, meinem Gott, und ich bekannte und sprach: Ach, Herr,
du großer und furchtbarer Gott, der Bund und Güte denen bewahrt, die ihn lieben
und seine Gebote halten! (5) Wir haben gesündigt und haben uns vergangen und
haben gottlos gehandelt, und wir haben uns aufgelehnt und sind von deinen
Geboten und von deinen Rechtsbestimmungen abgewichen. (6) Und wir haben nicht
auf deine Knechte, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren
Königen, unseren Obersten und unseren Vätern und zum ganzen Volk des Landes
geredet haben. (7) Bei dir, o Herr, ist die Gerechtigkeit, bei uns aber ist die
Beschämung des Angesichts, wie es an diesem Tag ist: bei den Männern von Juda und den Bewohnern von Jerusalem und dem ganzen Israel,
den Nahen und den Fernen, in allen Ländern, wohin du sie vertrieben hast wegen
ihrer Untreue, die sie gegen dich begangen haben. (8) HERR! Bei uns ist die
Beschämung des Angesichts, bei unseren Königen, unseren Obersten und unseren
Vätern, weil wir gegen dich gesündigt haben. (9) Bei dem Herrn, unserem Gott, ist das Erbarmen und die Vergebung. Denn wir haben uns gegen
ihn aufgelehnt, (10) und wir haben nicht auf die Stimme des HERRN, unseres
Gottes, gehört, der uns gebot, in seinen Gesetzen zu leben, die er uns durch
seine Knechte, die Propheten, vorgelegt hat. (11) Und ganz Israel hat dein Gesetz
übertreten und ist abgewichen, so dass sie deiner Stimme nicht gehorcht haben.
Und so hat sich der Fluch und der Schwur über uns
ergossen, der im Gesetz des Mose, des Knechtes Gottes, geschrieben steht, weil
wir gegen ihn gesündigt haben. (12) Und er hat seine Worte erfüllt, die er
geredet hat über uns und über unsere Richter, die uns richteten, nämlich ein
großes Unglück über uns zu bringen, so dass unter dem ganzen Himmel nichts
derartiges geschehen ist wie das, was an Jerusalem geschehen ist. (13) Wie es im Gesetz des Mose geschrieben steht,
so ist all dies Unglück über uns gekommen. Und wir haben das Angesicht des
HERRN, unseres Gottes, nicht besänftigt, indem wir von unserer Schuld umgekehrt
wären und achtgehabt hätten auf deine Wahrheit. (14) Und so war der HERR auf
das Unglück bedacht und ließ es über uns kommen. Denn der HERR, unser Gott, ist
gerecht in allen seinen Taten, die er tut. Aber wir haben nicht auf seine
Stimme gehört.
(4) Einleitend betont Daniel die ehrfurchtgebietende Größe Gottes, die sich darin zeigt, dass sich alle, „die ihn lieben und seine Gebote halten“, auf ihn verlassen können. Ihnen gegenüber hält Gott an seinem „Bund“, den er mit ihnen geschlossen hat, fest und ist treu (vgl. Neh.1,5: „Ach, HERR, Gott des Himmels, du großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Gnade denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote bewahren!“).
(5-6) Der Güte und Treue Gottes stehen die Verfehlungen des Volkes gegenüber. Zunächst heißt es: „Wir haben gesündigt und haben uns vergangen und haben gottlos gehandelt, und wir haben uns aufgelehnt und sind von deinen Geboten und von deinen Rechtsbestimmungen abgewichen.“ Dann fügt Daniel hinzu: „Und wir haben nicht auf deine Knechte, die Propheten, gehört …“ Auf diese Feststellung legt er deshalb besonderen Wert, weil sich ein entsprechender Vorwurf im Zusammenhang mit der Ankündigung der „siebzig Jahre“ in Jeremia 25,11 und 29,10 findet:
Jer.25,3-4: (3) Vom dreizehnten Jahr Josias,
des Sohnes Amons, des Königs von Juda,
bis auf diesen Tag, jetzt schon 23 Jahre, ist das Wort des HERRN zu mir
geschehen. Und ich habe zu euch geredet, früh mich aufmachend und redend, aber
ihr habt nicht gehört. (4) Und der HERR hat all seine Knechte, die Propheten,
zu euch gesandt, früh sich aufmachend und sendend. Aber ihr habt nicht gehört
und habt eure Ohren nicht geneigt, um zu hören,
Jer.29,19: weil sie auf
meine Worte nicht gehört haben, spricht der HERR, womit ich meine Knechte, die
Propheten, zu ihnen sandte, früh mich aufmachend und sendend. Aber ihr habt nicht
gehört, spricht der HERR.
Die Propheten haben im Namen Gottes zu den „Königen … Obersten … Vätern und zum ganzen Volk des Landes geredet“. Eine ähnliche Auflistung findet sich in Jer.44,17.21. Mit den „Vätern“ sind sicher die Führer der Großfamilien gemeint.
(7-11a) Die folgenden Verse führen die Gegenüberstellung zwischen Gott und seinem Volk weiter. Bei Gott „ist die Gerechtigkeit“. Damit ist sein rettendes und helfendes Eingreifen gemeint (9,15-16: „(15) Und nun, Herr, unser Gott, der du dein Volk aus dem Land Ägypten mit starker Hand herausgeführt und dir einen Namen gemacht hast, wie es an diesem Tag ist! … (16) Herr, nach all den Taten deiner Gerechtigkeit mögen doch dein Zorn und deine Erregung sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, dem Berg deines Heiligtums! Denn wegen unserer Sünden und wegen der Vergehen unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk zum Hohn geworden für alle rings um uns her.“). Entsprechend heißt es in Vers 9: „Bei dem Herrn, unserem Gott, ist das Erbarmen und die Vergebung …“.
Demgegenüber ist bei dem ganzen Volk, das Gott „vertrieben“ hat, „die Beschämung des Angesichts“. Es befindet sich in einer Situation äußerster Schmach und Schande (vgl. Esr.9,7: „… sind wir, wir, unsere Könige, unsere Priester, der Gewalt der Könige der Länder preisgegeben worden, dem Schwert, der Gefangenschaft und der Plünderung und der Beschämung des Angesichts, so wie es heute ist.“). Der Grund dafür ist, dass es gegen Gott „gesündigt“ und sich gegen ihn „aufgelehnt“ hat. In diesem Zusammenhang betont Daniel erneut die Missachtung der Gesetze, auf die das Volk doch durch die Verkündigung der Propheten hingewiesen worden ist (vgl. 9,6).
(11b-14) Im letzten Teil des Sündenbekenntnisses stellt Daniel fest, dass Israel nun die Strafe erleidet, die das Gesetz vorab für den Fall des Ungehorsams angekündigt hat. Dabei ist an Textabschnitte wie 3.Mos.26,14-39 und 5.Mos.28,15-68 zu denken. Diese Worte haben sich bewahrheitet, was sich daran zeigt, „dass unter dem ganzen Himmel nichts derartiges geschehen ist wie das, was an Jerusalem geschehen ist“. Das zeigt, dass Gott „gerecht“ ist „in allen seinen Taten“ – womit hier gemeint ist, dass er zu dem steht, was er gesagt hat. Israel hat damit nicht gerechnet: Es hat „nicht auf seine Stimme gehört“ und Gott nicht durch Umkehr „besänftigt“.
Dem Sündenbekenntnis folgt die Bitte:
(15)
Und nun, Herr, unser Gott, der du dein Volk aus dem Land Ägypten mit starker
Hand herausgeführt und dir einen Namen gemacht hast, wie es an diesem Tag ist!
Wir haben gesündigt, wir haben gottlos gehandelt. (16) Herr, nach all den Taten
deiner Gerechtigkeit mögen doch dein Zorn und deine Erregung sich wenden von
deiner Stadt Jerusalem, dem Berg deines Heiligtums! Denn wegen unserer Sünden
und wegen der Vergehen unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk zum Hohn
geworden für alle rings um uns her. (17) Und nun, unser Gott, höre auf das
Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen! Und lass dein Angesicht leuchten
über dein verwüstetes Heiligtum um des Herrn willen! (18) Neige, mein Gott,
dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und die
Stadt, über der dein Name genannt ist! Denn nicht aufgrund unserer Gerechtigkeiten legen wir unser Flehen vor dich hin, sondern
aufgrund deiner vielen Erbarmungen. (19) Herr, höre!
Herr, vergib! Herr, merke auf und handle! Zögere
nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn dein Name ist über deiner Stadt
und deinem Volk ausgerufen worden.
(15-16) Der Gott, an den Daniel seine Bitte richtet, ist der Gott, der sein „Volk aus dem Land Ägypten mit starker Hand herausgeführt“ hat (vgl. Jer.32,20-21: „(20) der du Zeichen und Wunder getan hast im Land Ägypten bis auf diesen Tag, sowohl an Israel als auch an anderen Menschen, und dir einen Namen gemacht hast, wie es an diesem Tag ist. (21) Und du hast dein Volk Israel aus dem Land Ägypten herausgeführt mit Zeichen und mit Wundern und mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken.“) und sich so „einen Namen gemacht“ hat.
Aufgrund dieser „Taten“ der „Gerechtigkeit“, die er in der Vergangenheit getan hat, so die Bitte Daniels, soll Gott auch jetzt seinen Zorn von Jerusalem abwenden. Das ist quasi auch in seinem Interesse. Schließlich ist sein Volk aufgrund seiner Sünden – und der damit verbundenen Strafe – für alle umliegenden Völker „zum Hohn geworden“.
(17-19) Deshalb bittet Daniel Gott darum, sein Flehen anzuhören und schon um seiner selbst willen nicht zögern, sein „Angesicht“ über sein „verwüstetes Heiligtum“ leuchten zu lassen. Er soll sich die „Verwüstungen“ ansehen. Sie betreffen die Stadt und das Volk, über die sein „Name genannt ist“ bzw. „ausgerufen“ wurde.
Außerdem erklärt Daniel, dass er und sein Volk Gott nicht aufgrund ihrer eigenen „Gerechtigkeiten“ anflehen – da haben sie nichts vorzuweisen –, sondern aufgrund der „vielen Erbarmungen“ Gottes.
Noch bevor Daniel sein Gebet beendet hat, erscheint ihm der Engel Gabriel, um ihn „Verständnis zu lehren“.
(20)
Während ich noch redete und betete und meine Sünde und die Sünde meines Volkes
Israel bekannte und mein Flehen für den heiligen Berg meines Gottes vor den
HERRN, meinen Gott, hinlegte – (21) und
während ich noch redete im Gebet, da, zur Zeit des Abendopfers, rührte mich der
Mann Gabriel an, den ich am Anfang im Gesicht gesehen hatte, als ich ganz
ermattet war. (22) Und er wusste Bescheid, redete mit mir und sagte: Daniel,
jetzt bin ich ausgegangen, um dich Verständnis zu lehren. (23) Am Anfang deines
Flehens ist ein Wort ergangen, und ich bin gekommen, um es dir mitzuteilen.
Denn du bist ein Vielgeliebter. So achte nun auf das Wort und verstehe die
Erscheinung:
(20-21) Im Zusammenhang mit dem Hinweis, dass ihm der Engel Gabriel noch während seines Gebets erschien, bringt Daniel sein Gebetsanliegen noch einmal auf den Punkt. Er hat seine eigenen Sünde und die Sünde des „Volkes Israel“ bekannt und „für den heiligen Berg“ seines Gottes – den Berg Zion – gefleht (vgl. 9,3.17.18)
Während er das tat, ist Gabriel ihm „zur Zeit des Abendopfers“ erschienen – womit das abendliche Opfer des „regelmäßigen Brandopfers“ gemeint ist (vgl. zu 8,11). Er hat Daniel bereits die Vision vom Widder, Ziegenbock und Horn erläutert (8,16).
Die Übersetzung des zweiten Teils von Vers 21 ist unklar. Die Elberfelder Bibel übersetzt mit „als ich ganz ermattet war“. Das wäre ein Anklang an die Aussage von 8,27, mit der die vorangegangene Vision endet („Und ich, Daniel, war erschöpft und einige Tage krank …“). Es kann aber auch folgendermaßen übersetzt werden: „… zur Zeit des Abendopfers erreichte mich wie im raschen Flug der Mann Gabriel, den ich am Anfang im Gesicht gesehen hatte.“
(22-23) Weil er „Bescheid“ weiß (andere Übersetzungsmöglichkeit: „weil er verstanden hat“), ist Gabriel gekommen, um Daniel „Verständnis zu lehren“ (in 22a und 22b steht jeweils das gleiche Wort, das mit „Verständnis oder Einsicht“ übersetzt werden kann, vgl. 1,4.17; 8,5.16.17; 9,2.22.23; 10,1.11.12.14; 11,30.33.37; 12,8.10).
Warum weiß Gabriel „Bescheid“? Weil bereits zu dem Zeitpunkt, als Daniel sein flehentliches Gebet begann, „ein Wort ergangen“ ist. Gemeint ist eine Offenbarung Gottes (10,1: „Im dritten Jahr des Kyrus, des Königs von Persien, wurde dem Daniel, der Beltschazar genannt wurde, ein Wort geoffenbart …“). Nun ist er gekommen, um es Daniel „mitzuteilen“. Daniel ist nämlich ein wertvoller Mensch, ein „Vielgeliebter“ (vgl. 10,11.19).
Deshalb soll Daniel auf das „Wort“ achten und die „Erscheinung“ verstehen. Dabei handelt es sich vermutlich um einen Parallelismus (auf das Wort achten – die Erscheinung verstehen; vgl. 10,1: „Und er verstand das Wort, und Verständnis wurde ihm in dem Gesicht zuteil.“). Es geht also nicht um ein „Wort“, dass eine andere „Erscheinung“ erklären soll; vielmehr sind „Wort“ und „Erscheinung“ identisch.
Darüber, ob und wie Daniels „Flehen für den heiligen Berg“ erhört wird, sagt Gabriel nichts. Er hat vielmehr „die Aufgabe …, ihn durch eine Offenbarung vom Irrtum zur Erkenntnis der Wahrheit zu leiten.“ (Lebram, 107).
Was hat Gabriel Daniel „mitzuteilen“? Erstens: Dass es nicht um siebzig Jahre, sondern zum siebzig (Jahr)Wochen geht. Zweitens: Wie die siebzig (Jahr)Wochen unterteilt sind. Drittens: Was in den einzelnen Phasen geschieht.
(24)
Siebzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um
das Verbrechen zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und
die Schuld zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und
Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben. (25) So sollst du
denn erkennen und verstehen: Von dem Zeitpunkt an, als das Wort erging,
Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis zu einem Gesalbten, einem
Fürsten, sind es sieben Wochen. Und 62 Wochen lang werden Platz und Stadtgraben
wiederhergestellt und gebaut sein, und zwar in der Bedrängnis der Zeiten. (26)
Und nach den 62 Wochen wird ein Gesalbter ausgerottet werden und wird keine
Hilfe finden. Und das Volk eines kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum
zerstören, und sein Ende ist in einer Überflutung; und bis zum Ende ist Krieg,
fest beschlossene Verwüstungen. (27) Und stark machen wird er einen Bund für
die Vielen, eine Woche lang; und zur Hälfte der Woche wird er Schlachtopfer und
Speisopfer aufhören lassen. Und auf dem Flügel von Greueln
kommt ein Verwüster, bis festbeschlossene Vernichtung über den Verwüster
ausgegossen wird.
Die Auslegungsgeschichte werden vor allem zwei Deutungen vertreten:
Traditionell sind diese Aussagen i.d.R. auf Jesus Christus bezogen worden,
während die Mehrzahl der heutigen Ausleger auch diesen Abschnitt auf Ereignisse
zur Zeit des Antiochus Epiphanes deutet.
Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Vorschläge zur Deutung der Zeitangaben, die hier in einer tabellarischen Übersicht zusammengestellt werden. Der Übersichtlichkeit halber werden nur die drei wichtigsten Chronologien erwähnt, zu denen es natürlich jeweils Varianten gibt.
Vertreter |
z.B. Porteous,
116.118 |
Adv. Auslegung |
Maier, 354 |
Beginn der 70 bzw. der 7 Wochen (49 Jahre) |
587 v.Chr. (Zerstörung Jerusalems
bzw. Prophetie zum Wiederaufbau) |
457 v. Chr. (Erlass Artaxerxes I., Esr. 7,12-16) |
587 v.Chr. (Zerstörung Jerusalems
bzw. Prophetie zum Wiederaufbau) |
Ende der 7 Wochen (49 Jahre) |
539 v.Chr. (Edikt des Kyros zum
Wiederaufbau) |
408 v. Chr. |
539 v.Chr. (Edikt des Kyros zum
Wiederaufbau) |
Beginn der 62 Wochen (434 Jahre) |
539 v.Chr. (Edikt des Kyros zum
Wiederaufbau) |
408 v. Chr. |
440 v.Chr. |
Ende der 62 Wochen (434 Jahre) |
170 (Ermordung des Hohenpriesters Onias III.) |
27 n. Chr. (Taufe Jesu) |
6. v. Chr. (Geburt Jesu) |
Beginn der 1 Woche (7 Jahre) |
170 (Ermordung des Hohenpriesters Onias III.) |
27 n. Chr. (Taufe Jesu) |
27 n. Chr. (Beginn des Wirkens Jesu) |
Mitte der 1 Woche (7 Jahre) |
167 (Abschaffung des täglichen Opfers) |
31 n. Chr. (Kreuzigung Jesu) |
30 n. Chr. (Kreuzigung Jesu) |
Ende der 1 Woche (7 Jahre) |
164 (Wiedereinweihung des Tempels durch Judas Makkabäus) |
34 n.Chr. (Steinigung des Stephanus) |
34 n.Chr. (Beginn der Heidenmission) |
Sonstiges |
- |
- |
Zweite Erfüllung der 1. Woche von 66-73 (70 n.Chr.
Zerstörung des Tempels). Dritte Erfüllung in der (zukünftigen) antichristlichen
Zeit. |
Wo liegen die Schwierigkeiten der jeweiligen Chronologien?
Die größte Schwierigkeit der ersten Deutung besteht darin, dass der mittlere Abschnitt, die 62 Wochen, hier nur 369 Jahre umfasst – und damit beträchtlich kürzer ist, als die 434 Jahre (Porteous, 116). Interessant ist möglichweise der Hinweis auf „die Chronologie des Demetrius, eines jüdischen Geschichtsschreibers aus dem dritten Jahrhundert …. Dieser hatte … vom Beginn des Exils bis zum Regierungsantritt des ägyptischen Königs Ptolemäus IV. (im Jahre 221) 438 Jahre gerechnet. Nach dieser Rechnung waren im Jahre 169, nach welchem die Not der Juden begann, 490 Jahre seit Beginn des Exils verstrichen.“ (Kessler, 137).
Die adventistische Deutung wendet große Mühe darauf, 457. v.Chr. als Start der 70 bzw. 7 Jahrwochen zu begründen. Auch die Chronologie für das Leben Jesu ist nicht unumstritten. Das größte Problem besteht aber darin, dass man kein sinnvolles Ereignis für das Ende der 7 Jahrwochen bzw. den Beginn der 62 Wochen findet:
Aus geschichtlicher Sicht lässt sich nichts Genaues über das Ende des
Wiederaufbaus sagen. Aus den Büchern Esra und Nehemia wird deutlich, dass der
Wiederaufbau in einer schwierigen Zeit stattfand. Als Esra zurückkehrte, begann
er mit den notwendigen Arbeiten. Schon bald griffen die Statthalter der
westlichen persischen Provinzen ein und brachten alle Bemühungen zum Erliegen (Esr 4,7-12). Als Nehemia den Wiederaufbau erneut in Angriff
nahm, wollten ihn seine Widersacher umbringen. Er leistete entschlossenen
Widerstand und weigerte sich, die Arbeiten an der Stadt ruhen zu lassen (Neh 4). So wurde Jerusalem tatsächlich in beschwerlichen
Zeiten wiederaufgebaut.
Die Prophezeiung scheint auf ein Ereignis hinzuweisen, das die erste Phase des Wiederaufbaus im Jahre 408 v. Chr.
nach Ablauf der ersten sieben Wochen (49 Jahre) beendet (Da 9,25). Wir können
nicht beurteilen, welches Vorkommnis auf diesen Teil der Prophezeiung passen
würde. Leider besitzen wir keinerlei historische Quellen zu diesem Thema. Die
Berichte des Alten Testaments enden ungefähr im Jahr 420, also zwölf Jahre vor
diesem Zeitpunkt. Weder Josephus noch die beiden Makkabäer-Bücher geben Aufschluss
über die Ereignisse jener Zeit. Auch aus Inschriften oder Papyrustexten lassen
sich keine einschlägigen Informationen gewinnen. Hieraus sollte man jedoch
keine vorschnellen negativen Schlüsse ziehen. Denn die Tatsache, dass für einen
bestimmten Zeitraum keine historischen Zeugnisse vorliegen, beweist nicht, dass
ein Ereignis nicht oder völlig anders als erwartet stattgefunden hat. Sie zeigt
nur, dass wir es an dieser Stelle mit einer geschichtlichen Lücke zu tun
haben.1 Biblische Prophezeiungen sollten nach dem beurteilt und gedeutet
werden, wofür man historische Belege hat – nicht nach dem, wofür solche
Informationen fehlen. Für die Jahreszahlen 457 v. Chr. und 27 n. Chr. gibt es Beweise
in Hülle und Fülle. Auch die Ereignisse im Jahr 34 sind indirekt gut belegt.
Das Fehlen von Anhaltspunkten für die Deutung des Jahres 408 v. Chr. lässt die
anderen Deutungen keineswegs fragwürdig werden. Zweifellos gab es zu dieser
Zeit große Schwierigkeiten beim Tempelaufbau, wie es von Daniel vorhergesagt
wurde. Möglicherweise wird sich dieses Informationsdefizit in der Zukunft durch
neue Entdeckungen füllen lassen, aber im Augenblick müssen wir uns mit den
vorhandenen Beweisen zufrieden geben. (Shea
II, 59f.).
Some interpreters attach special import to the
period of “seven weeks,” or 49 years, as representing the time during which the
building of the street and wall would be completed. However, historical
information for this period is extremely meager. Little is known of the
condition of Jerusalem in the time from Artaxerxes to Alexander. What may be
gleaned from the Bible and from historical sources is fragmentary. (ABC IV, 854).
(Einige Ausleger messen dem Zeitraum von „sieben Wochen“ oder 49 Jahren
eine besondere Bedeutung bei, da er die Zeit darstellt, in der der Bau der
Straße und der Mauer abgeschlossen sein würde. Die historischen Informationen
für diesen Zeitraum sind jedoch äußerst dürftig. Über den Zustand Jerusalems in
der Zeit von Artaxerxes bis Alexander ist wenig
bekannt. Was aus der Bibel und aus historischen Quellen gewonnen werden kann,
ist fragmentarisch.)
Die Deutung Maiers geht „mathematisch“ auf – aber nur deshalb, weil er Pausen zwischen den einzelnen Zeitabschnitten annimmt, in denen die Jahrwochen nicht weiterlaufen.
Entscheidend ist natürlich nicht, dass die „Rechnung aufgeht“, sondern dass die einzelnen Zeitabschnitte zu den Aussagen passen, die in den biblischen Texten gemacht werden.
In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Bedeutung, dass die Prophezeiung Jeremias bereits von den biblischen Schreibern unterschiedlich gedeutet wurde. So sieht das Buch Esra „das Wort des HERRN aus dem Mund Jeremias“ im „ersten Jahr des Kyrus“ „erfüllt“. Nach Sach.1,12 aber steht das Ende dieses Zeitabschnittes auch ca. 20 Jahre später noch aus – was auch nachvollziehbar ist, wenn man den Beginn der siebzig Jahre auf das Jahr 586 v.Chr., das Jahr der Zerstörung der Stadt und des Tempels bezieht. Es kommt also offenbar den biblischen Schreiber nicht immer auf „mathematische Exaktheit“ an.
(24) Der Engel Gabriel teilt Daniel mit, dass nicht 70 Jahre, sondern „siebzig Wochen“ über das „Volk“ und die „heilige Stadt“ bestimmt sind. Dabei handelt es sich nach allgemeiner Auffassung der Bibelausleger um Jahrwochen (zum „Jahr-Tag-Prinzip“ vgl. Hes.4,1-8).
Fest steht, dass es sich bei den siebzig Wochen nicht um eine kürzere Zeit als die 70 Jahre handeln kann. Warum aber sind aus 70 Jahren nun 490 Jahre geworden? Klar ist, dass bereits die 70 Jahre Jeremias in einer engen Beziehung zum Sabbatjahr stehen (2.Chr.36,21). Es handelt sich um zehn Sabbatjahr-Perioden. Aus ihnen sind nun zehn Jobeljahr-Perioden von jeweils 49 Jahren geworden (vgl. 3.Mos.25,8-12). Ein anderer Hintergrund ist möglicherweise der Grundsatz, dass bei hartnäckigem Ungehorsam die Strafe siebenmal höher ausfällt (3.Mos.26,18.21.24.28).
Fest steht: 490 Jahre sind „bestimmt“. Das Wort „bestimmt“ findet sich im AT nur an dieser Stelle und bedeutet „schneiden“ und „entscheiden“ (Gesenius, 268).
Adventistische Bibelausleger bevorzugen daher die Übersetzung „sind abgeschnitten“ – und sehen darin einen Hinweis darauf, dass die 490 Jahre ein Teil der 2.300 Abenden und Morgen aus 8,14 sind (Smith, 198f.; Shea II, 44; ABC IV, 851), die zeitgleicht mit den 490 Jahren beginnen und im Jahre 1844 enden.
Eindeutig ist, für wen die „siebzig Wochen“ gelten: Für das Volk Israel und die heilige Stadt Jerusalem. Im Folgenden wird konkretisiert, was in diesem Zeitabschnitt für Volk und Stadt geschehen soll.
1.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, „das Verbrechen zum Abschluss zu bringen“. Es geht um „das Verbrechen“, von dem bereits in 8,13 die Rede war: „Bis wann gilt das Gesicht von dem regelmäßigen Opfer und von dem entsetzlichen Verbrechen, dass sowohl das Heiligtum als auch der Opferdienst zur Zertretung preisgegeben sind?“ Gemeint ist der „verbrecherisch“ eingerichtete „Opferdienst“ (8,12: zur Auslegung s. zu 8,12).
2.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, um „den Sünden ein Ende zu machen“. Wir hier die vorangegangene Aussage in anderen Worten wiederholt? Das ist nicht ausgeschlossen. Möglich ist aber auch, dass es hier um die Sünden des Volkes geht. Im Hinblick auf die Ereignisse zur Zeit des Antiochus Epiphanes wäre daran zu denken, dass sich ein großer Teil des Volkes dem Götzendienst angeschlossen hat.
3.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, um „die Schuld zu sühnen“. Ist hier „die Vervielfältigung der siebzig Jahre als ein Abbüßen und Sühnen der Schuld“ gemeint (Kessler, 136)? Oder die Vergebung der Schuld (Porteous, 115)?
4.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, „eine ewige Gerechtigkeit einzuführen“. Es geht um „die mit dem Anbruch der endzeitlichen Königsherrschaft Gottes verwirklichte Heilsordnung, in der die Schöpfung zu ihrer Vollendung gelangt“ (Haag, 70), von der es im Buch Jesaja heißt:
Jes.51,5-6: (5) ist nahe
meine Gerechtigkeit, mein Heil ist hervorgetreten, und meine Arme werden die
Völker richten. Auf mich hoffen die Inseln, und auf meinen Arm warten sie. (6)
Erhebt zum Himmel eure Augen und blickt auf die Erde unten! Denn die Himmel
werden wie Rauch zerfetzt werden, und die Erde wird zerfallen wie ein Kleid,
und ihre Bewohner werden dahinsterben wie Mücken. Aber mein Heil wird in
Ewigkeit bestehen, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerschlagen werden.
5.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, um „Gesicht und Propheten zu versiegeln“. Das etwas versiegelt wird, kann der Geheimhaltung dienen (12,4.9), aber auch zur Bekräftigung (1.Kön.21,8: Hi.33,16; Jer.32,10.11.44). Hier ist vermutlich letztes gemeint. „Dem Propheten wird versichert, dass mit dem Ende der siebzig Jahrwochen das, was ihn bekümmert hat, zu seinem Ziele kommt … Das heißt offenbar, dass das Wort des Propheten Jeremia dann seine Erfüllung finden wird.“ (Kessler, 136).
6.
Die „siebzig Wochen“ dienen dazu, „ein Allerheiligstes zu salben“. Die Zürcher Bibel übersetzt an dieser Stelle zu Recht mit „um zu salben, was hochheilig ist“. Im Hebräischen steht nämlich nicht der Terminus qōdäš haqqādāšȋm, der u.a. das „Allerheiligste“ des Tempels meint (2.Mos.26,33; 1.Kön.6,16; 7,50; 8,6; Hes.41,4; 2.Chr. 3,8.10; 4,22; 5,7), sondern qōdäš qādāšȋm, was mit „hochheilig“ bzw. „etwas Hochheiliges“ zu übersetzen ist. Als „hochheilig“ werden der Brandopferaltar (2.Mos.29,37; 40,10), der Räucheraltar (2.Mos.30,10), die Geräte des Heiligtums (2.Mos.30,29), das Räucherwerk (2.Mos.30,36), das Speisopfer (3.Mos.2,3.10; 6,10; 3.Mos.10,12), das Sündopfer (3.Mos.6,18.22; 10,17), das Schuldopfer (3.Mos.7,1; 14,13), die Schaubrote (3.Mos.24,9), das Gebannte (3.Mos.27,28), der priesterliche Anteil an den Opfern (4.Mos.18,9), der Tempelberg (Hes.43,12), der Tempel (Hes.45,3; 1.Chr.23,13) und das den Priestern zur Verfügung gestellte Land bezeichnet (Hes.48,12).
Für unseren Zusammenhang ist 2.Mos.40,10 von besonderem Interesse, weil hier von etwas Hochheiligem die Rede ist, das gesalbt wird: „Salbe auch den Brandopferaltar und all seine Geräte und heilige dadurch den Altar, damit der Altar hochheilig wird!“ Das spricht dafür, an die Salbung des Brandopferaltars zu denken, der ja durch die Abschaffung des regelmäßigen Brandopfers im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht (vgl. zu 8,11f.).
Adventistische Bibelausleger denken hier an das himmlische Heiligtum:
In view of the fact that the Hebrew phrase cannot elsewhere be shown to
refer definitely to a person, and in view of the fact that the heavenly
sanctuary is under discussion in the larger aspects of the vision (see on Dan.
8:14), it is reasonable to conclude that Daniel is here speaking of the
anointing of the heavenly sanctuary prior to the time of Christ’s inauguration
as high priest. (ABC
IV, 852; vgl. Stefanovic, 355; Shea II, 48).
(Angesichts der Tatsache,
dass sich der hebräische Satz nicht anderswo eindeutig auf eine Person beziehen
kann, und angesichts der Tatsache, dass das himmlische Heiligtum in den
größeren Aspekten der Vision diskutiert wird (siehe Dan 8,14), ist es
vernünftig zu schließen, dass Daniel hier von der Salbung des himmlischen Heiligtums
vor der Zeit der Einweihung Christi als Hoherpriester
spricht.) (ABC IV, 852; vgl. Stefanovic, 355; Shea
II, 48).
Die Verse 25-27 liefern nun Details bzgl. der „siebzig Wochen“:
(25) Zunächst geht es um die sieben Wochen. Sie dauern „von dem Zeitpunkt an, als das Wort erging, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis zu einem Gesalbten, einem Fürsten“. Da Daniel zu Beginn des Kapitels über ein Wort des Propheten Jeremia nachdenkt (9,2) liegt es nahe, an eine Aussage Jeremias zu denken. Dabei kommen folgende Textstellen in Frage:
Jer.25,11: Und dieses ganze Land wird zur
Trümmerstätte, zur Wüste werden; und diese Nationen werden dem König von Babel
dienen siebzig Jahre lang.
Jer.29,10: Denn so spricht der HERR: Erst wenn siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort, euch an diesen Ort zurückzubringen, an euch erfüllen.
Jer.30,18: So spricht der
HERR: Siehe, ich will das Geschick der Zelte Jakobs wenden, und über seine
Wohnungen will ich mich erbarmen. Und die Stadt wird auf ihrem Hügel wieder erbaut,
und der Palast wird an seinem rechten Platz stehen.
Jer.25,11 spricht um das Jahr 605 von den 70 Jahren, allerdings nicht von der Wiederherstellung Jerusalems. Ähnliches gilt für Jer.29,10, einem Wort aus dem Jahr 597, wo jedoch immerhin von der Rückkehr nach Jerusalem gesprochen wird, was dem Wiederaufbau schon sehr nahe kommt. Ausdrücklich ist vom Wiederaufbau in Jer.30,18 die Rede, wo Jeremia kurz vor der Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahre 586 v. Chr. angekündigt wird, dass die Stadt „wieder erbaut“ werden wird.
Wie lange dauern die „sieben Wochen“? „Bis zu einem Gesalbten, einem Fürsten.“ Der Begriff „Gesalbter“ (māšȋaḥ) meint nicht nur den „Messias“, sondern einen König oder einen Priester, der bei seiner Amtsführung gesalbt wurde. Die Grundbedeutung von „Fürst“ (nāḡȋd), „ist ‚Führer‘ und konnte auf einen einheimischen wie auf einen fremden König oder Fürsten angewandt werden, ebenso aber auch auf verschiedene andere Amtspersonen im Tempel oder im Heer, den Hohenpriester eingeschlossen.“ (Porteous, 116).
Die meisten Bibelausleger (z.B. Haag, 70; Kessler, 138; Maier, 345) denken in diesem Zusammenhang an Kyrus, der im Buch Jesaja als „Gesalbter“ bezeichnet wird (Jes.45,1: „So spricht der HERR zu seinem Gesalbten, zu Kyrus …“), andere an den im Buch Sacharja erwähnten Hohenpriester Joschua (z.B. Plöger, 141).
„Die Zahl der 7 Jahrwochen für diesen Zeitabschnitt ist allem Anschein nach mit Bezug auf die Einrichtung des Jobeljahres (Lev.25,8-12) berechnet worden, weil die damit verbundene Vorstellung von der Aufhebung einer bestehenden Schuldknechtschaft und von der Wiederbegründung eines ursprünglichen Besitzverhältnisses sich zur Verdeutlichung des hier gemeinten Anfangsgeschehens als besonders geeignet erwies.“ (Haag, 70f.).
Dann ist von 62 Wochen die Rede: „Und 62 Wochen lang werden Platz und Stadtgraben wiederhergestellt und gebaut sein, und zwar in der Bedrängnis der Zeiten.“ Hier wird i.d.R. vor allem auf den Wiederaufbau zur Zeit Nehemias hingewiesen, der trotz äußerer Bedrängnisse erfolgreich war (z.B. Neh.2-4).
(26) Nach den 62 Wochen geschieht folgendes: „Ein Gesalbter“ wird „ausgerottet werden und wird keine Hilfe finden“. Die traditionelle Auslegung bezieht diese Aussage auf Jesus Christus (Stefanovic, 356; Maier, 347), moderne Auslegungen i.d.R. auf die Absetzung und Ermordung des Hohenpriesters Onias III. (Plöger, 141; Porteous, 117).
Außerdem wird „das Volk eines kommenden Fürsten … die Stadt und das Heiligtum zerstören“. Die einen sehen hier „eine Anspielung auf die Strafexpedition des Apollonius im Sommer des Jahres 168 v.Chr., als Jerusalem geplündert, die Mauern und viele Häuser zerstört und die den Tempelbezirk beherrschende Zitadelle (Akra) gebaut wurden. All dies fand seinen Höhepunkt, als die Truppen des Antiochus hereinbrachen und Jerusalem die Schrecken des Krieges erlebte (1.Makk.1,29ff.)“ (Porteous, 117).
Andere beziehen diese
Aussage auf die Zerstörung des Tempels durch die Römer (Maier, 348) – auch der
adventistische Bibelkommentar, obwohl dieses Ereignis erst nach 34 n.Chr., dem
Ende der 70 Wochen nach traditioneller adventistischer Auslegung, stattfand
(ABC IV, 854).
Dann heißt es: „… sein Ende ist in einer Überflutung …“. „Der Ausdruck ‚Überflutung‘ oder das entsprechenden Tätigkeitswort wird bei Jesaja sowohl zur Darstellung des Hereinbrechens der Heidenheere zum Gericht über Land und Stadt (Jes.8,8; auch 28,2) als auch zur Beschreibung der Vernichtung gebraucht, die Gott über den Ansturm des Feindes bringt (Jes.30,28). In Daniel 11,10.22.40 bezeichnen diese Ausdrücke die Gewalt der feindlichen Heere.“ (Kessler, 138). Es ist aber unklar, worauf sich diese Bemerkung bezieht – auf das Heiligtum oder auf den „kommenden Fürsten“?
Fest steht, dass es in der Zeit nach den 62 Wochen „Krieg“ geben wird – und zwar „fest beschlossene Verwüstungen“, von denen Daniel auch in seinem Gebet gesprochen hat, das sich auf das von den Babyloniern zerstörte Jerusalem bezieht (Dan.9,18: „Neige, mein Gott, dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und die Stadt, über der dein Name genannt ist! …“).
(27) Schwierig ist auch die Aussage: „Und stark machen wird er einen Bund für die Vielen, eine Woche lang …“ Wer ist „er“? Und wer sind „die Vielen“? Es gibt vor allem drei Möglichkeiten.
Erstens: Gott macht einen Bund für die vielen Gläubigen – ruft also eine Gegenbewegung der Frommen gegen die feindlichen Mächte und ihre Anhänger ins Leben (Lebram, 110). Dafür sprechen folgende Aussagen des Buches, in denen von „Vielen“ die Rede ist.
Dan.11,32-33: (32) Und
diejenigen, die sich am Bund schuldig machen, wird er durch glatte Worte zum
Abfall verleiten. Aber das Volk, das seinen Gott kennt, wird sich stark
erweisen und entsprechend handeln. (33) Und die Verständigen des Volkes werden
die Vielen unterweisen; aber sie werden stürzen durch Schwert und Flamme, durch
Gefangenschaft und Beraubung – eine Zeitlang.
Dan.12,10: Viele werden
geprüft und gereinigt und geläutert werden. Aber die Gottlosen werden weiter
gottlos handeln. Und die Gottlosen werden es alle nicht verstehen, die Verständigen
aber werden es verstehen.
Zweitens: Ein gottloser Herrscher schließt mit seinen Sympathisanten einen „Bund“, der sich gegen die Gläubigen richtet. Die Bibelausleger, die diese Aussage in diesem Sinne verstehen, denken daran, „dass Antiochus einen Bund (…) mit den abtrünnigen Juden schloss …“ (Porteous, 118), so dass diese Aussage „in absichtlich unbestimmt gehaltener Form die Auswirkung des zwischen dem seleukidischen Staat und den hellenistischen Juden vereinbarten Abkommens auf den Jahwebund andeuten will.“ (Plöger, 142).
Drittens: Der Satz ist mit „und er macht für die Menge den Bund schwer eine Woche lang“ zu übersetzen. Gemeint wäre dann, „dass es für die große Menge schwer“ sein „wird, an dem Bunde, seinen Ordnungen und Verpflichtungen festzuhalten.“ (Kessler, 139).
In der letzten Zeitangabe geht es um etwas, was „zur Hälfte der Woche“ geschieht. „Er“ wird „Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen“. Die meisten Bibelausleger beziehen das auf den Bericht des ersten Makkabäerbuchs:
1.Makk.1,41-46: (41)
König Antiochus erließ ein Gebot für sein ganzes Reich, dass alle zu einem Volk
werden (42) und ihre Gesetze aufgeben sollten. Und alle Völker willigten in
das Wort des Königs ein. (43) Und auch viele aus Israel willigten ein und opferten den Götzen
und entweihten den Sabbat. (44) Auch sandte Antiochus Boten mit
Briefen nach Jerusalem und in alle Städte Judäas; in ihnen gebot er, die
Gebräuche der Heiden anzunehmen, (45) die Brandopfer, Speisopfer und Sündopfer im Heiligtum einzustellen, Sabbate und andere
Feste abzuschaffen, (46) das Heiligtum und das heilige Volk Israel zu entheiligen.
Daneben gibt es Auslegung auf Christus, die nicht nur von adventistischen Auslegern vertreten wird. So schreibt Maier:
„Das Auftreten des Täufers und das Auftreten Jesu bilden einen Zeitraum von ungefähr drei Jahren. Solange sie wirken, gilt noch der Alte Bund – ‚Schlachtopfer und Speisopfer‘ sind noch da. Dann stirbt Jesus auf Golgatha, und der Neue Bund tritt in Kraft. Jetzt hat Gott selbst der Notwendigkeit von ‚Schlachtopfern und Speisopfern ein Ende‘ gemacht!“ (Maier, 351).
Abschließend ist von einem „Verwüster“ die Rede, der „auf den Flügeln von Greueln“ kommt, über den aber schließlich „festbeschlossene Vernichtung … ausgegossen wird“. Der Begriff šāmēm hat eine große Bedeutungsbreite, die von „sich entsetzen“, „erstaunt sein“, „sich wundern“, „erstarren“, „öde daliegen“ bis „verwüsten“ reicht. Im Buch Daniel findet er sich an folgenden Stellen:
Dan.8,13: Und ich hörte
einen Heiligen reden. Und es sprach ein Heiliger zu jemandem – dem Redenden
nämlich –: Bis wann gilt das Gesicht von dem regelmäßigen Opfer und von dem
entsetzlichen Verbrechen, dass sowohl das Heiligtum als auch der Opferdienst
zur Zertretung preisgegeben sind?
Dan.8,27: Und ich, Daniel,
war erschöpft und einige Tage krank. Dann stand ich auf und verrichtete die
Geschäfte des Königs. Und ich war entsetzt über das Gesehene, und keiner
war da, der es verstand.
Dan.9,18: Neige, mein Gott,
dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und
die Stadt, über der dein Name genannt ist! Denn nicht aufgrund unserer Gerechtigkeiten legen wir unser Flehen vor dich hin,
sondern aufgrund deiner vielen Erbarmungen.
Dan.9,26: Und nach den 62
Wochen wird ein Gesalbter ausgerottet werden und wird keine Hilfe finden. Und
das Volk eines kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören,
und sein Ende ist in einer Überflutung; und bis zum Ende ist Krieg, fest
beschlossene Verwüstungen.
Dan.11,31: Und Streitkräfte
von ihm werden dastehen; und sie werden das Heiligtum, die Bergfeste entweihen
und werden das regelmäßige Opfer abschaffen und den verwüstenden Greuel aufstellen.
Dan.12,11: Und von der Zeit
an, in der das regelmäßige Opfer abgeschafft wird, um den verwüstenden Greuel einzusetzen, sind es 1 290 Tage.
Bei der Aussage, dass der „Verwüster“ auf „den Flügeln von Greueln“ kommt, klingt natürlich der Begriff vom „verwüstenden Greuel“ an. Ist also die Macht gemeint, die den „verwüstenden Greuel“ aufstellt (vgl. zu 8,11b-12) und die auch darüber hinaus Tod und Verderben bringt?
Maier denkt bei dem „Verwüster“, der „auf den Flügeln von Greueln“ kommt und über „festbeschlossene Vernichtung … ausgegossen wird“, an die Römer, die den Tempel zerstören und schließlich selbst untergehen (Maier, 351).
Moderne Ausleger denken auch hier an Antiochus Epiphanes: „Die Entweihung des Altars sollte solange dauern, bis ein vorherbestimmtes Ende den Verwüster (…) und d.h. Antiochus überwältigen sollte, dessen erbärmliches Ende auf diese Weise vorhergesagt ist (vgl. 11,44.45).“ (Porteous, 118; das Ende des Antiochus wird in 1.Makk.6,1-16 und 2.Makk.9 geschildert).
Zusammenfassung: Angesichts weltgeschichtlicher Umwälzungen befasst
sich Daniel mit prophetischen Aussagen darüber, wie lange Jerusalems zerstört
bleiben soll. Er erkennt die Schuld seines Volkes und
bittet Gott um sein Erbarmen. Ihm wird eine siebenfach längere Frist offenbart,
innerhalb derer es zunächst aufwärts geht, dann aber eine schwere Krise
heraufzieht – bis schließlich die gottfeindlichen Mächte vernichtet werden.